Kein Interesse an einem neuen Kalten Krieg

Russland tritt mit einem erstarkten Selbstbewusstsein auf und nimmt zur Kenntnis, dass die EU heute eine größere Einigkeit aufweist.
Vom 27. bis zum 29. Mai habe ich an einer ausnahmsweise relativ großen Delegation der sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament unter der Leitung unseres Fraktionsvorsitzenden Martin Schulz nach Moskau teilgenommen. Weitere TeilnehmerInnen waren vier stellvertretende Fraktionsvorsitzende sowie ein italienischer, ein tschechischer, ein polnischer, ein finnischer, ein rumänischer Kollege und eine Kollegin aus Estland.

Beitrag zum Dialog

Wir hatten im Vorfeld längere Zeit überlegt, ob wir diese Delegationsreise durchführen sollten. Es gab ja gerade in jüngster Zeit einige Spannungen mit Russland – nicht nur hinsichtlich polnischer Fleischexporte, sondern auch wegen der Verlagerung eines Denkmals für sowjetische Soldaten in der estnischen Hauptstadt Tallin. Wir kamen aber zu dem Schluss, dass wir gerade aufgrund dieser Spannungen und dem zumindest nach außen hin nicht besonders erfolgreich verlaufenen Gipfel in Samara, an dem einerseits die Staats- und Regierungschefs der EU mit Barroso und Merkel an der Spitze und andererseits Putin teilgenommen hatten, unseren Besuch absolvieren sollten.
Und so haben wir auch in den vergangenen Tagen insbesondere zu den aus unserer Sicht inakzeptablen russischen Reaktionen auf die Verlagerung des Denkmals in Tallin unmissverständlich Stellung genommen. Ich selbst habe dazu im Europäischen Parlament auch eine Rede gehalten. Auf der anderen Seite sind wir der Meinung, dass man derartige Fragen nicht ideologisieren und ein durchaus pragmatisches und partnerschaftliches Verhältnis mit Russland anstreben sollte, zu dem auch wir selbst einen entsprechenden Beitrag leisten sollten.

Auf dem längeren Ast

Ich machte mich also am Pfingstsonntag von Wien aus auf den Weg nach Moskau, wo wir noch am selben Abend mit verschiedenen Botschaftern und deren Vertretern zusammentrafen. Montag früh führten wir in der EU-Kommissionsvertretung in Moskau eine ausführliche Debatte über verschiedenste Aspekte, von der wirtschaftlichen Seite, insbesondere zu Energiefragen über die politische Dimension bis hin zu Fragen der Menschenrechte. Die Vertretung der Europäischen Kommission in Moskau ist die größte Vertretung der Europäischen Kommission und ist mit hervorragenden Experten besetzt.
Der nächste Termin war ein Treffen mit Energieexperten, zum Teil von russischer, zum Teil von westlicher Seite. In diesem Zusammenhang hat sich herausgestellt, dass Russland kurz- oder mittelfristig letztendlich am längeren Ast sitzt. Russland verfügt über große Reserven, die allerdings nicht entsprechend ausgebeutet werden – was sowohl auf fehlendes Know-how als auch auf einen Investitionsmangel zurückzuführen ist. Andererseits ist Russland dabei, sich den Zufluss von Erdöl und Erdgas aus den Nachbarstaaten über das bestehende Pipelinesystem und über die nach wie vor bestehenden politischen Verbindungen zu den Postsowjetstaaten zu sichern. So wurde gerade in den letzten Tagen in einem Gipfelgespräch zwischen dem russischen, dem kasachstanschen und dem turkmenischen Präsidenten eine derartige Aktivität gesetzt.

Russische Machtposition

Die eigenen Probleme, denen sich Russland gegenübersieht, üben wiederum einen negativen Einfluss auf die Energieversorgung aus. Das betrifft insbesondere die äußerst geringe Energieeffizienz bei der Verwendung von Erdöl und Erdgas im Land. Allerdings muss man eingestehen, dass das Energieeinsparen bzw. die Erhöhung der Energieeffizienz durch die Strukturen bei den Zentralheizungsanlagen, die klimatischen Verhältnisse und viele andere Faktoren in Russland nicht so einfach ist wie in europäischen Ländern.
Insgesamt hat Russland aufgrund der Erdöl- und Erdgaspreissteigerung der vergangenen ein bis zwei Jahre jedenfalls gewonnen. Es hat eine wesentlich stärkere Position bekommen, und manche bestehenden Ängste und Unsicherheiten haben ebenfalls dazu beigetragen, dass Russland heute eine größere Machtposition innehat. Der Mangel an Einigkeit der EU, unter anderem auch in Energiefragen sowie die äußerst unterschiedliche Abhängigkeit von insbesondere russischen Erdgaslieferungen haben ein ihres dazu getan, dass die Einigkeit innerhalb der EU nicht so leicht herzustellen ist. Es sind eben nicht alle im gleichen Maße von russischen Energielieferungen abhängig.

„Just Russia“

Nach dieser überaus spannenden Fachdiskussion, die die gewonnene Stärke Russlands in den Energiebeziehungen anschaulich aufgezeigt hat, ging es zu einem Gespräch mit dem Vorsitzenden eines Teiles des russischen Parlaments, des sogenannten Föderationsrates, Sergey Mironov. Mironov ist unter anderem deshalb ins öffentliche Interesse gerückt, weil er vor kurzem die Partei „Just Russia“ gegründet hat, zu deren Vorsitzenden er auch gewählt wurde.
Diese Partei ist Putin sehr nahe stehend, wenngleich sie gewissermaßen eine „linke“ Strömung darstellt, die Putin zwar unterstützt, aber auch verhaltene Kritik an der Bürokratie und an mangelnden sozialen Unterstützungsmaßnahmen übt. Dennoch ist ziemlich offensichtlich, dass auch diese Partei Putins Machtstruktur absichern und gleichzeitig verhindern soll, dass sich eine andere, Putin entgegengesetzte linke Partei in Russland bildet.

Zuhören, nicht beschuldigen

Unser Gespräch mit Mironov hat all jene Themen gestreift, die derzeit das Verhältnis zwischen der EU und Russland umfassen. So kamen auch das polnische Fleisch, Tallin oder der Mangel an demokratischer Entwicklung in Russland zur Sprache. Wir haben schließlich vereinbart, dass wir mit Sergey Mironov und seinen ParteikollegInnen in Zukunft einen Dialog pflegen wollen. Einen seiner Kollegen, der Mironov bei diesem Treffen begleitet hat, kannte ich bereits von diversen vorangegangenen Diskussionen.
Dialog bedeutet im konkreten Kontext nicht, dass wir kurzfristig Vereinbarungen treffen oder auf Gemeinsamkeiten größeren Ausmaßes stoßen. Dialog bedeutet vielmehr, dass wir auch unterschiedliche Meinungen und bestehende Differenzen zum Gegenstand unserer Gespräche und nicht zum Gegenstand von gegenseitigen Beschuldigungen machen wollen.

Bei Außenminister Sergey Lavrov

Unser folgender Programmpunkt galt einem Zusammentreffen mit Außenminister Sergey Lavrov im Außenministerium. Ich habe Lavrov schon einmal im Außenpolitischen Ausschuss des Europäischen Parlaments „live“ erlebt. Er ist zweifellos ein sehr fähiger, flexibler und an westliche Gesprächspartner gewöhnter Minister. Auch hier wurden die üblichen Themen besprochen. Zur Kosovofrage merkte Lavrov an, Russland könne in diesem Punkt auf keinen Fall nachgeben und zustimmen, dass sich plötzlich ein Staat von einem anderen abtrennt. Es wäre das erste Mal, dass Russland einer unilateralen Unabhängigkeitserklärung eines Teilstaates zustimmen würde, und das würde sicher nicht passieren. Wie weit es letztendlich zu einem Kompromiss kommen kann, blieb offen.
Das Gespräch mit Lavrov verlief sehr angenehmen und kultiviert. Die Bemühungen, die bestehenden Differenzen nicht als unüberwindbar zu bezeichnen, waren unübersehbar. Auch die Beurteilung des Gipfels von Samara fiel wesentlich positiver aus als in den öffentlichen Medien dargestellt.

Die Kritiker Russlands

Am Abend trafen wir mit Vertretern der verschiedensten Menschenrechtsorganisationen zusammen. Sie haben die Machenschaften des Kremls zur Verhinderung von ernsthafter, durchgreifender Konkurrenz oder von Demonstrationen lautstark kritisiert. Ein besonders scharfer Kritiker gab zu, dass er sich bewusst sei, dass Putin mindestens 80% der Bevölkerung hinter sich habe. Es sei ja nicht so, dass Putin bei freien Wahlen und bei freier Konkurrenz nicht gewinnen würde. Aber es würde eben auch gar nicht versucht. Auf meine Frage, warum auch kleine Bewegungen und kleine Demonstrationen durch massive Gewalt unterdrückt würden und Kasparow, den wir vergangene Woche in Straßburg getroffen hatten, kurz vor einer Demonstration in Samara behindert worden war, an der Demonstration teilzunehmen, meinten alle Gesprächspartner unisono: Man will auch den geringsten Versuch, eine für den Kreml schwierige Situation herbeizuführen, verhindern. Kleine Demonstrationen könnten sich im Schneeballsystem über mehrere Monate zu einer größeren Demonstration ausweiten – und das will man nicht riskieren. Man setzt hier auf die nationalistische Karte.
Ein sozialdemokratischer Journalist, dessen Partei sich bei der letzten Wahl nicht mehr registrieren durfte, sagte zu mir: „Sie müssen verstehen, dass Russland sich selbst in einer Nationsbildung befindet, es hat bisher noch nie in den jetzigen Grenzen bestanden. Mit dem Rückenwind von Erdöl und Erdgas und den damit einhergehenden Einnahmen größeren Ausmaßes ist für Russland heute die Erstarkung viel wichtiger als die Demokratisierung und die Menschenrechte.“ So traurig es ist: Diese Kritiker Russlands haben zweifellos Recht.

Bei EU-Berater Sergey Yastrzhembsky

Am nächsten Vormittag besuchte ein Teil unserer Delegation den Vorsitzenden der gemischten parlamentarischen Delegation mit Russland in der Duma. Ich selbst begab mich mit Martin Schulz und zwei anderen Kollegen zu einem Treffen mit dem außenpolitischen bzw. EU-Berater Sergey Yastrzhembsky, einem der wenigen Politiker, die von der Jelzin-Ära in die Putin-Ära übernommen worden sind. Er spielt bei Europafragen im Kreml eine zentrale Schlüsselrolle. Auch mit ihm war das Gespräch überaus angenehm und wir gingen verschiedene Themenbereiche durch.
Yastrzhembsky erwartet sich einen Durchbruch in der relativ geringen Problematik der polnischen Fleischexporte. Diese haben bisher dazu geführt, dass Polen wie auch einige andere Länder im Windschatten Polens verhindert haben, dass es zu neuen Verhandlungen über ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit Russland kommt. In diesem Zusammenhang ist besonders problematisch, dass das alte Partnerschaftsabkommen zwar weiterläuft, dass es aber in jenen Punkten, in denen wir auf die größten Schwierigkeiten stoßen – und das betrifft in erster Linie den Energietransit und eine entsprechende klare Rahmenregelung für diesen – nicht zu Vereinbarungen kommen kann, wenn man nicht einmal mit den Verhandlungen beginnt.

Gegenseitige Abhängigkeiten schaffen

Genau das wäre aber aus meiner Sicht wichtig für die Energiepolitik. Energie wird geliefert, und es gibt eine entsprechende Nachfrage aus Europa. Ausschlaggebend ist dabei allerdings, dass die Pipelines bzw. das Pipelinesystem nicht ausschließlich verschiedenen nationalen – sei es russisch-nationalen oder ukrainisch-nationalen – Interessen unterliegen. Wir brauchen für die Straße, für die Schiene und auch für den Luftverkehr zuverlässige Vereinbarungen über den Durchfluss von Eröl und Erdgas, um bestehende Abhängigkeiten zu vermindern bzw. um gegenseitige Abhängigkeiten zu schaffen.
Denn wenn Abhängigkeiten gegenseitig sind, dann werden alle Seiten danach trachten, die technische wie die politische Funktionsfähigkeit des Transitsystems, also der Pipeline für Erdöl und Erdgas, sicherzustellen. Das kann nicht zuletzt durch gemeinsame Investitionen in dieses System und durch gemeinsames Eigentum, also Joint Ventures, erfolgen. Die Grundvoraussetzung ist aber in jedem Fall ein Rahmen, der im Falle von Streitigkeiten ein entsprechendes Streitschlichtungssystem vorsieht.

„Domestic problem“ Tschetschenien

Wir sprachen auch über das Kosovoproblem. Yastrzhembsky zählte all jene Regionen auf, an denen Russland Interesse hätte. Auch er argumentierte: Wenn Russland in dieser Frage nachgibt und zustimmt, dass der Kosovo unabhängig wird, dann müsste es in der Konsequenz auch den russischsprachigen Minderheiten in Südosetien und Abchasien, um die beiden georgischen Beispiele zu nennen, eine gleichwertige Behandlung zukommen lassen.
Als Yastrzhembsky all diese Regionen aufzählte, versuchte ich, Tschetschenien hinzuzufügen. Darauf reagierte er mit einem zynischen Lächeln und meinte, Tschetschenien sei ein internes Problem Russlands, „a domestic problem“. Hier zeigte sich ganz unmissverständlich eine Doppelzüngigkeit. Was zu Russland gehört, wird als internes Problem verstanden, in das sich niemand einmischen kann. Bei Regionen, die zu anderen Ländern gehören – etwa Moldawien oder Georgien – hat Russland das Recht, seinen russischsprachigen Schwestern und Brüdern zu helfen und interne Überlegungen zu beeinflussen.

Pragmatische Gesprächsbasis

Unterm Strich war das Gespräch, wie gesagt, äußerst angenehm und hat weit länger gedauert, als ursprünglich vorgesehen. Es hat sich herauskristallisiert, dass Russland bemüht ist, durch seine führenden Vertreter ins Gespräch zu kommen und eine pragmatische Gesprächsbasis herzustellen. Das bedeutet noch nicht, dass die bestehenden Differenzen verschwinden. Aber es zeigt, dass man von russischer Seite kein Interesse an einer neuen Kalten Kriegszeit hat. Man tritt mit einem erstarkten Selbstbewusstsein auf und nimmt zur Kenntnis, dass die EU heute eine größere Einigkeit aufweist – das wurde sowohl von Yastrzhembsky als auch von Lavrov ausdrücklich betont.
Es scheint zumindest so zu sein, dass Russland die Versuche, mit einzelnen Ländern die gemeinsame Front der Europäischen Union zu durchbrechen, aufgibt. Das bedeutet allerdings, dass die Europäische Union auch über eine entsprechende Front verfügen muss. Diese darf aber nicht primär dazu dienen, Entwicklungen zu blockieren – auch wenn das manchmal notwendig ist -, sondern sie muss Probleme lösen und gemeinsame Interessen durchsetzen. Dafür bedarf es einer gleichgewichtigen und gleichberechtigten Basis mit Russland, etwa für die Lösung der Energiefrage: Wissend, dass Russland das Angebot hat, wissend, dass wir als Nachfrager tendenziell in einer schwächeren Position sind und wissend, dass wir vor allem auch das Transitproblem lösen müssen.

Vom Stalinismus zum Kapitalismus

Nach einem kurzen Spaziergang vom Kreml über den Roten Platz hin zum Bolschoitheater haben wir gesehen, wie Moskau pulsiert und wie sehr die Renovierungen in den vergangenen Jahren vorangeschritten sind. Moskau ist heute eine Metropole, in der nichts mehr an die düsteren Zeiten – sei es des Zarentums oder des Stalinismus – erinnert. Vielmehr werden Zeiten strukturiert, die eine Verbindung von einer starken russischen Hand und zugleich eine Öffnung zu modernen Formen der Wirtschaft und des Konsumlebens widerspiegeln. Das Denkmal von Karl Marx ist nach wie vor präsent und trägt den Spruch „Proletarier aller Länder vereinigt Euch“. Und trotzdem wirkt Marx auf seinem Platz sehr einsam.
Ein kurzer Besuch im Museum der russischen Geschichte zeigte uns zwar, dass die letzten Jahrzehnte eine Geschichte des Kommunismus gewesen sind. Trotzdem wird klar, dass weniger der Kommunismus im Mittelpunkt steht als vielmehr der starke Staat, der sich als Reaktion auf den Zarismus entwickelt hat und der viele starke Männer hervorgebracht hat. Nicht zufällig sind in diesem Museum die meisten Säle mit Fotos und Erinnerungsstücken über die Zeit Stalins und des vaterländischen Krieges – ein Zeitraum, in dem Russland sich gegen den Einmarsch fremder Truppen und gegen den Versuch, Russland zu beherrschen und zu dominieren, gewehrt und alle wirtschaftlichen und sonstigen Kräfte entsprechend mobilisiert hat. An manchen Stellen werden auch Unterdrückung und der Kampf für die Freiheit gezeigt. Im Wesentlichen ist die Darstellung in diesem Museum aber an der Stärke Russlands, an der Verteidigung Russlands gegenüber dem Ausland, an der Modernisierung und Industrialisierung sowie der wissenschaftlichen Leistung Russlands orientiert. All das hat dem Nationalismus eine entsprechende materielle Grundlage gegeben.

Moskau, 29.5.2007