Keine Zukunft ohne Vergangenheit

Für die Zukunft Europas ist es essentiell, jegliche Entwicklung in die Richtung von Rassismus, Faschismus, Kommunismus, etc. zu bekämpfen und zu verhindern, dass diese in Europa wiederauferstehen können.
„Geschichte und Politik“ ist der Titel eines Projektes, das ich zurzeit mit einigen KollegInnen im Europäischen Parlament betreibe.

Handfeste Politik

Es geht dabei darum, das Verhältnis zwischen Geschichte und Politik zu analysieren und zu verhindern, dass Geschichte für politische Zwecke missbraucht wird. Und es geht selbstverständlich auch darum, sich offen und ehrlich mit der eigenen Geschichte in Europa auseinander zu setzten. Es handelt sich also nicht um ein l´art pour l´art-Projekt, sondern um handfeste Politik.
Es ist ganz offensichtlich, dass verschiedene politische Richtungen und Gruppierungen ein „gestörtes“ Verhältnis zur Politik haben. Einerseits wird vieles verdrängt – was insbesondere auf der linken Seite auftritt. Andererseits wird aber vor allem die Tatsache, dass man unterdrückt wurde oder in einem furchtbaren Regime gelebt hat, heute dazu missbraucht, politischen Gruppierungen, die möglicherweise nicht immer ein klar ausgesprochenes Verhältnis zu diesen Diktaturen gehabt haben, zu diskreditieren – das betrifft insbesondere die Polemik der Rechten im Zusammenhang mit den kommunistischen Regimes, vor allem mit dem Stalinismus.

Schwierige Gratwanderung

Letzteres zeigt sich in vielen Debatten im Europäischen Parlament, wo ein Teil der Rechten die Wahrheit für sich gepachtet zu haben glaubt und sich als die wahren Verfechter der Freiheit sieht. Der Linken und den SozialdemokratInnen wird vorgeworfen, dass sie in diesem Punkt kein wirklich korrektes Verhältnis haben und in die Rolle der Mitläufer einer kommunistischen Diktatur geschlüpft sind.
Diese Auseinandersetzung hat sich in verschiedenen Berichten bemerkbar gemacht, in denen es darum ging, den Kommunismus zu verurteilen und ein Verbot kommunistischer Symbole zu erwirken – in gewissem Sinn eine Parallelität zu jenen Verhaltensweisen, Einstellungen und zum Teil auch Gesetzen gegenüber dem Nationalsozialismus. Es ist in der Tat eine enorm schwierige Frage, wie man es sich einerseits nicht nehmen lassen, dass die Überwindung von Nationalsozialismus und Faschismus als Gründungsidee der EU anzuerkennen und andererseits genauso zu akzeptieren, dass es aus heutiger Sicht zum Fundament des vereinigten Europas gehört, den Kommunismus und die Abhängigkeit gegenüber der damaligen Sowjetunion zu überwinden.
In den Worten von Carola Sachse und Edgar Wolfrum (Nationen und ihre Selbstbilder – Postdidaktische Geschichte in Europa): „Der eben noch erlebten Unterwerfung unter den Kommunismus soll im europäischen Kontext das gleiche Maß an moralischer und politischer Anerkennung zuteil werden, wie es die überlebenden Opfer der NS-Herrschaft nach langen Jahrzehnten der Missachtung seit den 1980er Jahren allmählich zunehmend und umgekehrt proportional zu ihrer abnehmenden Anzahl erfahren.“

Bei Norman Davis in Oxford

Aufgrund dieser politischen Debatten, die wir zwischen Links und Rechts und auch innerhalb unserer eigenen Fraktion führten und führen, insbesondere mit den KollegInnen aus den neuen Mitgliedsländern – also aus jenen Ländern, die entweder überhaupt in der Sowjetunion aufgegangen sind, wie die baltischen Staaten oder die zum Teil von der Sowjetunion militärisch dominiert waren – sind wir dazu übergegangen, uns mit dieser Problematik ernsthafter auseinanderzusetzen und auch den Rat bei kritischen, unabhängigen Persönlichkeiten zu suchen.
Zuletzt taten wir das bei dem Historiker Norman Davis. Er hat ein bedeutendes Standardwerk über Europa geschrieben und sich auch sonst auf vielfältige Weise mit der Entstehung des Gedankens des heutigen Europas auseinandergesetzt. Norman Davis ist Professor in Oxford, inzwischen schon emeritiert. Die Wahl fiel aus zweierlei Überlegungen auf ihn. Einerseits, weil er in seinem Werk ziemlich deutlich dargestellt hat, dass Europa nicht nur Westeuropaumfasst. Er hat versucht, das zu kompensieren, was andere vernachlässigt haben, nämlich die Geschichte des Ostens, zum Beispiel Polens. Zweitens hat er immer wieder deutlich gemacht, dass Europa nicht nur eine Geschichte der großen Staaten und Mächte ist, sondern auch eine Geschichte der kleinen Länder, und dass auch diese ihren Stellenwert in der Geschichte sowie in der Konstruktion des neuen Europas haben müssen.

Feinde der Demokratie und Freiheit

Uns ging es also ganz bewusst darum, jemanden zu interviewen, der zu diesen Aspekten schon viel gearbeitet hat. Daher haben wir einen Termin in Oxford ausgemacht und uns in das St Anthony´s College begeben, um uns mit Professor Norman Davis zu einem ausführlichen Gespräch zu treffen. Für ihn war von Anfang an klar, dass es im vorigen Jahrhundert in Europa zwei wesentliche Auseinandersetzungen gegeben hat: die Auseinandersetzung mit dem Faschismus, insbesondere mit dem Nationalsozialismus und die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, insbesondere in der Form des Stalinismus.
Der Zweite Weltkrieg hat für ihn eine Schlüsselstellung. Durch die Überwindung und das Ende des Zweiten Weltkriegs wurde zum einen erst begonnen, ein neues Europa aufzubauen. Zum anderen fußt darin der Kampf gegen das Hitlerregime und der Kampf gegen das Stalinregime. Es hat zwei gleich totalitäre, gleich furchtbare, gleich wichtige Feinde der Demokratie und der Freiheit in Europa gegeben: Hitler und Stalin. Beide waren schreckliche Tyrannen. Beide haben Menschen auch nach Kategorien umgebracht. Bei Hitler besonders deutlich bei den Juden, aber auch bei Homosexuellen, Roma, etc. Bei Stalin handelte es sich weniger um rassistisch als viel mehr um willkürlich gesetzte Kriterien.
Norman Davis meint dazu in seiner Aufsatzsammlung „Europe East and West“ im Kapitel „The Idea of Europe“: „One should not forget that both fascism and communism, the two great totalitarian movements of the twentieth century, were generated in Europe – fascism in the west, communism in the east – and that each of them has its own utopia. The fascists, certainly in their Nazi variant, imagined a utopia which would be racially pure society run by Aryans, the communists dreamed of a classless utopia run by the self-appointed elite of the international communist parties. Both required the faceable elimination of undesirable elements: elimination by the Nazis of „Untermenschen“ – subhumans of whom the Jews were the frontline category, and the whole elimination by the Soviet communists of social groups such as the Kulaks. Genocide and classocide – as some French communists have dubbed it – from the two greatest movements of Europe´s disgrace.“

Unterschiedliche Assoziationen

Norman Davis hat mit Recht festgestellt, dass jemand, der keiner bestimmten von den Nazis verfolgten Kategorie angehört hat, der sich geduckt und „brav“ gelebt hat, keine Angst haben musste. Unter Stalin hingegen musste jeder Angst haben, jeden konnte es treffen. Aus irgendeiner zufälligen, scheinbar irrationalen Überlegung heraus konnte es auch den besten Kommunisten unter Stalin treffen. Norman Davis meinte auch, dass Stalin mehr Kommunisten umgebracht habe als Hitler.
Die Tatsache, dass es diese beiden Auseinandersetzungen gegeben hat, macht auch deutlich, dass Menschen mit denselben Begriffen aus diesen unterschiedlichen Auseinandersetzungen – Kampf gegen den Faschismus und Kampf gegen den Kommunismus – Unterschiedliches assoziieren. Konzentrationslager bedeuten für die einen Auschwitz, Mauthausen, Birkenau etc., für die anderen aber Workuta oder ein anderes von Stalins Straflager. Kollaboration bedeutet für die einen Mithilfe und Unterstützung des Naziregimes, für die anderen Mithilfe und Unterstützung der kommunistischen Schergen. Befreiung bedeutet für die einen Befreiung vom Nationalsozialismus, für die anderen Befreiung von der kommunistischen Diktatur, vor allem in der stalinistischen Form.

Vergleichbare Diktaturen

Für einige andere hingegen bedeutet es sicherlich beides. Sie wurden von dem einen befreit und schnurstracks von einem anderen diktatorischen Regime, nämlich von Stalins Regime, gefangen genommen und sind in einem Lager verschwunden. Letztendlich muss man Norman Davis zustimmen, wenn er meint, es sei eigentlich egal, ob man vergast wurde oder ob man in einem sibirischen Lager erfroren ist.
Vieles von dem, was Davis bei unserem Treffen zum Ausdruck brachte, ist klar, wenn man die Fakten sieht. Dennoch war es so, dass man in der Vergangenheit beide diktatorischen Systeme nicht verglichen hat bzw. vergleichen wollte. Es gab eine lange Debatte darüber, ob man den Totalitarismusbegriff auf beide Regime anwenden kann. Sind die beiden Diktaturen vergleichbar? Ich glaube mit Norman Davis sagen zu können, dass man die beiden sehr wohl vergleichen kann und dass sie doch nicht identisch sind. Es gibt andere Wurzeln, andere Orientierungen, andre Charakteristika. Letztendlich sind aber beide gleich furchtbar gewesen, insbesondere für die Betroffenen, die darunter zu leiden hatten.
Der russische Philosoph Anatolij Achutin meint dazu in seinem Werk „Graue Donau, Schwarzes Meer“: „Die formale Gemeinsamkeit beider damaligen Systeme heißt in der Sowjetsprache: obschenarodnajo gosudarstwo, ein gesamtvölkischer/volksumfassender Staat – in faschistischer Sprache heißt das: ein Volk, ein Reich, ein Führer. Das ist ein und dieselbe Struktur.“

Unterschiedliche Herangehensweise

Warum setzt man sich trotzdem mit dem Holocaust ganz anders auseinander als mit den Lagern in Sibirien? Für Davis gibt es auf diese Frage eine ganz klare Antwort. Die einen wurden besiegt, die anderen gehören zu den Siegern. Das Hitlersche Regime wurde besiegt und ist elendiglich zugrunde gegangen, das Regime unter Stalin hat hingegen überlebt. Stalin war einer der Sieger, wenngleich Millionen von Menschen durch den Krieg gegen Nazideutschland, aber auch durch die internen Strukturen des Regimes gelitten haben.
Was ich immer wieder bedauert habe, in meinen Beiträgen im Parlament oder auch in diesen meinen Tagebüchern, ist die Tatsache, dass Russland sich nicht oder nur in sehr kurzen Phasen mit der eigenen Geschichte auseinandergesetzt hat. Das rächt sich für Russland selbst immer wieder, weil die innere demokratische Entwicklung nicht vorankommt oder sogar Rückschritte erleidet. Das betrifft aber auch das Verhältnis von Russland zu seinen Nachbarn. Sie haben unter Stalins Regime noch stärker gelitten, weil es eben ein fremdes Regime war. Und das können sie Russland nicht verzeihen. Es ist schwierig zu verzeihen, was war, aber noch schwieriger ist es, zu verzeihen, wenn die Nachfolger kein kritisch distanziertes Verhältnis zu den Taten ihrer Vorgänger einnehmen oder sich entschuldigen, sondern stattdessen positiv über Stalins Beitrag sprechen – wenngleich die schlimmen Zeiten nie ausgeblendet, aber die Leistungen Stalins als militärischer Führer vorangestellt werden. Allerdings gibt es auch diesbezüglich berechtigte Zweifel.

Kritik an nachseitiger Einstellung

Die Kritik von Davis an all jenen, die Hitler verdammen, aber Stalin gegenüber tolerant sind oder zumindest ein sehr ambivalentes Verhältnis zum Stalinschen Regime haben, führt ihn nicht dazu, die rechte Position in dieser Auseinandersetzung einzunehmen. Er meinte gleich bei unserer Begrüßung, wenn er im Europäischen Parlament tätig wäre, würde er auch zur sozialdemokratischen Fraktion gehören. Davis ist in der Tat Sozialdemokrat, allerdings einer, der immer wieder die etwas nachsichtigere Einstellung von einigen SozialdemokratInnen zum stalinschen Regime kritisch beurteilt hat.
Seine Kritik an dieser nachsichtigen Haltung gegenüber dem stalinschen Regime hat Norman Davis allerdings keineswegs dazu gebracht, der Rechten in Polen, insbesondere wie sie durch die Kaczynski-Zwillinge vertreten wird, irgendetwas abgewinnen zu können. Davis wirft den Kaczynski-Brüdern im Gegenteil vor, Geschichtsverfälschung zu betreiben und zu meinen, Walesa habe das ganze mit den Kommunisten nur inszeniert, um den Kommunisten letztendlich zu ermöglichen, an der Macht zu bleiben – vielleicht weniger im politischen als viel mehr im wirtschaftlichen Bereich. In der Tat sind sämtliche Aktivitäten der Rechten unter Kaczynski und einigen anderen ja davon beseelt, die ganze Gesellschaft von der kommunistischen Unterwanderung, die gemäß dieser extremen Rechten von Lech Walesa mitorganisiert worden ist, zu säubern.

Sozialdemokratie war immer Bewegung der Menschenrechte

Für mich sind die Positionen, die Norman Davis vertritt, auch persönlich sehr überzeugend. Ich glaube, dass man zur Frage der Freiheit oder Diktatur des willkürlichen Tötens und der Propaganda, die das eigene System als die Spitze der Demokratie darstellt, keine unterschiedliche Haltung einnehmen darf – je nach dem, ob einem der, der oben sitzt und das ganze organisiert, sympathisch ist oder nicht. Daher erachte ich auch diese Einstellung für richtig, wenn sie nicht dazu führt, die Linke schlechthin zu verurteilen und die Rechte von bösen Taten freizusprechen. Die Vernichtung von Menschenleben steht in vielen Regimes auf der Tagesordnung und ist niemals tolerierbar.
Von der Sozialdemokratie kann man allerdings sagen, dass sie sich nie dazu hergegeben hat, derartige Regime zu organisieren und dass sie nie auf der falschen Seite gestanden ist. Die Sozialdemokratie war immer eine demokratische Bewegung, eine Bewegung der Freiheit der Menschenrechte und als solche braucht sie sich nicht vorwerfen lassen, sie sei in ein diktatorisches Regime eingespannt gewesen. Was man von anderen autoritären Führern und Regimes auf der rechten Seite, selbst wenn es keine nazistischen und faschistischen Regime waren, nicht behaupten kann.

Gefahr liegt auf der rechten Seite

Für mich persönlich und für die Zukunft Europas ist es essentiell, jegliche Entwicklung in die Richtung von Rassismus, Faschismus, Kommunismus, etc. zu bekämpfen und zu verhindern, dass diese in Europa wiederauferstehen können. Die Gefahr dafür liegt in erster Linie auf der rechten Seite, gerade wenn man verschiedene rassistische und sonstige Organisationen ansieht. Ich möchte nicht den Fehler machen, zu behaupten, auf der linken Seite sei alles in Ordnung, und alles Böse liege bei der Rechten. Aber die politische Auseinandersetzung mit den demokratiegefährdenden Bewegungen ist heute im Wesentlichen eine Auseinandersetzung auf der rechten Seite. Und das muss man feststellen können.
Wir haben vom Grundsatz her keinerlei Toleranz gegenüber irgendeiner solchen Bewegung – ob sie sich nun als rechts oder als links bezeichnet und dementsprechend ideologische Phrasen drischt. Insofern ist die heutige Auseinandersetzung mit der Geschichte, wie sie zum Teil auch in verschiedenen Projekten, in Häusern der Geschichte, in Geschichtsmuseen usw. zum Ausdruck, kommt, durchaus positiv. Diese Auseinandersetzung ist vor allem dann positiv, wenn nicht eine dominante Anschauung, eine Interpretation als das einzig Wahre dargestellt wird. Man geht heute mehr und mehr dazu über, verschiedene Sichtweisen darzustellen, ohne sich unbedingt damit identifizieren zu müssen. Daher ist es richtig festzustellen, dass es Fakten gibt, die unbestritten sind. Es gibt allerdings unterschiedliche Interpretationen, die zu diesen Fakten den historischen Kontext, die Interpretation ergeben und die auch von verschiedenen Seiten her ihre Berechtigung haben wenn sie die Fakten nicht ändern, sondern interpretieren.

Mittel gegen den Nationalismus

Insofern ist es für den Aufbau des neuen Europas wichtig, die Fakten zu kennen und die verschiede Interpretationen, wenn sie die Fakten nicht verdrehen, zuzulassen. Es gilt zu zeigen, dass man geschichtliche Ereignisse auch von unterschiedlichen Perspektiven heraus betrachten und interpretieren kann. Das ist das beste Mittel gegen den Nationalismus, der ja bekanntlich immer nur eine Interpretation kennt, und das ist die eigene. Er stellt die eigene Gesellschaft, den eigenen Staat, die eigene politische Richtung über alles andere und erklärt sie als moralisch höherwertig. Daher müssen wir uns damit auseinandersetzen und die tolerante Auffassung vertreten, dass bestimmte Entscheidungen und Ereignisse, auf die Zukunft und die Gegenwart übertragen, ihre unterschiedlichen Aspekte haben.
Um auf ein aktuelles Thema zu kommen: Die Tatsache, dass Russland sich leider nicht mit der eigenen Rolle innerhalb der Sowjetunion auseinandersetzt, kann man nicht schließen, dass im Falle eines Konflikts, an dem Russland beteiligt ist, Russland auch immer der Schuldige ist. Auch andere können genauso ihr politisches Spiel wie Russland treiben. Deshalb können wir nur dann eine Friedens-, Zusammenarbeits- und Partnerschaftsstruktur in Europa aufbauen, wenn wir zum Beispiel Russland nicht immer automatisch des Bösen verdächtigen und den Konfliktpartner des Guten – sei es nun im Falle Georgiens oder im Falle der Ukraine. Aus meiner Sicht lag die Verantwortung für die jüngsten Konflikte auf beiden Seiten. Man kann zwar über die Schwere der Verantwortung reflektieren und nachfragen, wo die eigentlichen Ursachen liegen.

Vernünftige Interpretationen finden

Wichtiger ist allerdings, dass wir versuchen, für die verschiedenen Handlungsweisen vernünftige Interpretationen zu finden. Wenn man das tut, wird man sehen, dass die Verantwortung für das, was geschehen ist, sowohl im Krieg mit Georgien als auch in der Auseinandersetzung mit der Ukraine, wahrscheinlich ihre verschiedenen Ursachen hat. Damit ist nichts zu rechtfertigen, aber das ist auch nicht das primäre Ziel, wenn es um die Zukunft geht. Es geht darum, die Bedingungen zu schaffen, aus diesen Krisensituationen herauszukommen, sodass alle Beteiligten nicht immer reproduzieren, was sie im Laufe ihrer Geschichte getan haben, sondern zu neuen Wegen und neuen Verhaltensweisen kommen. Wir werden dieses Europa nur neu aufbauen können, wenn es genau um diese neuen Verhaltensweisen geht. Das gilt auch für andere Krisen, wie zum Beispiel aktuell im Nahen Osten. Hier zeigt sich, dass, wenn alle immer nur auf ihrer Seite beharren, eine Lösung nicht möglich ist.
Wenn alle gleichsam wie Geschichtsdeterministen meinen, es gäbe nur einen Weg, den ihnen die Geschichte oder vielleicht sogar Gott eingegeben haben, wird es nie zu einer Lösung der Krisen kommen. Wenn man aber auch versucht, aus der Geschichte zu lernen und den Standpunkt des anderen nachzuvollziehen, wie er dasselbe Ereignis interpretiert und wenn man vielleicht sogar erkennt, dass es dafür Rechtfertigungen und Gründe gibt, dann wird man lernen können. Die Gründung des Staates Israel ist für Israel zweifellos etwas anderes als für die Palästinenser. Die Palästinenser müssen verstehen, warum die Juden in Israel so gefeiert und gejubelt haben, als die UNO für einen eigenen Staat Israel votiert hat, und die Juden müssen verstehen, warum die Palästinenser darunter gelitten haben und verzweifelt waren, als ihnen dadurch Land weggenommen wurde. Nur aus dieser gegenseitigen Anerkennung der Interpretation ein und desselben Datums wird man auch eine neue Zukunft bauen können.

Ein neues Europa aufbauen

Das ist natürlich auch in Europa so. Nur wenn wir sehen, dass das Ende des Zweiten Weltkrieges zwar für uns die große Befreiung bedeutet hat, aber für andere der Beginn einer neuen Diktatur gewesen ist und wenn die anderen verstehen, dass diese Wende bei all ihrem eigenen Leid für viele in Europa ein Neubeginn und der Beginn der Demokratie gewesen ist und dass die jahrzehntelange Auseinandersetzung mit dem Holocaust, insbesondere in Deutschland, leider nicht so stark in Österreich, dazu geführt hat, dass Deutschland sich heute so verhält und nicht wieder revanchistische Gedanken trägt, wird man das neue Europa aufbauen können.
Genauso gilt es zu verstehen, dass einige neue Länder Angst vor neuen Herrschaftsstrukturen übernationaler Natur in Europa haben, weil sie zuviel darunter gelitten und zuwenig an Selbstständigkeit gehabt haben. Nur wenn man sich gegenseitig in diesen Interpretationen ein und desselben Ereignisses und der gleichen Entwicklung anerkennt, dann haben wir die Chance, ein neues Europa aufzubauen.

Wien, 1.2.2009