Kühlen Kopf bewahren

Der Terror in der Türkei muss zu mehr Solidarität und engerer Zusammenarbeit mit der Türkei führen. Er stellt allerdings keinen Beitrittsbonus dar.
Die Türkei wurde in den vergangenen Tagen durch fürchterliche Anschläge in Istanbul erschüttert. Zuerst erreichte uns die Nachricht von den Attentaten gegen jüdische Synagogen. Die Juden kamen aufgrund der – katholischen – Vertreibung aus Spanien hier her und fanden eine wohlwollende Aufnahme durch Sultan Beyazit 3. Dieser Terroranschlag und verschiedene antisemitische Aktivitäten waren Anlass für eine kleine Solidaritätskundgebung seitens der EU-Abgeordneten in der Synagoge von Strassburg.

Islamisch motivierter Extremismus

Schon am Dienstag machte ich in meiner Rede zum Legislativ- und Arbeitsprogramm der Kommission im Europäischen Parlament klar, dass eine scharfe Kritik am Verhalten der gegenwärtigen Regierung in Israel keinesfalls als Rechtfertigung für antisemitische Äußerungen oder gar Anschläge herhalten kann. Bei den Attentätern aus Bingol, einer Stadt im kurdischen Süd-Osten der Türkei, die ich vor einiger Zeit mit einigen meiner Kollegen besuchte, handelt es sich um fanatische Mörder.
Wahrscheinlich hat man sich in der Türkei zu sehr um den Extremismus einiger Kurden gekümmert und das Heranwachsen eines islamisch motivierten Extremismus übersehen oder sogar stillschweigend geduldet.

Keinen Irrweg beschreiten

Wenige Tage später folgten weitere Anschläge, diesmal gegen britische Einrichtungen in Istanbul. Anlaß genug, unsere Solidarität mit der Türkei zu verstärken. Wenn jetzt aber manche – so der britische Außenminister und der deutsche Innenminister – meinen, der Prozess der Integration der Türkei in die EU müsse beschleunigt werden, so halte ich dies für einen Irrweg.
Ich fürchte sogar, dass viele in der Bevölkerung in ihrer oppositionellen Haltung gegen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei bestärkt werden. In Österreich hat sich ja meine EU-Parlamentskollegin Ursula Stenzel, wie sie selbst sagt, an die Spitze dieser Oppositionsbewegung gestellt. Und ich befürchte, dass sie die Attentate für ihre weitere Argumentation heranziehen wird. Die ÖVP in der Regierung hat ja bisher eine eher pragmatische, die EU-Mitgliedschaft der Türkei nicht ausschließende Haltung eingenommen.

Attentate können kein Beitrittsbonus sein

Ich meine, dass die Attentate von Istanbul, so schrecklich sie sind, unsere Haltung zur Türkei nicht ändern dürfen. Der Terror in der Türkei muss zu mehr Solidarität und engerer Zusammenarbeit mit der Türkei führen. Er stellt allerdings keinen Beitrittsbonus dar. Nur eine kühle, gelassene und langfristig angelegte Perspektive kann die Frage des Beitritts oder einer anders gearteten engen Kooperation als Alternative klären.
Die inneren und äußeren Spannungen, in die die Türkei verwickelt ist, müssen zuerst von der Türkei selbst abgebaut werden. Dies betrifft das Verhältnis zu den Kurden in und außerhalb des Landes und zu allen Nachbarn in der Region. Dazu hat Europa – im Gegensatz zu den Amerikanern – viel beigetragen, aber die größte Entschlossenheit, die stärksten Anstrengungen müssen von der Türkei selbst kommen. Ministerpräsident Erdogan und seine Regierung haben diesbezüglich schon einiges getan, aber keineswegs noch alles. Noch viel bleibt zu tun, vor allem in Interesse der Türkei selbst.
Wien, 21.11.2003