Kommunistische Nachwehen

Mehr als 10 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhanges ist in Bulgarien nur sehr wenig Fortschritt zu verzeichnen. 
Gestern reiste ich gemeinsam mit Jan Marinus Wiersma, dem holländischen Kollegen und Vizepräsidenten der Europäischen Partei, nach Sofia. Einerseits kamen wir als Referenten zu einem Seminar für junge Nachwuchskräfte aus den sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien der Länder des Stabilitätspaktes.

Auf dem Weg zu einem linken Bündnis

Andererseits hatten wir uns vorgenommen, mit Vertretern der vier bis fünf sozialdemokratisch orientierten Parteien in Bulgarien zusammen zu treffen und ihnen unsere Unterstützung für den Prozeß eines Zusammenschlusses zu signalisieren. Die große BSP, die Bulgarische Sozialdemokratisch Partei, ist aus der kommunistischen Partei entstanden und hat, seit sie unter dem Vorsitz von Parvanow steht, einen Kurs der Sozialdemokratie eingeschlagen – pro Europa, pro NATO und pro vernünftige Liberalisierung und Marktöffnung. Parallel zur BSP gibt es verschiedene ältere und neuere sozialdemokratische Parteien, die, wenn überhaupt, nur mit ein, zwei oder höchstens drei Abgeordneten im Parlament vertreten sind und sich zu einem neuen linken Bündnis mit der BSP zusammengeschlossen haben.
Eine Partei allerdings, die sogenannte Eurolinke, ist diesem Bündnis nicht beigetreten. Ob sie nicht eingeladen worden ist, wie sie selbst behauptet, oder ob sie gar kein Interesse gezeigt hat, wie die anderen Parteien meinen, kann schwer nachvollzogen werden. Jedenfalls hat sich das Verhältnis zwischen der Eurolinken und den anderen Parteien zunehmend verschlechtert und entfremdet. Uns stellt das vor die Situation, dass wir zum einen Beziehungen zur Eurolinken pflegen wollen, zum anderen aber Interesse daran haben, dass sich alle sozialdemokratischen Kräfte zusammenschließen.

Die türkische Minderheit

Bevor wir den Reigen der Gespräche mit den verschiedenen Parteien begonnen haben, begab ich mich in das Hauptquartier der sogenannten türkischen Partei, die die Interessen der muslimischen Bevölkerung im Land vertritt. Dieser Bevölkerungsteil hat es nicht gerade leicht gehabt, wurde sie doch schon unter kommunistischer Zeit mehr oder weniger dazu aufgefordert, ihren Namen und ihre Religion fallen zu lassen, ja ihre Namen wurden zwangsweise geändert, um sie als „echte“ Bulgaren darzustellen. Das Argument dabei lautete, dass die Türkei sie vor langer Zeit zu Türken, das heißt zu Muslimen, gemacht, indem sie ihnen einen anderen Namen gegeben habe – und genau das sollte durch diese Massnahme wieder rückgängig gemacht werden.
Es ist geradezu unvorstellbar, mit welch verbohrter, nationalistischer Vorstellung in Bulgarien gegen die türkische Minderheit vorgegangen worden ist. Und es ist auch nicht gerade sehr klug, dass der bulgarische Nationalfeiertag, der seit der Wende am 3. März begangen wird, jener Tag ist, an dem Bulgarien von den Türken befreit wurde. Wie sich das auf die türkische Minderheit im Lande auswirkt, möchte ich jetzt nicht im einzelnen hinterfragen…

Aktive Mitgestaltung und Einbeziehung

Meine Gespräche mit zwei führenden Vertretern der türkischen Partei waren durchaus positiv. Nachdem ich ihnen mitteilte, dass ich Berichterstatter für die Türkei im Europäischen Parlament bin, habe sich ihre Gesichter erhellt und sie kamen mir mit noch mehr Vertrauen entgegen. Ihr Standpunkt war klar: Die jetzige Regierung hat nichts getan, um die missliche, vor allem sozial ungemein schwierige Lage der türkischen Bevölkerung zu verändern. Sie wollen deshalb in die Regierung, um aktiv an der Gestaltung der Politik im Lande teilzunehmen.
Mein Eindruck war, dass die türkische Minderheit sehr stark an eine Linksregierung denkt, auch wenn dieses Denken nicht unmittelbar mit ihrer Ideologie zu tun hat. Allerdings gibt es in der heutigen sozialistischen, ehemals kommunistischen Partei, etliche Vertreter gibt, die im oben genannten Sinn gegen die türkische Bevölkerung in Bulgarien vorgegangen sind. Das Verhältnis ist daher nicht leicht neu zu gestalten, aber ich glaube, dass von beiden Seiten Interesse besteht, einen neuen Anfang zu machen, um dem Land eine alternative Regierung bzw. Regierungsweise zu bieten.

Problemkind Eurolinke

Wie schon erwähnt, nicht nur die Vertreter der bulgarischen Sozialisten, sondern auch jene der früheren sozialdemokratischen Parteien gaben ein sehr positives Bild ihrer Bemühungen um eine neue Einheit, aber ein sehr kritisches Bild über das Verhalten der Eurolinken, die in ihren Augen all zu oft und all zu sehr für den gegenwärtigen Ministerpräsidenten Kostov im Parlament stimmen würden. Und die nach ihren Worten überdies vielleicht sogar manche Abspaltungen aus den Reihen der linken favorisieren und unterstützen, um ihre eigenen Interessen zu vertreten.
Der Vorsitzende der Eurolinken und seine Stellvertreter sahen das naturgemäss anders. Sie meinten, sie könnten nicht mit Mißtrauensanträgen und Aktivitäten der Linken im Parlament mitgehen, wenn sie inhaltlich nicht übereinstimmten oder diese taktisch unangebracht seien. Im Gegenteil, für sie seien manche Entwicklungen innerhalb der sozialistischen Parteien nicht eindeutig in Richtung Europa und Sozialdemokratie gegangen und man müsse daher die Dinge durchaus etwas skeptisch sehen.
Im allgemeinen meinten aber auch sie, dass sie Interesse an einem sozialdemokratischen Wahlsieg und einer Regierung, die die jetzige Regierung nach den Wahlen, die voraussichtlich im Juni stattfinden werden, haben. Wir haben immer wieder betont, dass wir die Kritikpunkte, die untereinander bzw. gegeneinander vorgebracht werden, gar nicht bewerten und beurteilen können bzw. wollen. Unser Interesse konzentriert sich ausschliesslich auf einen Einigungsprozeß der Linken und das Herausbilden einer wahrhaft sozialdemokratischen Partei.
Ausserdem wünschen wir uns, dass auch die türkische Partei am Prozeß der Meinungsbildung, aber dann eben auch der Regierungsbildung, beteiligt ist. Diesen Wunsch haben wir auch in verschiedenen Interviews im Fernsehen und in einer sehr gut besuchten Pressekonferenz deutlich zum Ausdruck gebracht.

Solidarität signalisieren

Ein Besuch wie dieser ist unterm Strich immer etwas problematisch, weil wir nicht alle Details der Entwicklung beurteilen können und weil wir uns auch nicht in die inneren Angelegenheiten eines Landes einmischen wollen. Aber als europäische Sozialdemokraten haben wir zweifellos Interesse daran, dass auch in anderen Ländern eine einige Sozialdemokratie entsteht, und dass wir entsprechend starke Schwestern- oder Bruderparteien bekommen. Und genau deshalb haben wir auch deutlich zum Ausdruck gebracht, dass wir diesen Parteien helfen wollen, ihre grossen Aufgaben in einem Übergangsland gut zu erfüllen. Man darf nicht vergessen, dass Bulgarien in einer sehr schwierigen Situation ist: Obwohl die Wirtschaftsdaten der letzten Jahre nicht so schlecht sind und zum Teil ein hohes Wachstum zu verzeichnen ist, gibt es keinerlei Anzeichen eines wirklichen Abbaus der hohen Arbeitslosigkeit, die offiziell bei 17 bis 18 % liegt.

Schere zwischen arm und reich

Ausserdem ist in Bulgarien ein stärkeres Auseinanderklaffen zwischen Reichen und Armen zu beobachten. Mehr als bei meinem letzten Besuch habe ich die Armut zu sehen bekommen. In der Nähe unseres Hotels befindet sich ein Markt, der, obwohl Nationalfeiertag war, nicht nur offen, sondern auch gut besucht war. Allerdings von Menschen mit ärmlicher Kleidung und einem schlechten Gesundheitszustand. Ja, man hat die Armut sehr deutlich zu spüren bekommen. Auch viele Häuser der Umgebung sind verfallen, eingebrochen, sind zwar bewohnt, aber in einem Zustand, in dem in Österreich kaum ein Haus bewohnt wäre. Das Land ist also noch weit von einem europäischen Wohlstandsniveau entfernt. Unter diesen Voraussetzungen die Veränderungen so voranzutreiben, dass geordnet und rationell privatisiert wird, neue Investoren angelockt werden, eine wirtschaftsfreundliche Politik gemacht wird – und das alles unter Berücksichtigung der sozialen Aspekte und dem Versuch, den Lebensstandard gerade auch der ärmsten Schichten zu heben, wird sehr schwierig sein.

Katastrophale Privatisierung

Apropos Privatisierung: Eine der katastrophalsten Privatisierungen war jene der bulgarischen Luftfahrtslinien. Die Bulgarien Airlines wurden einer israelischen Gesellschaft übertragen und von dieser total ausgeräumt, was die Ressourcen betrifft.
Heute ist Bulgarien Airways bankrott und fliegt nicht mehr. Und das gerät wiederum zum Nachteil auch der ärmeren Schichten, die sich bisher einen Auslandsflug leisten konnten bzw. wenn sie im Ausland lebten, öfters nach Bulgarien kommen konnten, weil sie die günstigen Balkan Airlines zur Verfügung hatten. Damit ist es nun vorbei.
Es ist traurig, dass mehr als 10 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und des Niedergangs des Kommunismus in diesem Land so wenig Fortschritt zu verzeichnen ist. Und daran ist nicht nur die bürgerliche Regierung schuld. Es ist auch ein großes Versagen der Vorgängerführung der sozialistischen Partei gewesen, die nicht jenen heute sich hoffentlich abzeichnenden Mittelweg zwischen gesunder Wirtschaftspolitik und sozialer Sorge gefunden, sondern das Land in eine katastrophale Situation gebracht hat.
Mit unseren Gesprächen haben wir, wie gesagt, versucht deutlich zu machen, dass die Sozialdemokratie heute mehr Vertrauen genießen kann. Sie hat schon sehr viel Erfahrung auch in anderen Ländern aus Übergangssituationen vom Kommunismus zum marktwirtschaftlichen System gezogen und kann sicherlich helfen, auch Bulgarien auf einen sozialdemokratischen Weg zu bringen.

Rat und Unterstützung auch weiterhin

Ich glaube, wir haben unsere Aufgabe in diese Richtung gut erfüllt. Wir haben große Medienaufmerksamkeit erzielt. Wir haben unsere Freunde unterstützt, aber auch klar gemacht, welche politische Ausrichtung wir von ihnen verlangen. Und so hoffe ich insgesamt, dass wir, wenn wir jetzt das Land verlassen, doch zwei Tage hier verbracht haben, in denen wir den Bulgaren produktiv helfen bzw. vermitteln konnten, dass es jedenfalls auch auf der linken Seite eine wählbare Alternative gibt. Und wir haben versprochen ihnen auch weiterhin Rat und Unterstützung zu geben. Vor, aber auch nach der Wahl.  
Sofia, 3.3.2001