Kroatiens Annäherung an Europa

Auch Kroatien beschreitet den langen, steinigen Weg nach Brüssel. Aber die Entwicklung weist in die richtige Richtung.
Der kroatische Botschafter in Brüssel, den ich schon seit längerem kenne und der einmal unter Minister Staribacher im österreichischen Fremdenverkehrswesen gearbeitet hat, hat mich eingeladen, Kroatien einen Besuch abzustatten. Einerseits gibt es zwischen Regierung und Opposition Streit, andererseits ist die politische Lage in Bewegung geraten und es könnte zu einem Regierungswechsel kommen. Ich sollte mich jedenfalls über die aktuelle Lage informieren.
Kurz darauf bekam ich eine Einladung von der Sozialdemokratischen Partei Kroatiens, ein Referat über den Stand der Osterweiterung zu halten. Schon einmal hatte ich auf einer Konferenz der SozialdemokratInnen über dieses Thema referiert, ziemlich genau vor einem Jahr. Jetzt gab es den dringenden Wunsch, ich möge nochmals kommen und über den neuesten Stand der Dinge berichten. Da ich mich überdies auf die diesbezügliche Debatte im außenpolitischen Ausschuß des Europäischen Parlaments in der kommenden Woche vorbereiten wollte, nahm ich diese Einladung gerne an.

Mein erster Besuch gestern galt der Vizepremierministerin und Ministerin für europäische Integration Dr. Ljerka Mintas Hodak. Sie ist eine sehr charmante und versierte politische Vertreterin ihres Landes und ihres Präsidenten Franjo Tudjman. Vor allem hat sie einen sehr qualifizierten Stab junger, meist weiblicher MitarbeiterInnen, die sicher mehr in die Zukunft blicken als die alte, aber zum Teil auch junge Garde um Tudjman.
Dennoch konnte ich der Ministerin einige kritische Fragen nicht ersparen. Denn erst kürzlich hat die OSCE einen Bericht veröffentlicht, der die politische Situation in Kroatien nicht in den rosigsten Farben erschienen ließ. Die Mediensituation, insbesondere bei den elektronischen Medien, die Ausbildung und das Agieren der Justiz, die Vorstellungen der Regierung über das neue Wahlgesetz sowie die Art der Privatisierungen dies und noch mehr waren nach Ansicht der OSCE noch nicht „europareif“.

Ministerin Mintas Hodak führte daraufhin die mangelnde Erfahrung des Landes nach der Unabhängigkeit und auf die Schwierigkeiten, die durch den Kroatien aufgezwungenen Krieges enstanden sind, ins Treffen. Ich sehe das durchaus ein, aber mir scheint trotzdem der paternalistische, autokratische Stil des Generals an der Spitze des Staates, die damit verbundene Bedingung einer bestimmten Klientel im Nahverhältnis des Staatspräsidenten, zumindest stark mitverantwortlich für den „Rückstand“ Kroatiens bei den Reformen und der Modernisierung der politischen und wirtschaftlichen Strukturen. Diese Situation ist nicht unähnlich den Verhältnissen unter Ministerpräsident Meciar in der Slowakei. Dort war es die HZDS, hier ist es noch die HDZ, die als Partei noch immer diesen Klientalismus vertritt.

Ich machte aber auch deutlich – wie bei allen Gesprächen in Kroatien – daß eine positive Einstellung zu einem einigen und starken Bosnien-Herzegowina entscheidend für das Verhältnis zur EU ist. Wir haben gemeinsam mit den USA für einen multiethischen Staat Bosnien-Herzegowina plädiert und nun gilt es, dieses mühsame Unterfangen mit Geduld, Ausdauer, aber auch Bestimmtheit umzusetzen. Auch Kroatien muß hier mithelfen und die Kroaten innerhalb Bosnien-Herzegowinas auf diesen Weg bringen.
Sicher ist es nicht offizielle Politik, das Staatsgebiet Kroatiens auf Kosten seines Nachbarn auszudehnen. Wie erst kürzlich – Mitte Dezember 1998 – Tudjman bei der Eröffnung der „Kriegsschule Bau Jelacic“ erklärte: „Sie wissen daß es kroatische Radikale gab, die davon sprachen, nicht nur träumten, sondern von Kroatien bis zur Drina sprachen. Ich habe aber gesagt und wiederhole: wenn mir jemand ein Kroatien bis zur Drina gäbe, mit zwei Millionen Serben, wegen der Serben in Bosnien und in Kroatien, und mit zwei Millionen Moslems, würde ich ein solches Kroatien nicht wollen, denn das Kroatische Volk wäre in einem solchen Kroatien in einer inferioren und ungewisseren Position, als dies im ehemaligen Jugoslawien war. Folglich haben wir mit derjenigen Politik, die wir geführt haben, unter den gegebenen internationalen Verhältnissen das Bestmögliche erreicht, wir haben die südliche Grenze Kroatiens abgesichert und das halbe Bosnien, das heißt die Föderation in jeder Hinsicht an Kroatien gebunden.“

Damit wird die Politik des heutigen Kroatiens mehr als deutlich: keine Ausdehnung des staatlichen Territoriums, aber Beherrschung zumindest stärkeren Einflusses auf einen wesentlichen Teil Bosniens. Wie da ein starkes und eigenständiges Bosnien-Herzegowina entstehen soll, bleibt ziemlich unklar.

Aber noch etwas anderes stellte Tudjman in dieser Rede klar, was einerseits eine logische Folge der kriegerischen Auseinandersetzungen ist, andererseits aber auch Ausdruck einer Politik der langsamen, allzu langsamen Flüchtlingsrückkehr: „Also wir haben die serbische Frage gelöst, es wird nicht mehr 12 Prozent Serben und 6 Prozent Jugoslawen geben, wie es früher war, ob sie, ich weiß nicht 4 oder 6 Prozent betragen werden, dies wird den Kroatischen Staat nicht gefährden, wenn sie Kroatien als ihre Heimat akzeptieren.“
Aus diesen Aussagen wird deutlich, daß das heutige Kroatien unter Tudjman und seiner HDZ keine revanchistische Politik, aber doch eine stark nationalistische, ethische Politik betreibt. Allerdings – im Falle eines Regierungswechsels wird sich sicher immer politisch einiges ändern. Kroatien würde demokratischer, offener und reformfreudiger werden, aber an der nationalistischen Ausrichtung wird sich nur sehr schrittweise etwas ändern.
Nach meinen Gesprächen mit Ministerin Hodak gab der Österreichische Botschafter einen Empfang in seiner Residenz. Dieser neutrale Boden war auch die Voraussetzung dafür, daß Vertreter sowohl der Regierungspartei HSZ als auch aus der Opposition kamen – die Beziehungen zwischen diesen beiden Gruppierungen des Parlaments sind ja praktisch eingefroren.
Ich führte mit allen Abgeordneten gute Gespräche und war besonders beeindruckt von den jungen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen aus den Ministerien, die jenseits der immer politischen Streitereien eine klare europapolitische Orientierung haben.

Heute vormittag ging es schließlich um den Prozeß der EU-Erweiterung. Die Konferenz war sehr gut besucht, vor allem durch viele Medienvertreter. Der Vorsitzende der Sozialdemokraten, Ivica Racan, war ebenso während meines Referates und der anschließenden langen und sehr qualifizierten Diskussion anwesend wie der Vorsitzende der slowenischen Bruderpartei, Borut Pohor.

Ich machte in meinen Ausführungen deutlich, daß natürlich auch Kroatien Teil Europas ist und ein grundsätzliches Recht auf einen EU-Beitritt hat. Im übrigen solle man sich nicht so sehr auf Beitrittsdaten fixieren, sondern die Erweiterung der EU bzw. die Integration in die EU als einen längerfristigen und schrittweisen Prozeß sehen. Nur die politischen und wirtschaftlichen Reformen, die ohnehin notwendig sind, können die Erweiterungskandidaten aber darüber hinaus auch Kroatien der EU näher bringen.
Eine vor wenigen Tagen veröffentlichte Studie des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche mit dem Titel „Transition Countries in 1998/99: Widespread conomic Slowdown with Escalation Structural Problems“ lieferte mir am Rande genügend statistisches Material, um einen Überblick über die bisher erreichte und die voraussichtliche Entwicklung zu bekommen. Diese Zahlen, aber auch die generelle politische und vor allem soziale Situation in vielen Beitrittsländern zeigen, daß der Erweiterungsprozeß länger als viele Illusionisten vorgaben dauern wird.
Nur vier der sieben mittel- und osteuropäischen Kandidaten haben das Sozialproduktniveau von 1989 erreicht und alle Kandidaten sind noch weit vom durchschnittlichen Niveau der EU entfernt. Das gilt auch für Kroatien. Allerdings zeigt Kroatien beim Stand der Entwicklungen ebenso wie den Prognosen bessere Daten.

Nur Slowenien würde nach der derzeitigen Prognose 2015 das durchschnittliche Einkommens-Niveau der EU erreichen. Portugal, Griechenland und sogar Spanien würden allerdings von einigen Länder eingeholt werden. Was Kroatien betrifft, so würde dieses Land weiterhin klar vor Bulgarien und Rumänien liegen, aber an kein Land der bestehenden EU hinsichtlich des Sozialprodukts pro Kopf herankommen
Auch die Arbeitslosigkeit zeigt keine generell beruhigende Entwicklung. Zwar geht die Arbeitslosigkeit in einigen Ländern zurück, in anderen Ländern hingegen steigt sie, und was diese Zahlen sicherlich nicht zeigen, ist die damit verbundene Gefahr sozialer Hoffnungslosigkeit und der daraus folgenden soziale Unruhen.

Ich liste diese Fakten nicht auf, weil ich gegen die Erweiterung argumentieren möchte, sondern weil ich für Realismus plädiere. Einen Realismus, der die Vision eines großen, erweiterten Europas nie aus den Augen verliert. Ein Realismus, der aber auch durch politische und finanzielle Unterstützung den Nachbarn helfen soll, ihre politischen und wirtschaftlichen Systeme sowie ihre Sozial- und Umweltstandards an das Niveau der EU anzugleichen. Das gilt für die anerkannten Beitrittskandidaten, aber auch für Kroatien.
Daher bin ich auch dafür, daß die EU – trotz mancher politischer Differenzen – die bestehenden Hilfsprogramme, insbesondere das Phare-Programm, auch für Kroatien zumindest schrittweise öffnet. EU-Mittel sollen keine Belohnung für Wohlverhalten darstellen, sondern eingesetzt werden, um die Dinge in unserem und im Interesse der betroffenen Bevölkerung zu verändern. Die EU-Mittel sollten also als strategische Instrumente eingesetzt werden, um eine proeuropäische, den inneren und äußeren Frieden stiftenden bzw. bewahrende Politik zu bewirken.

Am frühen Nachmittag verließ ich Zagreb auch schon wieder. Die kroatische Hauptstadt hat sich in den vergangenen Jahren zu einer sehr lebendigen Stadt entwickelt. Ich kenne kaum eine Stadt, in der so viele junge Menschen auf den Straßen und Plätzen zu sehen sind. Und überdies gibt es angenehme Kaffeehäuser, die auf eine gemeinsame Vergangenheit in der Österreich-Ungarischen Monarchie hinweisen – eine manchmal glückliche, manchmal oft schmerzhafte Vergangenheit.
Zagreb, 20. Februar 1999