Laizismus versus Islamisierung

Der Beitrittsprozess und die Verhandlungen, die eine Anerkennung der Bedeutung der Türkei, insbesondere für die Sicherheit und Stabilität der Region bedeuten, sind wichtiger als der EU-Beitritt als solches.
Wir beschäftigen uns im Europäischen Parlament einmal mehr mit der Türkei.

Gespräche in Ankara

Es gibt eine neue Berichterstatterin, die niederländische Abgeordnete Ria Oomen-Ruijten von der Europäischen Volkspartei. Sie hat einen moderaten und sehr guten Bericht vorgelegt. Zudem fanden Debatten zwischen den Schattenberichterstattern statt – das sind auf sozialdemokratischer Seite Jan Marinus Wiersma und ich selbst, der ich aufgrund der Krankheit von Jan Marinus die Möglichkeit hatte, den Bericht äußerst intensiv vorzubereiten und in letzter Minute auch noch einige Abänderungsanträge einzubringen.
Wir hatten von Beginn an vor, zur besseren Vorbereitung auch in die türkische Hauptstadt Ankara zu reisen. Nachdem Jan Marinus erkrankt war, habe ich diese Reise gemeinsam mit unserem Fraktionsvorsitzenden Martin Schulz angetreten. Wir haben viele und durchaus produktive Gespräche in der Türkei geführt.

Die Ansprechpartner

Unsere Gesprächspartner waren zunächst die europäischen Botschafter, allen voran die österreichische Botschafterin, die sehr aktiv und extrem versiert auftritt. Weiters trafen wir wie immer VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen, die ich zum Teil schon lange kenne. Auch mit kurdischen Abgeordneten kamen wir zusammen, ebenso wie mit Abgeordneten der Regierungspartei AK. Nicht zuletzt trafen wir natürlich auch Vertreter der Regierung, konkret den Justizminister, den stellvertretenden Premierminister und den Premierminister Erdogan selbst. Ich habe Erdogan bereits öfters persönlich getroffen und er zeigte sich diesmal in bester Stimmung und äußerst selbstsicher, ohne dabei überheblich zu wirken. Gegenüber unseren Anliegen signalisierte er eine sehr offene Haltung.
In allen unseren Gesprächen haben wir unmissverständlich klargemacht, dass wir uns mehr Reformen wünschen, insbesondere die Reform des berühmt-berüchtigten Paragraphen 301 des Strafgesetzbuches. Dieser Paragraph wird immer wieder herangezogen, um unliebsame Meinungen, zum Beispiel betreffend die Frage der massenweisen Vertreibung und Tötung von Armenien, dem so genannten „Genozid“ an den Armeniern, einzuschränken, zu verhindern und Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen.

Die Kurdenfrage

Eines unserer zentralen Gesprächsthemen war die Kurdenfrage. Ich habe klargemacht, dass mir diese Frage sehr am Herzen liegt und ich mich vehement für die Anliegen der kurdischen Bevölkerung in der Türkei und darüber hinaus einsetze. Und genau aus diesem Grund setze ich eine friedliche parlamentarische Lösung voraus.
Gerade jetzt, wo es mehrere Abgeordnete aus den kurdischen Regionen und mit kurdischem Hintergrund gibt, ist es wichtig, einen anderen Ansatz als jenen der militärischen Unterdrückung einerseits und des Terrorismus andererseits zu finden. Das setzt voraus, dass sich das Militär zurückhält und dass die Regierung Erdogan positive Akzente setzt. Parallel muss allerdings auch der Terrorismus, der von der PKK von irakischem Territorium aus erfolgt, beendet werden.

Klarer Trennungsstrich

Premierminister Erdogan gab mir zu verstehen, dass ohnehin viel in der Region investiert werde. Zudem habe die Mehrheit der Kurden die AK-Partei gewählt. Nun, das ist richtig. Trotzdem wird es solange nicht zum Frieden kommen, solange nicht auch eine stärkere politische und kulturelle Identität der Kurden innerhalb der Türkei als Mittragende für die Entwicklungen in der Türkei zum Ausdruck kommen kann. Und dazu braucht man in erster Linie das Gespräch mit den kurdisch stärker orientierten Abgeordneten.
Ich habe aber auch den Abgeordneten der kurdischen Partei DTP, die mich dieser Tage auch in Brüssel besucht haben, klargemacht, dass sie sich unmissverständlich von einem ambivalenten Verhältnis zur PKK und zum Terrorismus trennen müssten. Es kann und darf in diesem Punkt keine Ambivalenz geben. Man kann nicht sowohl die parlamentarisch-friedliche als auch die terroristische Lösung verfolgen. Mir ist bewusst, dass es jeder Bewegung schwer fällt, den Übergang vom Terrorismus zur friedlichen politischen Verhandlungslösung zu finden. Dennoch, es muss ein klarer Trennungsstrich gezogen werden. Andernfalls wird die Unterstützung für die kurdischen Anliegen in der Türkei nicht besonders stark ausfallen – und das wäre verheerend.

Beitrittsprozess ist wichtiger als Beitritt

Unsere Gespräche mit den verschiedensten Vertretern in Ankara waren insgesamt sehr positiv. Und sie waren von der gemeinsamen Überzeugung getragen, dass Reformen nicht nur für einen möglichen EU-Beitritt notwendig sind – der aus meiner Sicht frühestens in 10 Jahren stattfinden kann – sondern dass diese Reformen unabhängig von einem Beitritt und einen bestimmten Beitrittsdatum erfolgen müssen. Diese Ansicht zieht sich heute eigentlich quer durch die Türkei: Der Beitrittsprozess und die Verhandlungen, die eine Anerkennung der Bedeutung der Türkei, insbesondere auch für die Sicherheit und Stabilität der Region bedeuten, sind wichtiger als der Beitritt als solches.
Am Rande unseres Besuches in Ankara traf ich auch mit dem Vertreter des irakischen Präsidenten Talabani, der ein Führer der irakischen Kurden gewesen ist und immer noch ist, zusammen. Auch er sprach sich klar für eine Trennung zwischen der parlamentarischen Vertretung und den kurdischen Rebellen mit ihrem Terrorismus aus. Er selbst hat auch zum Ausdruck gebracht, dass Präsident Talabani äußerst unglücklich über die aktuellen Aktivitäten ist, die von irakischem Territorium ausgeübt werden. Er zeigte sich überzeugt, dass auf die regionale kurdische Regierung entsprechender Druck ausgeübt werden muss, die terroristischen Aktivitäten zu beenden.

Nationalistische CHP

Ich traf außerdem Vertreter aus der CHP – jener Partei, die nach wie vor Mitglied in der Sozialistischen Internationale ist und deren Mitglieder mit der gegenwärtigen Führung durch Deniz Baykal sehr unzufrieden sind. Wir in der Europäischen Union üben generell massive Kritik an Deniz Baykals CHP. Sie agiert extrem nationalistisch und ist viel weniger zu Reformen im Inneren sowie zur politischen Lösung der Kurden-, aber auch der Zypernfrage bereit als die regierende AK-Partei.
Jene CHP-Vertreter, mit denen wir in Ankara sprachen, wandten sich hingegen in erster Linie gegen die undemokratischen Verhältnisse, die ihrer Meinung nach in den politischen Parteien in der Türkei im Generellen und in der CHP im Speziellen herrschen. Wir können allerdings von außen nicht in die inneren Verhältnisse in den politischen Parteien eingreifen. So kann ich mir nur wünschen, dass die CHP sich zu einer offeneren und demokratischeren Partei entwickelt als das derzeit der Fall ist.

Islamisierung der Türkei

Es ist mehr als offensichtlich, dass es in der Türkei einer linken, zumindest links-orientierten sozialdemokratischen Partei dringend bedarf. Zum einen gibt es eine ganze Reihe von sozialen Problemen, die von der AK-Partei nur unzureichend behandelt werden – auch wenn sie sich heute mehr auf diese Fragen konzentriert als die CHP. Zum anderen finden derzeit Debatten über die stärkere Orientierung der AK-Partei an islamischen Grundsätzen statt. Wir haben auch bei unserem Treffen mit den Botschaftern über die aktuelle Islamisierung in der Türkei gesprochen.
Die österreichische, aber vor allem auch die schwedische Botschafterin hat klar zum Ausdruck gebracht, dass die Türkei ein islamisches Land ist. Und es sei dem Programm der AK-Partei immer deutlich zu entnehmen gewesen, dass beispielsweise die Kopftuchfrage neu aufgerollt wird. Noch ist es in der Türkei verboten, im öffentlichen Raum – in Ämtern oder auf den Universitäten – ein Kopftuch zu tragen. Die AK-Partei möchte das ändern – auch wenn der Justizminister versprochen hat, eine solche Änderung nur auf Basis eines breiten Konsenses durchzuführen.

Die Kopftuchfrage

Insgesamt handelt es sich dabei zweifellos um eine Debatte darüber, wie die Prinzipien von Atatürk heute angewendet werden sollen. Ein stures Festhalten der CHP an den türkischen Prinzipien, wie sie zum Teil erst in den türkischen Militärdiktaturen zum Ausdruck gebracht und zum Gesetz gemacht worden sind, hilft nicht weiter. Natürlich besteht die Angst, die Freiheit das Kopftuch zu tragen, wann und wo man will, kann in bestimmten Regionen dazu führen, dass das Kopftuch zumindest moralisch sozial erzwungen wird. So könnte sich das Kopftuchverbot in einen moralischen Druck, das Kopftuch zu tragen, verwandeln.
Ich habe eine junge Türkin, die derzeit für die Europäische Kommission arbeitet, auf diese Frage angesprochen. Sie antwortete mir, dass sie durchaus versteht, dass es in diesem Bereich zu einer Veränderung bzw. Reform kommt. Sie sprach sich aber dafür aus, stärker zu differenzieren. Auf der Universität seien die Frauen erwachsen und selbständig genug und man könnte das Kopftuch zulassen. Auf den Schulen hingegen sollte das nicht so sein. In dieser Lebensphase stünden die jungen Mädchen noch zu sehr unter dem Einfluss ihrer Eltern. In den Ämtern sollte es so sein, dass die Besucherinnen ein Kopftuch tragen können sollen, wenn sie es möchten. Die Beamtinnen hingegen sollten kein religiöses Symbol tragen und für sie sollte das Kopftuchverbot weiter gelten, um ihre Neutralität und Objektivität zum Ausdruck zu bringen.

Laizismus muss bleiben

Diese Interpretationen sind aus meiner Sicht sinnvoll. Ob sie auch in der Verfassung durchsetzbar sind, ist eine andere Frage. Unbestreitbar ist, dass dadurch jedenfalls eine Differenzierung erfolgen würde. Das laizistische Prinzip der Trennung von Staat und Religion wäre gewährleistet, ebenso wie die Freiheit der Frauen, ein Kopftuch zu tragen, wenn sie das entsprechende Alter erreicht haben und selbstbestimmt darüber entscheiden können.
Diese Diskussion ist für die Zukunft der Türkei und auch für unser Verhältnis zur ihr ohne jeden Zweifel entscheidend. Wir anerkennen, dass es sich um einen islamischen Staat – besser gesagt um einen Staat mit einer vorwiegend islamischen Bevölkerung – handelt. Aber wir bekennen uns ebenso stark dazu, dass die Türkei ihre laizistische Ausrichtung beibehalten soll.

Ankara, 16.10.2007