Leitfaden für den Nahen Osten

Angesichts der jüngsten Entwicklungen im Nahen Osten brauchen wir Grundsätze und Zielsetzungen, von denen wir bei der Bewertung einzelner Probleme und Lösungsansätze ausgehen können.
In Zusammenhang mit den jüngsten Entwicklungen im Libanon gab es auch in unserer Fraktion heftige Debatten über die Frage, ob wir verlangen sollten, dass die Hisbollah zu einer terroristischen Opposition erklärt werden sollte.

Doppelgesichtige Hisbollah

Das Problem ist die Doppelgesichtigkeit dieser Organisation. Einerseits ist sie eine politische Partei, die Vertretung der Schiiten im Libanon. Und nach dem erfolgreichen Kampf gegen die israelische Besatzung hat sie große Anerkennung gewonnen und eine konstruktive Rolle im Libanon gespielt.
Andererseits hat sich gerade in letzter Zeit ein Zweig der Hisbollah entwickelt, der stärker durch terroristische Anschläge in Palästina tätig ist. Und damit werden nicht nur israelische, sondern auch palästinensische Interessen nach Frieden verletzt – abgesehen vom Tod unschuldiger Menschen.
Um aber den Gesamtzusammenhang nicht aus den Augen zu verlieren, habe ich auch für die Debatte in der Fraktion eine Art Leitfaden zusammengestellt.

„Unser“ Naher Osten

Angesichts vieler Diskussionen über unsere Haltung zu den jüngsten Entwicklungen im Nahen Osten sollen im Folgenden einige Grundsätze und Zielsetzungen definiert werden, von denen wir bei der Bewertung einzelner Probleme und Lösungsansätze ausgehen sollten – wir, die Europäische Union, aber vor allem die Sozialdemokratische Fraktion:
– Voller Respekt der Menschenrechte inklusive der Rechte der Minderheiten;
– Demokratie mit vollem Wahlrecht für alle Bürgerinnen und Bürger; Respekt und Anerkennung der Souveränität und Sicherheit aller bestehenden Staaten;
– Herstellung eines ebenso zu respektierenden lebensfähigen palästinensischen Staates;
– Unterstützung des Friedensprozesses zwischen Israel und Palästina gemäß der „road map“;
– Anerkennung und Umsetzung aller die Region betreffenden UN-Resolutionen;
– Friedensschluss zwischen allen beteiligten Staaten unter Respekt der international anerkannten Grenzen;
– Rückzug aller Truppen aus besetzten Gebieten (Libanon, Sheba Farm, Golanhöhen, Westbank, Gaza, Irak);
– keine direkte oder indirekte Landnahme (z.B. durch den Verlauf der „Mauer“);
– Unterbindung aller terroristischen Aktivitäten und gegenseitige Unterstützung beim Kampf gegen Terrorismus;
– Abbau des gegenseitigen Bedrohungspotentials, keine Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen bzw. entsprechende Demilitarisierung, kernwaffenfreie Zone;
– Unterstützung – auch finanzieller Natur – der demokratisch orientierten Zivilgesellschaft durch die EU.

Transformationsprozess angehen

All diese Zielsetzungen müssen gleichzeitig verfolgt werden. Eine inhaltliche bzw. zeitliche Priorität festzulegen wäre unmöglich und für die Entwicklung der Region kontraproduktiv. Das heißt auch, dass die jeweiligen Chancen, die sich durch bestimmte Entwicklungen ergeben, unmittelbar ergriffen werden müssen.
So ist der Abzug der Israelis (Siedler und Militär) aus den besetzten Gebieten ebenso zu unterstützen wie der Abzug der Syrer (Armee und Geheimdienst) aus dem Libanon, ohne dass gleichzeitig andere Zielsetzungen erfüllt werden können. Sie dürfen nur nicht aus den Augen verloren werden. Allzu starke Ungleichgewichte werden als Ungerechtigkeiten erlebt und verhindern den Transformationsprozess in Richtung Demokratie und Frieden im Nahen Osten.
Straßburg, 8.3.2005