Liberalisierung mit Augenmaß

Auch im Bereich der Eisenbahnen geht es nicht um eine bedingungslose Deregulierung, sondern um eine gut geplante Liberalisierung mit Augenmaß!
Heute wurden meine beiden Berichte zu den Richtlinienvorschläge der EU-Kommission im Rahmen des Infrastrukturpaketes mit großer Mehrheit vom Europäischen Parlament angenommen.
Im zuständigen Ausschuß selbst ist er vor wenigen Wochen bereits mit 32:1 Stimmen angenommen worden. Die eine Gegenstimme stammte von einer kommunistischen Abgeordneten, der meine – aus meiner Sicht – maßvollen und zielgerichteten Liberalisierungsvorschläge – noch zu weit gingen. Aber für mich ist der Status quo so unbefriedigend, daß ich ihn nicht festschreiben wollte.

Wie schon in meinen letzten „Briefen aus Europa (Nr. 12)“ erwähnt, ging es mir um die schrittweise Herstellung europäischer Eisenbahnstrukturen, dort, wo sie am wichtigsten sind und um Rahmenregelungen für die Vergabe von Lizenzen und von Benützungsrechten bzw. für die Festlegung von Benützungsentgelten, ohne mit all zu viel Detailregelungen den Mitgliedsstaaten zugleich Entscheidungsspielraum zu nehmen.
Abgesehen davon, daß diese Detailregelungen bzw. deren Durchführung ohnedies nicht von Brüssel aus kontrollierbar sind, ist es ein schlechter politischer Stil – der natürlich auch auf nationaler und regionaler Ebene bemerkbar ist -, allzuviel Verantwortung zentral und von den Bürgern entfernt zu verankern.

Diese Grundthematik hatte ich bereits am Montag dieser Woche bei einer Tagung in Linz angesprochen. Dort haben sich Nahverkehrsexperten und -praktiker nicht zuletzt mit den Absichten er EU-Kommission, auch den Nahverkehr EU-weiten Regelungen zu unterwerfen, befaßt. Aus meiner Sicht geht diese Absicht absolut in die falsche Richtung. Die EU und im speziellen die EU-Kommission hat sicherlich für transparente und faire Bedingungen auf dem gemeinsamen Markt zu sorgen. Sie soll überdies die Interessen der Konsumenten vertreten, wo diese nicht anders – vor allem durch die Kunden selbst – wahrgenommen werden können.
Die Dienstleistungen des Nahverkehrs sind aber typische Leistungen an einem lokal begrenzten Kundenkreis und nicht für den großen gemeinsamen Markt gedacht. Überdies können diese Kunden auf vielfältigere Weise ihre Rechte wahrnehmen – über die Medienöffentlichkeit, in Form von Bürgerinitiativen und vor allem durch Wahlen! Die Anbieter im lokalen und regionalen öffentlichen Verkehr sind also einer ständigen Kontrolle ausgesetzt, abgesehen vom Wettbewerb durch die Straße und durch die Städtekonkurrenz.
Wenn das Prinzip der Subsidiarität einen Sinn macht, dann in diesem Bereich, denn die Aufgabe, den lokalen und regionalen öffentlichen Verkehr kundengerecht und kostengünstig zu organisieren, kann man wohl getrost den regionalen und städtischen Verantwortlichen überlassen. Sie wissen am besten, wie das Gesamtnetz zu gestalten ist, ob, warum und wie bestimmte Linien auszuschreiben sind, wie auch kleine Betriebe effiziente Leistungen erbringen können etc. Und diese Behörden unterliegen einer lokalen, demokratischen Kontrolle, die – in diesem Falle – jedenfalls mehr wert ist als europaweite einheitliche Regelungen. Hier sind differenzierte Regelungen, lokale Experimente etc. durchaus angebracht.

Bei der Gestaltung des notwendigerweise zusammenhängenden Flugverkehrsnetzes sowie bei den Eisenbahnen bedarf es sicherlich europaweiter Regelungen. Und da beim Güterverkehr das politische Ziel der Rückverlagerung auf die Schiene eine große Rolle spielt, habe ich konsequenterweise bei meinen Vorschlägen zum Infrastrukturpaket auf die Europäisierung des grenzüberschreitenden Güterverkehrs auf der Bahn einen besonderen Wert gelegt. Hier ist eine Marköffnung bzw. eine Liberalisierung durch Wettbewerbschancen für alle europäischen Eisenbahnunternehmungen gerechtfertigt.
Aber man soll doch in der EU-Kommission nicht glauben, daß Europa nur dann erfolgreich ist, wenn möglichst vieles zentral geregelt wird, und Europa nur dann stark ist, wenn die nationale, regionale und lokale Entscheidungsfreiheit möglichst weitgehend eingeschränkt wird. Nicht bedingungslose Deregulierung durch Brüsseler Regulierung ist gefragt, sondern Liberalisierung mit Augenmaß.

P.S.: Lesen Sie zu diesem Kapitel auch meine Rede vor dem Europäischen Parlament im Anhang dieser „Briefe aus Europa“

Straßburg, 10. März 1999