Masochistische Selbstherrlichkeit

Es scheint sich vermehrt der Eindruck eingeschlichen zu haben, dass die EU gewissermaßen der kapitalistische, menschenverachtende „Gott sei bei uns“ ist – also geradezu ein Teufelswerkzeug zur Zerstörung sozialer Netze und der sozialen Sicherheit.
Schon in dieser Woche hat es ein Wiedersehen mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel gegeben – diesmal im Europäischen Parlament, wo sie am Mittwoch ihre einführende Rede zur deutschen Präsidentschaft gehalten hat.

Philosophisch-literarische Antrittsrede

Diese Rede von Angela Merkel ist grundsätzlich philosophischer ausgefallen, als es normalerweise üblich ist. Und das trifft eigentlich auf alle Präsidentschaftsreden zu, die ich bisher gehört habe. Tony Blair etwa ist zwar in seinen Ausführungen wesentlich grundsätzlicher als andere gewesen. Aber seine Rede war zum einen nicht derart pro-europäisch und zum anderen nicht so philosophisch-literarisch untermauert wie bei Merkel.
Wahrscheinlich kann man mit Recht behaupten, dass das Gleichgewicht zwischen den eher grundsätzlichen Aussagen auf der einen Seite und den etwas konkreteren Aussagen zu den Vorhaben der Präsidentschaft auf der anderen Seite nicht wirklich gestimmt hat. Der erste Teil von Merkels Rede war in diesem Sinn zu sehr ausgeprägt, hier wäre vielleicht weniger mehr gewesen. Im zweiten Teil wäre hingegen ein näheres Eingehen auf die einzelnen Vorhaben notwendig gewesen.

Sozialer Fokus unterbeleuchtet

Unserer Fraktion hat in den Ausführungen von Merkel der Begriff Solidarität gefehlt – und das habe ich in meiner Rede vor dem Plenum auch zum Ausdruck gebracht. Der Solidaritätsgedanken und der Fokus auf das Soziale waren unterbelichtet. Das bedeutet nicht, dass Angela Merkel diese Bereiche nicht erwähnt hätte. Die deutsche Bundeskanzlerin bekannte sich explizit zum europäischen Sozialstaatsmodell und zur Beschäftigungspolitik. Die Untermauerung, die Begründung, die Motivation und der Nachdruck fielen aber wesentlich geringer aus als in vielen anderen Bereichen.
Dieses Phänomen bemerken wir leider immer wieder. Zu Recht wird nicht nur in der österreichischen Öffentlichkeit der Mangel an sozialen Elementen in der europäischen Politik kritisiert. Diese Kritik ist aber zum Teil überzeichnet. Es scheint sich vermehrt der Eindruck eingeschlichen zu haben, dass die Europäische Union gewissermaßen der kapitalistische, menschenverachtende „Gott sei bei uns“ ist – also geradezu ein Teufelswerkzeug zur Zerstörung sozialer Netze und der sozialen Sicherheit.

Pauschalattacken

Ich habe diese Einstellung nicht zuletzt gestern Abend im Rahmen einer Podiumsdiskussion in Wien erlebt, bei der es eigentlich um die Türkei gegangen ist. Vom Inhaltlichen her verlief die Diskussion im Großen und Ganzen sachlich, wenn auch mit einigen Vorurteilen gespickt. Den meisten Applaus erhielten allerdings Wortmeldungen aus dem Publikum, die eine Pauschalattacke gegen die Europäische Union geritten sind – als ob es zum Beispiel in der Schweiz, die kein EU-Mitglied ist, völlig andere Verhältnisse gebe, ja als ob irgendwo in der Welt eine ganz andere Orientierung bestünde.
Ich teile die Kritik, dass die Europäische Union nicht in ausreichendem Maß versucht, ein Gegengewicht zu bestimmten globalen Tendenzen zu bilden – und zwar nicht durch Abschottung, sondern durch eine stärkere Beeinflussung globaler Entwicklungen. Eine geschwächte Europäische Union, eine Union, die nicht fähig ist, sich selbst eine Verfassung und einen Außenminister zu geben, schafft allerdings nicht einmal die Grundlagen für ein stärkeres gemeinsames Auftreten.

Gefährliche Süffisanz und Selbstherrlichkeit

Aus diesem Blickwinkel heraus bedauere ich es zutiefst, wenn mit Süffisanz und Selbstzufriedenheit die Freude zum Ausdruck gebracht wird, dass die Verfassung gescheitert ist. Für mich ist eine derartige Haltung einfach grotesk, und sie verhindert die Schaffung der Voraussetzung für ein stärkeres Auftreten auf globaler Ebene.
Diese geradezu masochistische Selbstherrlichkeit, die sich vor allem auch in Österreich breit gemacht hat und deren Dogma es ist, durch eine Abschottung das Heil unseres Landes zu sichern, ist aus meiner Sicht äußerst gefährlich. Hinzu kommt ein oft zitiertes Schlagwort: Die Europäische Union ist durch ihre Verbindungen zur Nato eigentlich eine kriegerische Union – als ob es Hauptzweck der Nato wäre, Kriege zu führen und als ob die Mehrheit der Bevölkerung und vor allem auch der SozialdemokratInnen in Europa, die in Nato-Staaten leben und die sich zur Nato bekennen, immer nur auf Kriege aus wäre.

Die Realität mitgestalten

Leider sind mir derartige Einstellungen nicht nur bei der gestrigen Diskussion über die Türkei begegnet, sondern auch heute, als ich an einem Roundtable über das Verhältnis EU-Russland-USA teilgenommen habe. Ein, meines Wissens sozialdemokratisch orientierter, Rechtsanwalt hat geradezu frohlockt, dass die europäische Verfassung nicht angenommen worden ist und hing der Illusion nach, dass Österreich innerhalb der EU unter diesen Bedingungen eine völlig andere Sicherheitspolitik entwerfen kann als sie die Europäische Union vertritt. Hier ist zu ergänzen, dass gerade die EU – im Unterschied zu Amerika – eine Sicherheitspolitik konzipiert hat, die nicht auf militärischen Interventionen beruht und die nicht versucht, alles in der Welt durch Gewalt zu verändern.
Die Europäische Union ist zu schwach, um diese alternative Position durchzusetzen. Bis in durchaus gebildete Kreise hinein hat sich allerdings, nicht zuletzt aufgrund des Versagens der Politik, ein Wolkenturm aufgebaut, der die Realität verschleiert und der eine Unfähigkeit zur Beeinflussung dieser Realität nach sich zieht. Es geht nämlich nicht darum, die Realität, so wie sie ist, zu akzeptieren. Es gilt viel mehr, Europa so zu stärken, dass es die Entwicklungen in den USA, in Russland und in anderen Regionen nicht als gegeben hinnehmen muss, sondern dass es die Kraft und auch die Möglichkeiten hat, diese Entwicklungen entsprechend zu beeinflussen. Dass sich dabei nicht alles nach der österreichischen Methode orientieren wird und muss, müsste eigentlich außer Zweifel stehen. Viele wollen es dennoch nicht wahrhaben.

Persönlich betroffen

Es hat mich jedenfalls in den vergangenen Tagen wirklich tief betroffen gemacht, dass es offensichtlich zu einer stärkeren Auseinanderentwicklung zwischen gut ausgebildeten Fachkräften, die – gerade auch in Österreich – erfolgreich in der Wirtschaft tätig sind und Menschen, die sich zurückgesetzt fühlen und Wut in sich aufstauen, die sich letztendlich geballt gegen die Europäische Union entlädt – als wäre sie allein für alles verantwortlich – gekommen ist. Es wird so getan, als wäre die Arbeitslosigkeit überall gleich hoch und als würde sie überall in gleichem Ausmaß steigen. Ganz so, als ob es in derselben Europäischen Union nicht sehr unterschiedliche Entwicklungen gebe – je nachdem, wie nationale und regionale Regierungen agieren.
Gerade in Österreich kann sich aufgrund unserer Lage im Erweiterungsprozess unwahrscheinlich viel Positives entwickeln und wir können gerade aus dieser Erweiterung großen Nutzen ziehen. Natürlich ist die heutige Welt eine andere. Wir müssen uns in dieser Welt doppelt und dreifach bemühen, dass Europa zählt. Denn von der Quantität unserer Bevölkerung her sind wir eine kleine und immer kleiner werdende Minderheit auf dieser Welt. Wenn wir wollen, dass unsere – auch sozialstaatlichen – Leistungen eine Rolle spielen, dann müssen wir sehr viel mehr einbringen als bloß zu jammern und uns abzuschotten.

Perspektivisch arbeiten

In diesem Zusammenhang habe ich in der Weihnachtspause ein kurzes Papier verfasst, das ich zur Grundlage einer Debatte im Fraktionspräsidium über unsere Prioritätensetzung in den kommenden Monaten herangezogen habe. Ich glaube, es ist wichtig, derartige Prioritäten für unsere Arbeit zu setzen. Und genauso wichtig ist für mich, die außenpolitische Dimension mit der innereuropäischen Argumentation zu verknüpfen.
Wir müssen gerade deswegen mehr für Forschung und Entwicklung ausgeben. Und wir brauchen gerade deswegen eine Verfassung – weil wir die globalen Verhältnisse beeinflussen wollen, weil wir angesichts der neu strukturierten globalen Situation bestehen und unser System der sozialen Sicherheit – soweit es nur irgendwie geht – verteidigen wollen. Man braucht dazu allerdings ein Quantum an historischer Perspektive. Denn diese vermittelt einem immer wieder, dass ein Stehen bleiben gerade in unseren Zeiten absolut unmöglich ist bzw. in die Katastrophe führt.

Wien, 20.1.2007