Mazedonien hat gewählt

Die große Aufgabe, die beiden Bevölkerungsgruppen in Mazedonien zusammenzuführen und sie eventuell zu integrieren, bleibt noch zu erledigen. 
Die Wahl ist geschlagen. Mazedonien bekommt ein neues Parlament – wie es scheint, mit einer klaren, absoluten sozialdemokratischen Mehrheit. Die deutliche Abschwächung ihrer ehemals nationalistischen Position und das Bekenntnis zur Aussöhnung der (slawisch-)mazedonischen und der albanischen Bevölkerungsgruppe nach dem Abkommen von Ohrid haben sich bezahlt gemacht. Auf der anderen Seite hat sich für die ehemaligen terroristischen Albaner sowohl ihr bewaffneter Kampf als auch ihre Transformation zu einer Partei, die sich dem Wahlkampf stellt, gerechnet. Ali Ahmeti hat mit seiner neuen Partei Platz Eins unter den albanischen Parteien erzielt!
Aber damit ist noch nicht alles gelaufen. Die große Aufgabe, die beiden Bevölkerungsgruppen – und andere kleine Minderheiten – zusammenzuführen, sie eventuell zu integrieren, bleibt noch zu erledigen. Zwar werden mit dieser Wahl gute Voraussetzungen dafür geschaffen, aber die Chancen müssen nun auch genützt werden.

Die „Familienwahl“

Ich war diesmal – wie einige Kolleginnen und Kollegen – als Wahlbeobachter nach Mazedonien gekommen. Wir besuchten einige Wahllokale im Distrikt Veles, dem ehemaligen Tito Veles, südöstlich von Skopje. Es handelte sich um rein „mazedonische“, gemischte und um rein „albanische“ Wahlsprengel. In vielen Fällen war die Wahlkampfführung vorbildhaft, in einigen gab es kleine Mängel. In einem Wahllokal, einem rein albanischen, konnten wir allerdings auch das „Familienwählen“ mitverfolgen, das ich bisher nur vom Hörensagen kannte.
Schon bei der Einfahrt nach Studenicani fühlte man sich in eine andere Welt versetzt. Es waren ausschließlich Plakate und Transparente von albanischen Parteien affichiert. Unter anderem wurde die Partei von Ali Ahmeti, die BDI, offen und auf positive Weise mit der UCK in Verbindung gebracht. Das machte unserer mazedonischen Dolmetscherin Angst und sie fragte, ob es hier überhaupt sicher sei. In der Tat: Die Stimmung schien sehr „dicht“ zu sein, wenngleich wir auf die in Mazedonisch gestellte Frage nach dem Wahllokal klare und nicht unfreundliche Antworten bekamen.
Im Wahllokal jedoch war man nicht gerade erfreut über unsere Ankunft. Allerdings war der norwegische Botschafter schon seit einigen Stunden zur Beobachtung hier. Wir bemerkten sofort, wie hier gewählt wurde. Meist kamen ganze Familien zusammen ins Wahllokal. Bei allen Eintreffenden wurde zunächst die Identität geprüft und eruiert, ob sie schon gewählt hatten – nach dem Wahlgang wurde der rechte Daumen mit einer unsichtbaren Tinte besprüht, die unter ultraviolettem Licht sichtbar wurde.

Entmündigung

Anschließend gingen die Frauen in Richtung Wahlzelle und warteten, bis der Familienvater mit den Stimmzetteln kam. Dann wurden diese „gemeinsam“, d.h. vom Mann – Vater bzw. Sohn – ausgefüllt. Als Begründung wurde uns gegenüber der Koran, die Tradition, das Analphabetentum und die Vereinfachung des Verfahrens angeführt.
Ein solches Vorgehen ist weder vom Standpunkt der Demokratie noch von jenem der Emanzipation vertretbar. Dieses Wahlverhalten war aber keinesfalls in allen albanischen Wahllokalen der Fall. Es kamen viele offensichtlich muslimische Frauen alleine oder zu zweit und wählten völlig regulär. Auch manche Frauen, die offensichtlich nicht lesen und/oder schreiben konnten, wählten korrekt – sie gaben statt einer Unterschrift einen Fingerabdruck ins Wahlregister. Es ist auch kein Zufall, dass die Schule, in der sich die Wahllokale mit den „Familienwählern“ befanden, ausschließlich mit Tafeln und Hinweisen aus der albanischen Geschichte geschmückt war. Hinweise darauf, dass sich die Schule in Mazedonien befand, gab es dagegen nicht.

Schwierige Integration

Da Ahmetis Partei in ihrem Titel die „Integration“ aufgenommen hat, fällt dieser Partei – ob sie sich „nur“ im Parlament oder auch in der Regierung befinden wird – eine große Aufgabe zu. Sie kann mit der Integration auch gleich bei der eigenen Bevölkerung beginnen – zumindest bei jenem Teil, der sich fest in den Händen einiger – männlicher – politischer Führer befindet. Ali Ahmeti kann dabei sicher mit der Unterstützung seiner Stellvertreterin Teuta Arifi, auf die große Hoffnungen gesetzt werden, rechnen.
Die Frage der Integration einer muslimischen Bevölkerung in unserer Gesellschaft stellt sich einigen, keinesfalls allen albanisch gemischten Mazedoniern besonders stark. Es ist dies übrigens eine Frage, die sich nach den furchtbaren Attentaten vom 11.9.2001 und jetzt wieder verstärkt mit der Forderung der Türkei, ein konkretes Datum für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen genannt zu bekommen, in ganz Europa stellt.
In der Tat hat das türkische Parlament in den letzten Tagen vor seiner Auflösung angesichts der Wahlen vom 3. November ein Menschenrechtspaket verabschiedet, das viele von uns nicht erwartet haben. Die Abschaffung der Todesstrafe und etliche kulturelle Rechte für die kurdische Minderheit – zwei zentrale Forderungen wurden Gesetz. Abzuwarten bleibt, wie die Umsetzung der einzelnen Gesetze in die Realität erfolgt. Leyla Zana, die Trägerin des Sarachow-Preises des Europäischen Parlaments, bleibt jedenfalls trotz anderslautendem Erkenntnis des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Gefängnis.

Alternative zum Beitritt

Für mich ist jetzt die entscheidende Frage, welches Signal wir der Türkei als Antwort auf die Fortschritte, die sie nicht zuletzt aufgrund unserer Drucks ergriffen hat, geben. Wie können wir verhindern, dass unser Signal als nächster Schritt zu einem kurz- bis mittelfristigen Beitritt gesehen wird? Einen solchen kann ich mir angesichts der notwendigen „Verdauungszeit“ für die unmittelbar bevorstehenden Beitritte zur EU sicher nicht in absehbarer Zeit vorstellen. Hier eine vernünftige Position einzunehmen, vor allem aber nichts zu versprechen, was wir nicht einhalten können, wird schwierig sein.

Ich komme auf meinen Vorschlag zurück, Alternativen zu einem kurz- bis mittelfristigen Beitritt der Türkei u überlegen, wie ich sie in meinem aktuellen Buch „Tour d´Europe“ skizziert habe. Es wird allerdings nicht einfach sein, die Türkei von der Sinnhaftigkeit und Ehrlichkeit derartiger Überlegungen zu überzeugen!
Skopje, 16.9.2002