Mehr Fragen als Antworten
Es gibt positive Kräfte in der Türkei, die das Land nach Europa bringen wollen, es gibt aber auch viele Kräfte, die dieser Entwicklung entgegenstehen.
Wieder einmal verschlug es mich in die Türkei. Eine Delegation der Sozialdemokratischen Fraktion wollte erkunden, wie sich die Türkei nach dem Beschluß von Helsinki, durch den sie offiziell Kandidat geworden ist, verhält und auf den Weg nach Europa vorbereitet.
Tausende Jahre Geschichte
Ich nahm diesmal die Chance wahr, schon einen halben Tag früher – am Sonntag am frühen Nachmittag – nach Ankara zu kommen. Mit dem österreichischen Botschafter besuchte ich das Museum der anatolischen Kultur, ein überaus interessantes und spannendes Museum mit wertvollem Schmuck, Ziergegenständen, Statuen und Grabdenkmälern aus vielen, vielen tausenden Jahren der Geschichte Anatoliens. Viele Kulturen, viele Sprachen, viele Religionen kommen hier zum Ausdruck und es ist geradezu grotesk, wie heute in der Türkei immer wieder darauf beharrt wird, dass es nur Türken und keine Minderheiten gibt.
Aber vielleicht ist gerade diese bewegte Geschichte von immer wieder neuen Wellen von Zuwanderungen ein Grund dafür, daß man diese Einheitlichkeit des Staatsvolkes und der Nation betont und dass dieser Nationalismus von den unterschiedlichsten Gruppierungen so breit getragen wird – allerdings zum Leidwesen der verschiedenen Minderheiten, insbesondere der Kurden.
Am Abend gab es eine halb private Einladung der stellvertretenden Generalsekretärin der CHP, einer mehr oder weniger sozialdemokratischen Partei, die aber nicht zuletzt aufgrund der nach wie vor in der Türkei existierenden 10-Prozent-Grenze derzeit nicht im Parlament vertreten ist. Es war nett, wieder in diesem Haus mit Freunden und Bekannten zusammenzutreffen. Anlaß war übrigens der Abschied der Nummer Zwei an der griechischen Botschaft. An diesem Abend hat sich wieder gezeigt, wie nahe sich Griechen und Türken eigentlich sind und wie grotesk die Spannungen gerade zwischen diesen beiden Ländern sind.
Der erste Höhepunkt
Am nächsten Morgen, nachdem auch die übrigen Mitglieder unserer Delegation spätabends bzw. frühmorgens angekommen waren, nahmen wir die verschiedenen Kontakte, Gespräche und Besuche auf. Höhepunkt war sicher das Gespräch mit dem türkischen Premierminister Ecevit.
Ecevit, dem oft schon eine deutlich bemerkbare Gebrechlichkeit nachgesagt wurde, erschien zwar etwas zerbrechlich, aber durchaus bei voller Intelligenz, Auffassungsgabe und Entscheidungsfähigkeit zu sein. Er schilderte uns ein Paket von Maßnahmen, welche die Türkei jetzt vorhat, umzusetzen. Allerdings sind schon viele Jahre ins Land gezogen, seit zum ersten Mal über diese Vorhaben gesprochen wurde.
Wir sprachen auch über die politischen Gefangenen. Mein Kollege Pierre Schori, ehemaliger stellvertretender Außenminister Schwedens und Mitarbeiter von Olof Palme, hatte vor vielen Jahren, als Ecevit Gefangener nach dem Militärputsch gewesen war, geholfen, seine Freiheit wieder zu erlangen und dann letztlich auch seine politische Karriere mitaufzubauen. Die Sacharowpreisträgerin, Leila Zana, sitzt nun schon seit vielen Jahren im Gefängnis, und Pierre Schori intervenierte für sie. Ecevit meinte, sie könnte schon längst frei sein, würde sie sich bereit erklären, aus gesundheitlichen Gründen das Gefängnis zu verlassen. Aus seinen Worten klang ein gewisses Verständnis dafür, daß sie diesen Weg nicht gehen will.
Grotesken
Ich meinte daraufhin, man könnte doch wenigstens für Akin Birdal, dem jetzt die Fortsetzung seiner Gefängnisstrafe droht, die gesundheitlichen Risiken anerkennen, um ihm das Gefängnis zu ersparen. Auch hier meinte Ecevit, dass er und der Justizminister ein gewisses Verständnis für diesen Wunsch hätten. Aber leider – oder Gott sei Dank – ist Akin Birdal in einer guten gesundheitlichen Verfassung, und daher könne er nichts für ihn tun, außer dafür zu sorgen, dass er ein möglichst komfortables Gefängnis zur Verfügung gestellt bekommt. Das war nicht zynisch, sondern sehr ernsthaft gemeint und hat gezeigt, wie grotesk die Situation in der Türkei ist.
Das und viele andere Reaktionen der Vergangenheit und auch während unseres Besuches hat für mich ziemlich deutlich gemacht, daß es positive Kräfte in diesem Land gibt, die die Türkei nach Europa bringen wollen, daß es aber auch viele Kräfte gibt, die dieser Entwicklung entgegenstehen, die geradezu negative Reaktionen in Europa provozieren, um eine Demokratisierung und eine wirkliche Öffnung des Landes im wirtschaftlichen, kulturellen und geistigen Bereich, in den Beziehungen zu Griechenland und auch in der Frage Zyperns zu verhindern.
Am Rande der Verzweiflung
Am Nachmittag sahen wir Akin Birdal und viele andere Vertreter von Menschrechtsorganisationen. Akin Birdal hat wie immer einen sehr gemäßigten Standpunkt vertreten. Er hat von einer anderen, einer neuen Türkei gesprochen, die sich in den letzten Monaten, insbesondere nach Helsinki, herausgebildet hat. Und dennoch sollte er am nächsten Tag verhaftet und wieder ins Gefängnis gebracht werden. Es war und ist einfach zum Verzweifeln.
Sicher wurde uns gestern in Ankara ein offizielles Dokument der Regierung überreicht, in dem erstmals schriftlich und detailliert jene Änderungen festgehalten sind, die das Land in Richtung Europa plant, um europareif zu werden. Aber das steht leider in völligem Widerspruch zu dem, was auch immer wieder täglich in der Türkei passiert. Und vor allem zu der Tatsache, daß ein so moderater, ein so human eingestellter Mann wie Akin Birdal, neuerlich ins Gefängnis gehen muß, wo er sicher nicht jene Behandlung und Therapie erfahren wird, die er braucht – insbesondere nach dem schweren Attentat, das ihn lebensgefährlich verletzt hat.
Die Mütter der Märtyrer
In Istanbul selbst haben wir dann weitere Gespräche geführt, ein sehr berührendes davon mit den Müttern kurdischer Gefangener. Sie haben sehr emotional für den Frieden, für die Verständigung, für die Überwindung der Spaltung appelliert. Und sie haben an die sogenannten Mütter der Märtyrer, also der gefallenen Soldaten, appelliert, um mit ihnen gemeinsam eine andere, eine friedliche, ein Türkei ohne Bürgerkrieg aufzubauen. Sicher, manche von ihnen verherrlichten Öcalan. Aber nicht Öcalan, den Krieger, sondern jenen Öcalan, der die kurdische Identität zum Ausdruck gebracht hat. Ihr Wille zur Verständigung war überzeugend.
Die Mütter der gefallenen Soldaten waren allerdings gekränkt, dass wir nicht zu ihnen kamen, sondern sie ins schwedische Konsulat gebeten haben. Aber unsere zeitlichen Verpflichtungen haben das erzwungen. Sie kamen daher nicht. Allerdings kamen Vertreter anderer Organisationen der Familien der Märtyrer zu unserem Gespräch. Sie wollten daraus aber ein bißchen eine Show machen und haben die Anwesenheit vieler Fernsehkameras verlangt.
Reden und zuhören
Wie bei allen anderen Gesprächen bestanden wir allerdings darauf, daß die Fernsehkameras zwar beim Beginn bei ersten Statements und nach dem Gespräch dabei sein können, das Gespräch als solches aber ohne Medien geführt wird. Das Gespräch war schwieriger als jenes mit den Müttern der Kurden, allerdings anerkannten die Vertreter der Familien der gefallenen Soldaten, dass das erste Mal eine Delegation aus der EU auch mit ihnen spricht, was von einigen Botschaftern bei einem Briefing in Ankara sogar kritisiert worden ist.
Ich verteidigte diesen Beschluß: Wir reden mit allen, die mit uns reden wollen, um Brücken zu schlagen. Auch wenn vielleicht manche dunkle Motive hinter den sogenannten Müttern und Familien der Märtyrer stehen mögen, so haben sie doch ein Recht darauf, gehört zu werden und ein Recht darauf, von uns zu hören, daß wir grundsätzlich gegen die Todesstrafe sind – ob bei Öcalan oder jemanden anderen, ob in der Türkei, in den USA oder in China. Diesen grundsätzlichen humanistischen Anspruch wollten wir allen gegenüber vertreten, genauso wie den Standpunkt, dass wir Respekt auch für die Minderheiten verlangen, aber dass wir genauso Respekt haben für die Integrität der Türkei als Ganzes und dass wir alles unternehmen, was wir können, um die Konflikte innerhalb der Türkei friedlich und ohne Kriege und Gewalt zu überwinden.
Viele unbeantwortete Fragen
Die Gespräche in der Türkei haben genauso wie bei den letzten Malen ein widersprüchliches Bild ergeben. Fortschritte auf der einen Seite, wiederholtes Verletzen der Prinzipien der Menschenrechte und der Demokratie auf der anderen Seite. Das macht es auch schwierig, eine Gesamtbeurteilung zu geben.
Überwiegen die Fortschritte die wiederholte Verletzung der europäischen Werte und Normen? Gibt es nicht nur Fortschritte im Denken, sondern auch im Handeln? Sind die ohnedies geringen Fortschritte auf eine Elite konzentriert, während sich das alltägliche Leben im politischen Bereich, in der Justiz, bei der Polizei nach den immer gleichen, oft inhumanen Regeln abspielt?
Mehr Fragen als Antworten sind das Resultat eines jeden Türkeibesuches. Und dennoch hört man von vielen, von den Vertretern der Menschenrechtsorganisationen, aber auch von vielen Journalisten den Satz: Kommen Sie wieder, Sie müssen öfters kommen, wir brauchen Ihre Anwesenheit.
Wiedersehen mit einem wahren Humanisten
Am Abend hatte ich nun zum zweiten Mal die Gelegenheit, Sarik Tara zu treffen, jenen großen Bauunternehmer und Mäzen, den ich bei meinem vorletzten Besuch in der Türkei kennengelernt hatte.
Tara ist ein Mann, der mich ob seiner politischen Weitsicht, seiner vielfältigen politischen, wirtschaftlichen, aber auch menschlichen Kontakte und seines humanistischen Engagements beeindruckt hat. Ich möchte nicht und kann auch keine Gesamtbeurteilung seiner Person geben und weiß auch nicht, was hinter mancher Fassade steckt. Aber ein Treffen mit ihm ist mehr als spannend und interessant.
Sarik Tara lud mich in das Restaurant seines Sport- und Schulzentrums ein und ich hatte den Eindruck, daß es nur für uns beide geöffnet worden war. Wir sprachen über Rußland, über den Balkan und natürlich auch über die Türkei. Und wir sprachen über jene Liste der „Personae non gratae“, die vor kurzem veröffentlicht wurde, also jener Personen, denen eine Einreise in die Türkei verboten werden soll.
Wegfahren, um wiederzukommen
Wir waren natürlich beide über die Unsinnigkeit einer solchen Liste entsetzt. Sarik Tara zeigte mir noch einen Brief des griechischen orthodoxen Erzbischofs, in dem dieser seine durchaus positive Einstellung zur Kandidatur der Türkei dokumentierte. Und eben jener Erzbischof ist einer von vielen, die auf die Liste gesetzt wurden – vielleicht war es auch Taras Intervention, dass er wieder von der Liste genommen wurde. Sarik Tara ist ein unbedingter und glühender Anhänger eines Ausgleichs zwischen Griechen und Türken und viel seine Engagements gilt der gemeinsamen Zukunft dieser beiden Länder.
Ich verließ Sarik Tara spätabends und kehrte zurück in das „Cyragan Hotel“, das reizvoll am Wasser gelegen ist, das ich aber nur für eine kurze Nacht benützen kann, ohne meinen Aufenthalt richtig genießen zu können, denn morgen geht es zurück nach Brüssel. Es ist Miniplenarsitzung, es gibt Besprechungen und Treffen, und eine Einladung von Ewald Nowotny, unserem neuen Vizepräsidenten der Europäischen Investitionsbank, und so werde ich mir überlegen müssen, wann ich wieder komme, um den Wunsch vieler, nicht zuletzt auch der Professoren und Studenten der Istanbuler Universität, die wir getroffen haben, zu entsprechen und den Dialog fortzusetzen.
Istanbul, 28.3.2000