Mission impossible

Die Hungerstreiks in den türkischen Gefängnissen haben schon zu mindestens 20 Toten geführt, und die Hungerstreikenden sind entschlossen, ihre Streiks fortzusetzen. 
Spät aber doch bin ich in Ankara gelandet – mit mehr als 12 Stunden Verzögerung! Ich bin wieder einmal Gast in der österreichischen Botschaft.
Heute ist ein schöner, warmer Tag, der eine herrliche Stimmung verbreitet. Und trotzdem gibt es wieder einmal große Probleme in diesem Land. Die Hungerstreiks in den türkischen Gefängnissen haben schon zu mindestens 20 Toten geführt, und die Hungerstreikenden sind entschlossen, ihre Streiks fortzusetzen. Eine von der Regierung angebotene Änderung jener Bestimmung, die die Situation in den Gefängnissen regelt – der sogenannte Artikel 16 des Anti-Terror-Gesetzes – geht nur sehr geringfügig auf die Forderungen ein. Hinzu kommt, dass die Bestimmung hinsichtlich der Isolationshaft bzw. der Haft in kleinen Gruppen bisher gar nicht angewendet worden ist.

Hungern gegen die F-Typen

Der Grund, warum einige politisch weit links stehende Organisationen mit einigen Gefangenen die aktuellen Hungerstreiks organisiert haben, ist die Errichtung neuer sogenannter F-Typen. Diese Haftanstalten mit kleineren Gefängnisräumen, die in jedem anderen Land willkommen wären, weil sie den Gefangenen zumindest eine gewisse Individualität und Intimität ermöglichen, sind in der Türkei mit der Befürchtung von verstärkter Isolation und Folterung verbunden.

Mir selbst und dem Europäischen Parlament generell geht es nicht darum, diese „linken“, zum teil terroristischen Organisationen zu unterstützen. Wir wollen vielmehr verhindern, dass durch die Hungerstreiks und die dabei sterbenden Gefangenen ein weiterer Schaden in der Türkei selbst, aber auch im Verhältnis zwischen der Türkei und der Europäischen Union entsteht. Man darf nicht vergessen, dass die meisten dieser Häftlinge aufgrund ihrer PKK-Aktivitäten inhaftiert worden sind. Aber von diesen etwa 6 000 politischen Gefangenen sind nur etwa 100 tatsächlich aufgrund von Terrorakten, Mordanschlägen, etc. verurteilt worden. Der Großteil ist inhaftiert, weil ihnen eine Zugehörigkeit zu den Organisationen oder eine Unterstützung durch Artikel in Zeitungen, durch Aufrufe, durch das Organisieren von Demonstrationen etc. vorgeworfen wird.

Entscheidungsstillstand

Das macht die Sache besonders prekär. Es geht schliesslich nicht darum, in wie weit durch die Gefängnisse und die Gefängnisreform die Situation jener verschlechtert wird, die selber durch ihre Aktivitäten unmenschliche Taten gesetzt haben, sondern es geht in erster Linie um diejenigen, die politisch irregeleitet, aber ohne selbst entsprechende Taten zu verüben, gegen das Gesetz in der Türkei verstoßen haben und jetzt inhaftiert sind.
Leider habe ich den Termin mit Justizminister Sami Türk, den ich schon zwei Mal zu ausführlichen Gesprächen getroffen habe, aufgrund meiner verspäteten Ankunft versäumt, aber es dürfte sich keine besondere Entwicklungen gegeben haben.
Daniel Cohn Bendit, der schon seit gestern hier ist und davor auch in Istanbul war, hat jedenfalls nicht sehr viel Neues berichten können.

Maulkorbsperre

Soeben hatten wir auch ein Gespräch mit einem türkischen Abgeordneten, den ich schon bei meinem letzten Aufenthalt getroffen habe. Er selbst hat Untersuchungen über die Gefängnissituation angestellt und ist in verschiedene Gespräche involviert gewesen, um die Situation zu verbessern. Als Dank dafür wird der Abgeordnete Bekaroglu jetzt von der Staatsanwaltschaft in Istanbul wegen Kontakten zu und Unterstützung von terroristischen Organisationen sowie der Unterzeichnung eines Aufrufes zur Meinungsfreiheit angeklagt. Alleine das ist schon sehr bedenklich.
Besagter Abgeordneter war keineswegs optimistischer als bei unserem letzten Gespräch. Er hat darauf hingewiesen, dass im Artikel 16 in der abgeänderten Form vorgeschlagen worden ist, in den Gefängnissen doch mehr Gemeinschaftsräumen zu schaffen. Ausserdem wurden von verschiedenen Abgeordneten Abänderungsanträge eingebracht, um auch einen Dialog zwischen den Gefangenen zu ermöglichen. Diese Abänderungsanträge wurden allerdings abgelehnt.

Ausweglose Situation

Mein Gesprächspartner hat darauf hingewiesen, dass geplant ist, eine Beobachter- bzw. Beschwerdekommission einzusetzen. Diese soll aber fast ausschließlich aus früheren Beamten, Richtern etc. bestehen, Vertreter der Ärztekammer oder der Menschenrechtsorganisationen sind nicht vorgesehen. Somit ist auch von dieser Kommission kaum etwas zu erwarten.
In der Tat ist es so, dass die Regierung insgesamt nicht wirklich bereit ist, mit den Gefangenen oder deren Vertretern ins Gespräch zu kommen. Gleichzeitig sind auch die Gefangen selbst bzw. jene Organisationen, die hinter dem Streik der Gefangenen stehen, zu wenig beweglich und kompromissbereit. Die Situation scheint nahezu ausweglos und ich habe kaum Hoffnung, dass wir in der Türkei etwas erreichen werden.

Warten auf Godot?

Trotzdem war es wichtig, dass wir sehr spontan in die Türkei gefahren sind und unser Möglichstes versucht haben. Immerhin stehen Menschenleben auf dem Spiel. Und es steht der Ruf eines Beitrittskandidaten, für den ich mich eingesetzt habe, auf dem Spiel. Immer mehr bestätigt sich allerdings, dass die Bereitschaft der Türkei, etwas zu ändern, sehr gering ist. Das kommt nicht ganz überraschend für mich, aber man würde sich dennoch von Zeit zu Zeit eine positive Überraschung wünschen.
Mag sein, dass es im wirtschaftlichen Bereich besser geht. Die Ernennung von Kemal Dervis zum Staatsminister für Wirtschaft ist sicher ein sehr positiver Schritt. Er versteht sehr viel von Wirtschaft und weiß auch, dass es mehr braucht, als nur wirtschaftliche Reformen. In einem Interview in der „Zeit“ von letzter Woche meinte er: „Das Volk will die Reformen, die Jugend will sie, und wenn es endlich wieder aufwärts geht, kann alles sehr schnell gehen.“
Das allerdings bezweifle ich. Das Wort „schnell“ hat im türkischen Zusammenhang eine völlig andere Bedeutung als im europäischen Zusammenhang… Wirtschaftliche Reformen sind jedenfalls absolut notwendig, genauso wie politische Reformen. Dass hier ein Zusammenhang gegeben ist, zeigt für mich nicht zuletzt die Erfahrung in den verschiedenen kommunistischen Ländern. Wenn die Türkei eine solche Parallelität in den Reformschritten nicht als notwendig anerkennt, werden die Reformen unweigerlich ins Leere führen und nur sehr bedingt von Erfolg gekrönt sein.  
Ankara, 1.5.2001