Mit einer umfassenden Strategie zum wirklichen Frieden

Der Wiederaufbau des Libanon geht voran. Doch die Zukunft der Region wird in Damaskus und Tel Aviv entschieden.
Mein Besuch in Syrien und im Libanon an der Spitze einer Parlamentarierdelegation geht etwas vorzeitig zu Ende.
Am Montag hat der vom Europäischen Parlament eingesetzte Weisenrat seinen Bericht über die Verwaltung und vor allem die finanzielle Gebarung der EU-Kommission veröffentlicht. In der Folge ist die gesamte Kommission zurückgetreten. Ich wollte mich mit den Kolleginnen und Kollegen aus meiner Delegation beraten und unseren Standpunkt in der Schlußdiskussion der SPE-Fraktion über die weitere Vorgangsweise einbringen. Deshalb habe ich mich entschlossen, den Sabena-Flug, der am Mittwoch um vier Uhr morgens – also in drei Stunden – Beirut in Richtung Brüssel verläßt, zu buchen.

Freitag abends kamen wir in Damaskus an, einer Stadt, die ich bisher nur einmal besucht habe, von der ich aber angenehm überrascht war.
Der Samstag galt Besuchen von Einrichtungen, die die EU bereits gefördert hat bzw. wo eine Förderung überlegt wird. Zuerst ging es in ein „Gesundheitsdorf“. Ausgehend von einem umfassenden Gesundheitsbegriff der Weltgesundheitsorganisation wird dort versucht, durch entsprechende sorgfältig geplante, die Bevölkerung miteinbeziehende Projekte eine ausgleichende Entwicklung zu erreichen: wirtschaftlich, sozial, gesundheitlich und schulisch. Das Engagement der Bevölkerung, vor allem der Frauen, die zu 50 Prozent an den Aktivitäten beteiligt werden, war eindrucksvoll.
Ebenso überzeugend war das Engagement der Ärzte und Schwestern in einem Spital, das vor allem den palästinensischen Flüchtlingen am Rande von Damaskus dient. Es war überdies sehr sauber und gepflegt. Und mir schien die Unterstützung durch die EU, durch die Lieferung von medizinischen Geräten und Instrumenten, durchaus gerechtfertigt. Im übrigen macht der Gesundheitsminister, ein auch international bekannter Augenarzt, mit dem ich beim Abendempfang sprechen konnte, einen äußerst vertrauenswürdigen Eindruck.

Der nächste Tag stand im Zeichen eines Gespräches mit Parlamentariern sowie dem Parlamentspräsidenten, der als einer der politisch stärksten Männer Syriens gilt. Ich hatte bereits bei meinem letzten Besuch die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Wir machten unsere Positionen eindeutig klar: Israel muß sich von den besetzten Gebieten zurückziehen und die Gespräche bzw. Verhandlungen mit Syrien sollten dort anfangen, wo sie unterbrochen worden sind. Dabei sollte der Rückzug der israelischen Truppen aus dem Libanon und aus Syrien gleichzeitig erfolgen.
Dieses Beharren auf der Parallelität der beiden Rückzüge scheint mir durchaus verständlich. Der einseitige Rückzug bloß aus dem Libanon, weil die Israelis dort viele junge Soldaten verlieren, würde den Syrern jeden Druck auf den Rückzug aus den Golanhöhen nehmen. Hier gibt es eine ruhige „Grenze“ zwischen Israel und Syrien, die Israelis verlieren keine Soldaten, sie beziehen viel Wasser aus den Golanhöhen und haben daher keine Veranlassung, sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen.
Aus meiner Sicht muß Europa den Standpunkt Syriens und des Libanon voll unterstützen, denn nur eine umfassende Friedensregelung schafft wirklich Frieden – und ich bin überzeugt, daß Syrien und der Libanon Frieden wollen. Sie sind militärisch schwach und haben wirtschaftliche Probleme, für Syrien fiel überdies die externe Stützung durch die Sowjetunion weg, so daß es unabhängig von der inneren Überzeugung zum Frieden gezwungen ist.
Gemeinsam drückten unsere Gesprächspartner und wir die Hoffnung aus, daß die israelischen Wahlen eine friedensorientierte Koalition in die Regierung bringen werden. Aber bei der Fülle der israelischen Parteien und Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten ist das heute schwer abzuschätzen.

Bei unserem darauf folgenden Treffen mit den Wirtschaftsministern unter der Leitung des stellvertretenden Ministerpräsidenten ging es vor allem um die Verhandlungen eines Assoziationsabkommens zwischen der EU und Syrien und über die internen Reformen der syrischen Wirtschaft, insbesondere des Finanzsystems.
Solche Reformen sind natürlich notwendig, um sich auf engere Verbindungen mit der europäischen Wirtschaft vorzubereiten. Ob die eher auf Planwirtschaft orientierten und in Moskau ausgebildeten Wirtschaftsexperten genügend Wissen und Kraft aufbringen, um die notwendigen Reformen anzugehen, wird man sehen. Immerhin hat Präsident Assad anläßlich seiner Wiederwahl die Notwendigkeit von Reformen unterstrichen. Und was Assad sagt, das hat Gültigkeit.
Dabei ist eine vorsichtige Strategie, die auch die sozialen Aspekte in den Vordergrund rückt, durchaus von Vorteil. Blindes Vertrauen auf die Marktkräfte, übereilte Privatisierungen ohne den Aufbau von Regulierungsinstanzen für die Finanzmärkte, können zu unbewältigbaren Sozialproblemen führen: von Rußland bis Algerien, von Asien bis zu Lateinamerika gibt es genügend Beispiele dafür.
Das richtige Tempo für die Reformen zu finden ist eine Aufgabe, die Syrien gemeinsam mit der EU gestalten sollte. Und diese EU sollte eben nicht nur auf Privatisierung und Liberalisierung setzen, sondern auch die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Vermeidung von sozialen Brücken zum Ziel haben.

Bei Außenminister Al Shara und beim syrischen Vizepräsidenten Khaddam wurde es naturgemäß wieder politischer. Beide kritisierten den Beschluß des Europäischen Parlaments, dem Abkommen über wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Israel zuzustimmen.
Da gerade ich selbst namens meiner Fraktion für diesen Beschluß im Plenum des Europaparlaments gesprochen habe (siehe dazu meine Rede im Anhang dieser „Briefe aus Europa“), fühlte ich mich angesprochen und zu einer Erklärung aufgefordert. Gerade weil wir von israelischen Politikern immer wieder als anti-israelisch kritisiert worden sind und weil wir mit den friedliebenden Kräften in Israel im Gespräch bleiben wollten, war dieser Beschluß richtig. Unsere Dialogbasis blieb dadurch gewahrt, und um so entschiedener konnten wir unsere friedenspolitische Mission gerade im Interesse der Palästinenser und der besetzten Gebiete im Libanon und in Syrien wahrnehmen.
Wenn die arabische Bevölkerung zu ihrem Recht kommt, dann ist das die beste Friedensgarantie für Israel. Wobei Syrien und der Libanon sicher bereit sind, nach und parallel zum Rückzug Israels zusätzliche, spezifische Garantien zu geben.

Am nächsten Tag ging es frühmorgens zu den Golanhöhen, um die UNO-Truppen zu besuchen. Empfangen wurden wir im Hauptquartier von einem österreichischen Offizier, der uns nach einem Briefing durch einen dänischen Soldaten zu einem Stützpunkt der Österreicher führte – wobei die Österreicher bereits etliche Slowaken in ihren Kontingenten haben, die nach entsprechender Vorbereitung den Stützpunkt übernehmen werden.
Die UNO-Station befindet sich genau an der Grenze zwischen zwei drusischen Dörfern, eines auf der durch Israelis besetzten Seite, das andere auf der syrischen Seite. Es handelt sich um sogenannte „shouting villages“, da die Verständigung zwischen den oftmals Verwandten dieser Dörfer nur durch das Schreien (vielfach mittels Megaphonen) über die Grenze hinweg erfolgen kann – andere, direktere Formen der Kommunikation werden von den Israelis untersagt. Sogar Hochzeiten werden auf diesem Weg vereinbart. Die Hochzeitsfeier selbst ist dann der einzige kurze Augenblick eines gemeinsamen Zusammentreffens, bevor schließlich die Braut dem Wohnsitz des Bräutigams folgt, getrennt vom Rest ihrer Familie.
Es ist erschütternd, diese Orte der Trennung und Besetzung zu sehen, aber erfreulich sind die Präsenz und die Aktivitäten der österreichischen Soldaten. Ich habe einen guten Eindruck von ihnen mitgenommen.

Die Fahrt mit dem Auto in den Libanon war allen Verheißungen zum Trotz durchaus angenehm – wenn man von einer kurzen Strecke auf der Paßhöhe mit extrem starkem Nebel absieht.
Beirut ist natürlich ganz anders als Damaskus. Auf Hügeln gelegen, die zum Meer hin abfallen, lebendiger und bunter, mit unvergleichbar mehr Verkehr – und nach wie vor mit vielen zerbombten Häusern.
Gegenüber meinem letzten Besuch vor ca. drei Jahren allerdings hat sich doch einiges verändert. Vieles wurde erneuert und neu gebaut. Und dabei wurde versucht, an das Beirut der Vorbürgerkriegszeit anzuschließen. Baulich ist dabei vieles gelungen. Ob das neue – alte – Zentrum die gleiche Vitalität erlangen kann, ist allerdings die große Frage, die derzeit noch nicht beantwortet werden kann.

Höhepunkte unseres Besuches im Libanon waren die Gespräche mit dem Ministerpräsidenten und dem neuen dynamischen Präsidenten des Landes.
Im Libanon herrscht ja eine prekäre Aufteilung der Macht auf Christen und Islame, wobei auf beide Seiten noch verschiedene Gruppierungen und unterschiedliche Nationen entfallen. Allerdings versucht Präsident Lahoud zunehmend ein Libanon-Bewußtsein zu schaffen und die religiös bedingte Spaltung und Machtaufteilung zu überwinden. Dennoch: Als ich ihm zu Beginn unseres Gespräches zum Sieg der – christlichen – Basketballmannschaft Sagesse über ihre ägyptischen Gegner gratulierte, strahlte sein ganzes Gesicht. Dieser Sieg wurde in der Nacht dann auch ausgiebig gefeiert, allerdings ausschließlich im christlichen Teil der Stadt.
Das Zusammenleben verschiedener Religionen war auch Thema unserer Gespräche am Abend. Michel Eddé, ein christlicher – maronitischer – Advokat und ehemaliger Gesundheitsminister, hatte uns zum Dinner eingeladen. Er ist einer jenen weisen Männer, die die Erfahrungen eines langen und wechselvollen Lebens klug gemacht haben. Für ihn war der Libanon trotz des Bürgerkrieges ein Hort der Toleranz. Nur im Libanon tolerieren die Islame, daß Kinder aus gemischten Ehen christlich erzogen werden. Hier fügt sich auch die vom Iran unterstütze Hisbollah, die gegen die israelische Besatzung im Süden kämpft, in ein tolerantes, politisches und gesellschaftliches System ein.

Es ist erstaunlich, wie der Libanon nur wenige Jahre nach „dem Krieg“ in ein neues Gleichgewicht gefunden hat. Nicht nur der Aufbau des Zentrums ging zügig voran und kann sich bereits sehen lassen. Auch die psychische Befindlichkeit, jedenfalls der führenden Kräfte, strahlt Optimismus aus – sie verzehren sich nicht in Haß und Rache. Die Lage hier ist so ganz anders als am Balkan. Dort lastet noch immer die lang zurückliegende und die unmittelbar überwundene Geschichte schwer auf der Seele der Menschen.

Mag sein, daß – so grotesk das klingt – die israelische Besatzung im Süden und der dominante Einfluß der Syrer auf die politischen Entscheidungen im Libanon die Menschen im Lande zur Einigkeit zwingt. So war selbst einer der Hauptbeteiligten im Bürgerkrieg, der Drusenführer Walid Djumblatt, gedämpft optimistisch.
Djumblatt sitzt heute im Parlament, und die heftigen Attacken auf den neuen Präsidenten hat er nach Gesprächen in Syrien weitgehend abgeschwächt bzw. zurückgenommen. „Früher einmal war ich Minister für nationale Einheit und habe gleichzeitig auf unseren Präsidenten geschossen“, meinte er unter heftigem Lachen. Heute sei er an einem Aufbau eines sozial orientierten Libanons interessiert und hoffe, daß Europa auch nach dem Abgang von Oskar Lafontaine eine solche Haltung zu schätzen wisse.
Beirut, 17. März 1999