Mit offenen Karten spielen

Wir müssen aussondieren, welche konkreten Aktivitäten und Maßnahmen wir in dieser Region setzen und welche Vertragsverhältnisse wir herstellen, um die Länder in Richtung mehr Demokratie zu führen.
Gestern sind wir von Almaty nach Astana, der neuen, mehr oder weniger künstlich geschaffenen Hauptstadt Kasachstans gereist.

Zwischen Moderne und Postmoderne

Astana wurde quasi aus dem Sumpf gebaut, noch dazu in einem nicht besonders angenehmen Klima: Im Extremfall gibt es zwischen Sommer und Winter 100 Grad Unterschied – im Winter bis zu -60 Grad, im Sommer bis zu +40 Grad. Das hat vor allem bei schlechter Bauqualität seine Konsequenzen. Erste Schäden sind bereits sichtbar, obwohl sich die Stadt erst im Aufbau befindet und nur zum Teil fertig gestellt ist.
Einzelne Gebäude bzw. einzelne Teile der Stadt sind sehr interessant. Es gibt beispielsweise eine Pyramide für den interkulturellen und interreligiösen Dialog, die der bekannte britische Architekt Norman Foster geschaffen hat. Andere Gebäude wurden zum Teil von ähnlich qualifizierten Architekten entworfen. Insgesamt fehlt der Stadt allerdings die zweifellos notwendige überlegte Planung. Aber Astana ist noch nicht fertig, und deshalb ist es schwierig abzusehen, wie die Mischung zwischen moderner und postmoderner Architektur sowie neugestalteten Plattenbauten, die noch aus sowjetischer Zeit stammen, letztendlich aussehen wird. Es ist jedenfalls spannend, sich in dieser Stadt zu bewegen und sie auch vom städteplanerischen Gesichtspunkt aus zu betrachten.

Fragwürdige Verfassung

Das erste Gespräch, das wir in Astana geführt haben, war jenes mit dem Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs, der uns die neue Verfassung erläutert hat. Diese ist ambivalent. Sie stärkt einerseits die Rechte des Parlaments, und schafft andererseits für Präsident Nasarbajew die Möglichkeit, immer wieder gewählt zu werden. Er ist zwar nicht automatisch Präsident auf Lebenszeit, hat aber das Recht und die Möglichkeit, sich immer wieder der Neuwahl zu stellen. Die normale zweijährige Amtsperiode wurde abgeschafft. Wir haben mit dem stellvertretenden Präsidenten der Wahlkommission auch über die Wahlmodalitäten gesprochen.
Insgesamt hat sich das Bild ergeben, dass Schritte der Demokratisierung erfolgt sind, die allerdings in hohem Maße davon abhängen, inwieweit die Registrierung der Partei sowie der Zugang zu den Medien tatsächlich offen und fair erfolgen – was jetzt nicht der Fall ist. Es geht um die Praxis und um die Implementierung und nicht um das, was auf dem Papier steht. Das ist überall so, aber gerade in Ländern, die weniger von demokratischem als vielmehr von autokratischem Bewusstsein geprägt sind, gilt das umso mehr.

Grenzenlose Religionsfreiheit

Kasachstan ist von der Übervaterfigur Nasarbajew geprägt. Zwar bekommt man den Präsidenten nur äußerst selten auf Plakaten zu sehen – in Almaty habe ich ihn überhaupt nicht affichiert gesehen, in Astana nur zwei oder drei Mal. Dennoch ist er unzweifelhaft jene Figur, die im Hintergrund alle Fäden zieht und die Stabilität garantiert – ebenso wie den interkulturellen und interethnischen Dialog, der für Nasarbajew eine ganz zentrale Rolle spielt. Das Land ist durch sehr unterschiedliche Bevölkerungsreligionen strukturiert und gekennzeichnet. Etwa 50% der Bevölkerung sind Muslime, 30% Russisch-Orthodoxe und es gibt verschiedene andere Religionsgruppen. Kasachstan zeichnet sich durch eine große Religionsfreiheit und eine extrem tolerante muslimische Religion aus.
Als wir heute zufällig einige Minuten Zeit hatten, die Moschee zu betrachten, haben wir viele Menschen gesehen, die zum Freitagsgebet gegangen sind. Kaum eine der Frauen trug dabei ein Kopftuch. Stattdessen sahen wir unzählige sportliche, moderne junge Frauen mit kurzen Röcken und offenen Blusen. Keine Rede also von engstirniger und in sich gekehrter Religiosität, im Gegenteil: Wir bekamen eine sehr offene und moderne Einstellung zu Gesicht, zumindest nach außen hin. All das muss der Struktur des Landes und der Bevölkerung zweifellos angerechnet werden – auch wenn diese Tendenzen von Nasarbajew entsprechend gefördert und unterstützt werden.

Demokratie auf dem Papier ist zu wenig

Die gestrigen Gespräche mit der Zivilbevölkerung und einer früheren Nationalabgeordneten, die jetzt Mitglied im Stadtrat von Astana ist, haben, wie schon zuvor in Almaty, erneut die kritische Seite beleuchtet. Es wurde vor allem die Forderung gestellt, dass der OSCE-Vorsitz nur dann an Kasachstan ergehen sollte, wenn es mehrere zusätzliche Schritte der Demokratisierung gibt. Dem kann ich nur zustimmen. Für mich ist entscheidend, ob die neue Verfassung tatsächlich umgesetzt wird oder ob es sie nur am Papier gibt. Diese Überzeugung habe ich auch immer wieder gegenüber den ParlamentarierInnen zum Ausdruck gebracht.
Heute gab es vor allem Gespräche mit den MinisterInnen, allen voran mit dem stellvertretenden Außenminister, dem stellvertretenden Energieminister und der stellvertretenden Handelsministerin, die auch Chefverhandlerin für die WTO ist. Alle drei MinisterInnen zeigten sich als hervorragende Fachexperten, waren versiert, offen und dialogorientiert. In europäischen Ländern findet man diese Qualitäten keinesfalls automatisch.

Erdölengpässe

Ein wichtiges Thema unserer Auseinandersetzungen war der Energiebereich. Die Einschätzung zu den Vereinbarungen zwischen Putin, Nasarbajew und dem neuen turkmenischen Präsidenten, der dem fast mittelalterlichen Diktator „Türkmenbaşy“ gefolgt ist, lautete etwa wie folgt: „Es stimmt, wir haben weitere Erdöllieferungen mit Russland vereinbart. Russland kauft das Erdöl von uns und verkauft es zu einem höheren Preis an die KonsumentInnen. Allerdings hat Russland im Gegenzug versprochen, sich am Ausbau der Erdölpipelines zu beteiligen.“
Das ist für Kasachstan deshalb wichtig, weil derzeit Transitengpässe bestehen. Das wurde uns auch in Gesprächen durch Erdölexperten der Firma Shell sowie einer kasachstanschen Energiefirma bestätigt. Die Möglichkeiten, Erdöl auf einem anderen Weg außer Land zu bringen, sind begrenzt. Es gibt zwar eine Pipeline in Richtung China. China ist allerdings derzeit noch nicht bereit, die entsprechenden Preise zu bezahlen. So haben wir auch in Moskau erfahren, dass China ursprünglich lediglich ein Zehntel des westeuropäischen Preises bezahlen wollte. Derzeit liegt die Bereitschaft bei einem Drittel – also immer noch deutlich unter dem Angebot von Westeuropa.

Wenige Möglichkeiten

Außerdem bestehen Erdölleitungen nach Russland. Hier gilt es jene Erdölleitungen auszuwählen, die nicht direkt dem Transport von russischem Erdöl dienen. Das russische Erdöl verfügt über eine schlechtere Qualität, bei einem entsprechenden Durchfluss durch diese Pipelines würde das einen negativen Effekt auf die Qualität des besseren Erdöls haben. Zu guter Letzt besteht die Möglichkeit, das Erdöl über die Kaspische See mit Schiffen zu verteilen und in der Folge in die neue Pipeline von Baku über Tiblisi nach Cehan in der Türkei einzuspeisen.
Diese Pipeline ist auf Druck der Amerikaner zustande gekommen und rechnet sich eigentlich erst jetzt aufgrund des hohen Erdölpreises. Die Variante über den Iran ist schon allein aufgrund der politischen Lage in diesem Land und seiner Isolation nur sehr schwer realisierbar – auch wenn es in geringem Ausmaß Lieferungen an den Iran gibt und der Iran im Gegenzug sein eigenes Erdöl in einer sogenannten Swap-Operation exportiert.

Kommt Nabucco?

Beim Erdgas ist die Situation noch schwieriger. Auch hier gibt es kaum einen Weg über den Iran. Und beim Weg über die Kaspische See müsste das Erdgas zunächst verflüssigt und erst danach wieder in Gasform umgesetzt werden, um schließlich über die Pipelines transportiert werden können, die erst gebaut werden müssten – wie beispielsweise die Nabucco-Pipeline, die von Aserbaidschan über Georgien, die Türkei, Bulgarien, Rumänien und Ungarn nach Wien kommen sollte.
Herangezogen werden kann auch das russische Netz Gasprom. Der Transport über Pipelines durch die Kaspische See ist vor allem aus umweltpolitischen Gründen extrem problematisch, aber auch deshalb, weil die Grenzverhältnisse ungeklärt sind und Streitigkeiten über den Grenzverlauf in der Kaspischen See bestehen. Und selbst der Transport über Schiffe auf der Kaspischen See ist schwierig. Das verflüssigte Erdgas benötigt Tanker mit einem wesentlich größeren Tiefgang, und genau das ist im seichten Wasser der Kaspischen See so gut wie unmöglich.

Keine Illussionen machen

Man kommt also nicht umhin: Es gibt Restriktionen. Das zeigt, dass Kasachstan einerseits in der günstigen Situation ist, das große Russland als Abnehmer zu haben, dass es aber andererseits genau auf diesen Abnehmer angewiesen ist, solange es nicht nach China zu entsprechenden Weltmarktpreisen liefern kann bzw. die Verbindungen zum gut zahlenden Westen aufgrund von Naturwidrigkeiten über die Kaspische See oder aufgrund der politischen Situation über den Iran nur sehr eingeschränkt möglich sind.
Das sollte man auch jenen ins Stammbuch schreiben, die meinen, wir sollten uns von Russland unabhängig machen. Ich trete für die Diversifizierung ein. Und ich kämpfe für das Nabucco-Projekt, bei dem die OMV eine führende Funktion hat. Aber wir dürfen uns keine Illusionen machen: Es handelt sich hier um kleine Beträge bzw. Mengen. Erst wenn der Iran politisch nicht mehr so isoliert ist wie derzeit und wenn er nicht von den USA in diese Isolation gebracht wird, wird es möglich sein, die Kaspische See verstärkt zu umgehen, den Iran durch Swap-Operationen miteinzubeziehen und zu den Energieressourcen selbst vorzudringen – in Kasachstan, aber insbesondere auch in Turkmenistan, das über große Gasreserven verfügt.

Verzwickte Situation

Die Situation ist also reichlich verzwickt. Und sie wird von Russland in vollem Maß ausgenützt – was man Russland auch gar nicht verdenken kann. Antirussische Slogans und Träume von einer völligen Unabhängigkeit von russischen Energiereserven sind angesichts dessen jedenfalls jeglicher Grundlage beraubt. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir auf eine klare Position in der Menschenrechts- und Demokratiefrage verzichten sollen. Wir müssen, wie es Kasparow und auch die Menschenrechtsorganisationen sowohl in Russland als auch in Kasachstan formuliert haben, die Energiegeschäfte betreiben. Aber wir sollten nicht nach außen posaunen, dass Russland eine ausgezeichnete und ausgereifte Demokratie ist – und genau in diesem Punkt gebe ich Kasparow unmissverständlich Recht.
Wir müssen die Menschenrechtsverletzungen, die begangen werden, anklagen. Und wir sollten insbesondere Kasachstan motivieren, weitere Schritte in Richtung Demokratisierung einzuleiten und den Geist der Verfassung umzusetzen. Aber bleiben wir auf dem Boden der Realität und versuchen wir, mit Russland ins Geschäft zu kommen und vernünftige pragmatische, aber doch gleichberechtigte wirtschaftliche- und Energieverhältnisse herzustellen, bei gleichzeitiger Verbesserung unserer Beziehungen zu den mittelasiatischen Ländern.

Parallele Strategien fahren

Ich möchte es noch einmal betonen: Es handelt sich bei diesen Ländern um keinen großartigen Demokratien. Kasachstan ist da gewissermaßen ein „Vorzeigeland“. All das verhindert natürlich, dass wir entsprechende Beziehungen intensiv und offensiv angehen. Wir müssen aussondieren, welche konkreten Aktivitäten und Maßnahmen wir setzen und welche Vertragsverhältnisse wir herstellen, um die Länder in Richtung mehr Demokratie zu führen. Und wir müssen uns dort Grenzen setzen, wo wir unseren eigenen Grundsätzen nicht mehr gerecht werden.
Dennoch, es gilt parallele Strategien zu fahren. Das scheint mir nach diesen Besuchen sowohl in Russland als auch in Kasachstan deutlicher denn je. Es gibt hier fähige und versierte Personen. Kasachstan besteht genauso wie Russland aus mehreren gesellschaftlichen Schichten – aus besonders demokratisch orientierten Menschen, aus technisch bzw. technologischen Experten, aus Personen, die versuchen, strategisch-taktisch mitzumischen und aus Personen, die die mafiösen Strukturen ausnützen und damit ihren eigenen MitbürgerInnen schaden.

Gemeinsame Außenpolitik wäre notwendig

Vor diesem Hintergrund eine vernünftige politische Linie zu finden, ist nicht einfach. Ich bin froh, dass diese Aufgabe im Allgemeinen von der Deutschen EU-Präsidentschaft ausgeübt wird. Aber ich wäre auch froh, wenn wir eine stärker gemeinsame werteorientierte, aber trotzdem pragmatische Außenpolitik hätten. Eine solche Außenpolitik würde aus meiner Sicht die wichtigsten wirtschaftlichen- und Energiebedürfnisse unserer Bevölkerung berücksichtigen und dennoch nicht auf Kritik an der Menschenrechtslage und der mangelnden Demokratie verzichten – in dem Bewusstsein, dass wir die bestehende Situation nicht von heute auf morgen verändern können.
Kasachstan wie auch Russland und andere Länder in der Region befinden sich erst am Anfang der Nationenbildung und stecken in einem anderen Stadium der Entwicklung. All das sollte offen und klar ausgesprochen werden. Wir wären gut beraten, gegenüber unseren Partnerländern Russland und Kasachstan genauso wie gegenüber unserer eigenen Bevölkerung mit offenen Karten zu spielen. Alles andere scheint mir wenig produktiv zu sein.

Astana, 1.6.2007