Miteinander statt Nebeneinander

Wir müssen darüber nachdenken, welche Regeln aufgestellt werden können, um Konflikte, Verängstigungen, Vorurteile, ein „sich nicht mehr bzw. noch nicht zu Hause fühlen“ zu vermeiden.
Ich selbst blieb in der britischen Hauptstadt, da ich am Montag das Europäische Parlament bei einem Treffen mit nationalen Parlamentariern vertreten sollte.
London hat sich in den letzten Jahren als Stadt wirtschaftlich hervorragend entwickelt. Das pulsierende Leben ist nicht zu übersehen. Und das in einer Stadt, die noch vor zehn, 15 Jahren von enormen Problemen gekennzeichnet war.

Kosmopolitische Weltstadt

In Zusammenhang mit den Attentaten vom Sommer ist die Frage des kosmopolitischen Charakters und der Zusammensetzung der Bevölkerung aus sehr unterschiedlichen Regionen und Religionen in den Mittelpunkt gerückt. London ist ganz zweifellos eine Weltstadt. Aus den Zeiten der Kolonien und vor allem der Zeit danach hat eine massive Ein- und Zuwanderung stattgefunden. Einzelne ethnische Gruppen haben sich in verschiedenen Vierteln der Stadt niedergelassen. So findet man im Osten von London, im Eastend, hauptsächlich Inder und Bangladeshi, im südlichen Teil, im Bereich von Brixton, vorwiegend Schwarze.
Ich habe meinen Wochenendaufenthalt genützt, um diese Stadtteile zu besuchen. Ich wollte herausfinden, inwieweit die Menschen hier zusammenleben oder nebeneinander her leben. Das in wenigen Stunden zu beobachten, ist zugegebenermaßen nur eingeschränkt möglich.

Migrationsströme

Es stimmt zweifellos, dass Migration – wie überall – eher zu einer bestimmten Konzentration der zugewanderten Bevölkerung als zu einer optimalen Durchmischung führt. Es ist nicht leicht, die Frage der Integration bzw. Migration zu bewältigen. Mich stört beispielsweise an der Türkei-Diskussion und auch an der offiziellen SPÖ-Haltung in dieser Frage, dass man so tut, als wäre es möglich, den islamischen Teil der Weltbevölkerung – ein Teil der Weltbevölkerung, dem es nicht so gut wie uns geht – „draußen“ zu halten. Diese Haltung hat bei der Erweiterung der Europäischen Union in den letzten Jahren generell immer wieder eine große Rolle gespielt.
In unserer Welt gibt es aber nun einmal starke Migrationsströme. Und in der Welt von heute treten die verschiedenen Kulturen und Religionen viel stärker in Kontakt als früher. Historiker weisen zu Recht darauf hin, dass Migration immer schon ein Phänomen der geschichtlichen Entwicklung in Europa, aber auch weltweit gewesen ist. Der Glaube, dass es die Österreicher, die Deutschen oder die Türken schlechthin gibt, ist ein Irrglaube.

Regeln aufstellen

Gerade in der Türkei findet man einen starken Nationalismus. Mit diesem Nationalismus scheint man die sehr unterschiedlichen Wurzeln und Orientierungen der türkischen Bevölkerung überdecken zu wollen. Die Zukunft kann allerdings keinesfalls dem Nationalismus gehören, der den Schein einer Einheitlichkeit aufrechterhält. Die Zukunft muss vielmehr in dem Versuch liegen, Migrationsströme nicht in Uferlose ansteigen zu lassen und zugleich zu vermitteln, dass ein Miteinander absolut notwendig ist. Dieses Miteinander sollte soweit wie nur möglich in zu bewältigende Bahnen gelenkt werden.
Es mag sein, dass das Miteinander ein höheres Ausmaß an Konfliktpotentialen beinhaltet. Ich will es auch gar nicht idealisieren. Aber müssen wir unsere Bevölkerung nicht darauf vorbereiten? Ein breites Netzwerk an Kontakten ist bereits Bestandteil unseres heutigen Lebens. Deshalb müssen wir auch darüber nachdenken, welche Regeln aufgestellt werden können, um Konflikte, Verängstigungen, Vorurteile, ein „sich nicht mehr bzw. noch nicht zu Hause fühlen“ zu vermeiden. Und um das tun zu können, muss man auch darüber reden.

Vertreibung statt Bodenständigkeit

Ich habe erst kürzlich einen Artikel von einem gewissen Prof. Demant, der Alte Geschichte an der Freien Universität Berlin lehrt, gelesen. Unter dem Titel „Wo es gut geht, da ist das Vaterland“ hat er geschrieben: „Am Anfang der Geschichte steht eine Vertreibung. Die ersten Menschen übertraten das Gebot Gottes und wurden aus dem Paradies vertrieben. Damit ist ein Thema angeschlagen, das mit zahllosen Variationen die Zeiten durchzieht, um in der Gegenwart zu kulminieren. Vor drei oder vier Millionen Jahren in Afrika entstanden, hat sich der Mensch über die Erde ausgebreitet. Mithin ist er fast überall Zuwanderer, trotz des verbreiteten Glaubens an Bodenständigkeit.“
Dieses Zitat zeigt deutlich, dass Vertreibung, Flucht und Migration eher die selbstverständlichen Phänome sind als die Bodenständigkeit. Diesen Umstand müssen wir den Menschen vermitteln – ohne die bestehenden Migrationsströme zu rechtfertigen und gutzuheißen, aber klar zu machen, dass die Welt in Bewegung ist und auch sie selbst in Bewegung sein müssen.

Nicht verdrängen

Gerade im laufenden Wiener Wahlkampf hat die Frage der Fremdenfeindlichkeit wieder ein viel größeres Gewicht bekommen. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass wir selbst das Thema verdrängt haben. Die FPÖ ist offensichtlich in Versuchung geraten es wieder aus dem Hut zu zaubern und sich selbst dadurch mehr ins Spiel zu bringen. Das Thema Fremdenfeindlichkeit lässt sich nicht verdrängen. Es muss offensiv aufgegriffen werden.

Übernationales Reich des Humanismus

Anlässlich des 50. Jahrestages der Wiedereröffnung des Wiener Burgtheaters hat Navid Kermani in seiner Festrede gesagt: „Europa ist ein wunderbares Land für Europäer. So schwer seine sozialen und politischen Probleme wiegen, niemals in der Geschichte dieses Kontinents ging es friedlicher und toleranter zu. Das ist viel, wir vergessen das zu oft. Aber es genügt nicht. Erst wenn Europa menschlich ist zu denen, die nicht zu Europa gehören, ist es das übernationale Reich des Humanismus, an das Stefan Zweig glaubte wie an ein Evangelium.“
In dieser Rede verweist der in Deutschland aufgewachsene Schriftsteller persischer Herkunft auf die aktuelle Situation in den Resten der Kolonien im Norden Marokkos bzw. die Ereignisse auf Lampedusa und anderen Orten, wo massiver Druck seitens der Auswanderer- bzw. Transitländer im Norden Afrikas entstanden ist. Trotz hoher Mauern und eines quasi neuen Eisernen Vorhanges in Afrika gilt es, in dieser Region Probleme mit Menschlichkeit und Humanität zu bewältigen. Und das geht nicht, indem alle Tore öffnet, aber auch nicht, indem man noch höhere Mauern und Zäune baut.

Neue Mauern

Es ist erschütternd, dass nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer neue Mauern entstehen: Mauern in Palästina, die Israelis errichten, um die Palästinenser – vor allem die Terroristen – aus dem Land herauszuhalten; und Mauern und Zäune, die im Norden Afrikas entstehen, um massive illegale Zuwanderung nach Europa zu verhindern.
Auch ich habe keine leichte und schnelle Lösung für diese Probleme. Auf europäischer Ebene versuchen wir, gemeinsam mit den Transit- und Auswanderungsländern eine entsprechende Lösung zu finden. Darüber haben wir auch in den vergangenen Tagen im Europäischen Parlament diskutiert. Die momentane Lage ist jedenfalls mehr als beschämend.

COSAC-Konferenz

Aber nun zurück zu meinem Besuch in London. Wie schon erwähnt, war ich hier geblieben, um das Europäische Parlament bei einer so genannten COSAC-Konferenz zu vertreten. Nationale Parlamentarier aus Europas Mitgliedsländern und Europaabgeordnete treffen auf diesen Konferenzen regelmäßig zum politischen Dialog zusammen. Eines der Themen der nun stattfindenden Konferenz war die Außen- und Sicherheitspolitik.
Ich habe versucht deutlich zu machen, dass es nicht um Konkurrenz zwischen dem EU-Parlament und nationalen Parlamenten geht. Im Vordergrund steht eine gemeinsame, bessere Kontrolle dessen, was nationale Regierungen individuell, aber vor allem auch gemeinsam im Rahmen der Außen- und Sicherheitspolitik für die Europäische Union tun.

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

Es gibt eine Reihe von Instrumenten der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die von der Europäischen Union entwickelt werden. Insofern hat das Europäische Parlament ein gewichtiges Wort mitzureden und stellt vor allem auch die finanziellen Mittel zur Verfügung. Aber die Angst nationaler Parlamentarier, Kompetenzen zu verlieren, ist unberechtigt.
Die gemeinsame Angst vor nicht kontrollierten bzw. nicht kontrollierbaren Aktionen nationaler Regierungen hat hingegen eine gewisse Berechtigung. Ihr kann man aber nur eine entsprechende gemeinsame Kontrolle begegnen.

Better regulation

Wie schon in den Tagen und Wochen zuvor beschäftigt mich noch immer die Frage der „better regulation“, also des besseren Regierens. Wir sind immer wieder versucht, relativ viele Gesetze zu beschließen und vergessen dabei, dass es eigentlich nicht um die Quantität, sondern um die Qualität der Gesetze geht. Wir brauchen gute europäische Gesetze, die den BürgerInnen überzeugend vermittelt werden können.

Rückzieher?

Zuletzt hat die Kommission den Vorschlag unterbreitet, etwa 70 Gesetzesvorhaben, die entweder im Rahmen der Kommission vorbereitet oder bereits parlamentarisch behandelt worden sind, zurückzuziehen. Einige Parlamentarier haben aufgeschrieen und gemeint, in ihren Rechten beschnitten zu werden. Formal ist allerdings die Kommission im Recht. Solange Gesetze nicht beschlossen sind, kann sie einen Antrag, den sie gestellt hat, zurückzuziehen – selbst wenn er schon parlamentarisch in Behandlung steht.
Viel wichtiger ist es jetzt, im Sinne der „better regulation“ die Vorschläge der Kommission inhaltlich zu prüfen und einer Beurteilung zu unterziehen. Es gilt herauszufinden, ob wir übereinstimmen oder ob wir die Kommission ersuchen müssen, sich die Sache nochmals zu überlegen. Die Kommission hat auch signalisiert, dass sie bereit ist, das Parlament anzuhören. Die veröffentlichte Liste wurde nicht im Sinne eines gültigen Beschlusses umgesetzt, sondern nur als ein Vorschlag unterbreitet. Daher bleibt durchaus Zeit, darüber zu diskutieren.

London, 10.10.2005