Modell für das Zusammenleben

Was mich am Libanon und seiner Hauptstadt Beirut ganz besonders fasziniert, ist die gemischte Bevölkerung von Christen und Muslimen.
Bei meinem jüngsten Besuch in Beirut wurde ich immer wieder gefragt, ob dies mein erster Aufenthalt in der Stadt sei. Als ich jedes Mal wahrheitsgemäß antwortete, es sei mein dritter, zeigte man sich überrascht. Wie kommt es, dass man drei Mal innerhalb von sechs, sieben Jahren nach Beirut kommt?

In den Bann gezogen

Für mich ist Beirut mit einer grossen Faszination verbunden. Ich habe über diese Stadt viel gelesen und gehört: Beirut, eine Handelsstadt, eine leuchtende Metropole im östlichen Mittelmeer. Eine Stadt, die Zivilisation und Reichtum mit einem tragischen Leben verbindet. Mir ist selbstverständlich bekannt, dass Beirut der Ort kriegerischer Auseinandersetzungen war. Vornehmlich ging es um einen Bürgerkrieg mit syrischem und israelischem Einfluss bzw. mit Interventionen dieser beiden Länder. Die Koalitionen in diesem Bürgerkrieg waren wechselnd. Es war kaum nachzuvollziehen, wer auf welcher Seite stand und wer gegen wen kämpfte.
Heute ist Beirut wieder eine lebendige Stadt. Man sieht zwar noch viel von den Resten des Bürgerkriegs und es gibt nach wie vor unzählige zerstörte Häuser. Aber gerade im Zentrum ist die Wiederaufbautätigkeit durchaus rege und, wie ich glaube, auch erfolgreich.

Alte Wurzeln

Beirut hat uralte Wurzeln. Es waren die Phönizer, die die Stadt gegründet haben. Sie machten Beirut zu einem Hafen für den Export, insbesondere von Weizen, Zedernholz und Eisen, nach Ägypten. Die Hochblüte erlebte Beirut in der griechischen und römischen Zeit, und aus der römischen Zeit stammt auch der Name. Der römische Imperator Augustus hat die Stadt nach seiner Tochter Augusta Felix Berythus benannt. Und in Beirut wurde eine berühmte römische Rechtsschule gegründet.
Beirut wurde byzantinisch, danach von den Arabern eingenommen und im 7. Jahrhundert der Militärhafen von Damaskus. Noch heute ist der syrische Einfluss groß und ist ein syrisches Heer im Libanon stationiert, so auch in Beirut.

Wechselvolle Geschichte

Es folgte eine sehr wechselvolle Geschichte des Libanon während der Kreuzzüge, bis schliesslich die osmanische Herrschaft von 1516 bis 1918 dem Gebiet eine klare Orientierung gab. Die Drusen und die Maroniten, also die Christen, haben ihre relative Autonomie zweifellos genossen. Aber auch in dieser Zeit kam es bereits zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen religiösen Gruppen. So gab es 1860 ein ungeheures Massaker an den Christen.
1918 erfolgte starker französisch-kolonialer Einfluss, der sich ebenfalls in der Stadt niedergeschlagen hat. So findet sich in Beirut eine, wenngleich bescheidene, Kopie des Pariser Place de la Concorde. Die Grenze zwischen dem Libanon und Syrien wurde mit dem Ende der Kolonialisierung relativ willkürlich gezogen. So entstand ein kleiner Libanon mit der Hauptstadt Beirut und im Hintergrund ein größeres und stärkeres Syrien, das bis heute einen dominanten und auch stark diskutierten Einfluss auf die Entwicklung des Libanon hat.

Religiöser Mix

Was mich am Libanon und seiner Hauptstadt besonders fasziniert, ist die gemischte Bevölkerung von Christen und Muslimen. Auf der Christenseite gibt es Maroniten, Griechisch-Orthodoxe und Katholiken. Auf der islamischen Seite gibt es vor allem Shiiten und Sunniten. Es gibt quer durch Drusen, die nach wie vor sehr aktiv sind und mit Walid Djumblatt als einem ihrer Stammesfürsten in engen Verbindungen zur sozialistischen Internationale stehen. Und es gibt 250.000 – 300.000 Palästinenser, die in Lagern in abgelegenen Stadtteilen hausen, weitgehend vom politischen, aber zum Teil auch vom wirtschaftlichen Leben ausgeschlossen.
Es sind, wie schon erwähnt, wieder syrische Truppen im Land stationiert. Bis vor kurzem war der Südlibanon zu Israel besetzt. Heute betrifft das nur mehr einen ganz kleinen Teil, und zwar jenen, von dem die Israelis behaupten, er gehöre zu Syrien: Shebaa Farms. Aber die Syrier und Libanesen behaupten, die Shebaa-Farms, gehörten zum Libanon. Nach wie vor wird der Luftraum über dem Libanon von israelischen Flugzeugen immer wieder verletzt.

Die politische Führungsriege

Kann ein politisch so tief zerklüftetes Land Frieden finden? Mit sich selbst und mit seinen Nachbarn? Das ist eine für mich spannende Frage. Abgesehen von einer gewissermaßen gefühlsmäßigen Solidarität als politischer Repräsentant eines kleinen Landes zu einem anderen kleinen Land waren meine Besuche im Libanon auch deshalb immer so faszinierend, weil man selten so rasch zu derart führenden politischen Kräften vordringt.
Meinen vorletzten Besuch hatte ich als Leiter einer kleinen sozialdemokratischen Delegation aus dem Europäischen Parlament absolviert. Diesmal bin ich alleine in den Libanon gekommen. Ich habe den Präsidenten getroffen, es ist nach wie vor der Maronit Emile Lahoud. Ich habe die beiden Ministerpräsidenten Hariri und Hoss getroffen, sie sind jeweils sunnitische Islame. Ich habe den Präsidenten des Parlaments getroffen, Berri, der Muslime ist. Und ich habe viele andere Abgeordnete und Minister getroffen, die unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse sind.
Es wird versucht, ein sehr ausgeglichenes System zu schaffen, um den Frieden im Lande sicherzustellen. Im Abkommen von Taif ist genau festgehalten, wie die Positionen und die Parlamentssitze auf die unterschiedlichen religiösen Gruppierungen verteilt sind. Ich habe ausserdem Nasrallah getroffen, den Hisbollah-Führer.

Um Ausgleich bemüht

Interessant ist, dass man im Libanon sehr oft in private Wohnungen führender Politiker eingeladen wird. Diese Wohnungen sind in ihrer Größe, Ausstattung und Qualität in keiner Weise mit Wohnungen westlicher Politiker vergleichbar – jedenfalls in Österreich. Dies trifft sicher mehr auf die christlichen Politiker zu, die durchwegs aus traditionellen Familien stammen, die im Laufe der Geschichte Reichtum angeschafft haben. Zum Teil zeigte man mir mit Stolz Sammlungen wertvoller Koranausgaben und immer wieder wurde gerade von den Katholiken betont, wie wichtig es sei, ein gutes Verhältnis zu den Muslimen aufzubauen.

Interessant war in diesem Zusammenhang nicht zuletzt ein Gespräch mit der Abgeordneten Moawad, deren Mann als Präsident nach nur 18 Tagen im Amt erschossen worden ist. Der oder die Täter sind nach wie vor unbekannt. Man weiss nicht, ob es sich um Syrer oder um andere Gruppierungen gehandelt hat. Dennoch ist Moawad nicht verbittert, sondern mit großer Begeisterung und Freude in der Politik tätig. Nicht Hass, sondern Kooperation und Zusammenarbeit sind ihre Ziele. Interessanterweise hat Moawad zum Ausdruck gebracht, dass das Problem eigentlich nicht der shiitische Fundamentalismus ist. Wenn sich das Regime in Persien wandelt, ändert sich aus ihrer Sicht weniger der shiitische Fundamentalismus, sondern eher der sunntische, der eine viel breitere Basis hat. Die Moslems sind überwiegend Sunniten, und mit Saudi-Arabien gibt es eine entsprechend große Kraft, die den sunnitischen Fundamentalismus unterstützt.

Zurückhaltung gegenüber Syrien

Aus heutiger Sicht scheint sich der Frieden im Libanon stabilisiert zu haben. Es gibt einige kritischen Fragen im Zusammenhang mit Syrien, bei den politischen Parteien der Regierung wie der Opposition, die vornehmlich eine christliche ist. Es erklärt zwar niemand offen, dass die Syrier keine Rolle mehr in der Politik des Libanon spielen sollten, und es fordert auch kaum jemand den totalen Abzug der syrischen Truppen. Allerdings wird doch zum Ausdruck gebracht, dass eine Restrukturierung bzw. Verminderung der syrischen Truppen im Libanon angebracht wäre und man Zug um Zug den Abbau der syrischen Truppen vornehmen sollte.
Nach wie vor habe ich den Eindruck, dass diese Forderungen, insbesondere nach dem 11. September des vorigen Jahres, zurückhaltender vorgebracht werden. Mit Hinblick auf die Unsicherheiten, die mit einem Wiederaufflackern des islamischen Terrorismus entstehen könnten – nicht zuletzt auch im Libanon selbst.

Bei Hisbollah-Führer Nasrallah

Auf der anderen Seite steht die Hisbollah mit ihrem geistigen und politischen Führer und Generalsekretär Nasrallah. Mein Treffen mit ihm war ein wenig gespenstisch. Der Ort, zu dem wir für dieses Treffen gekommen waren und der uns auch angegeben worden ist, war nicht jener Ort, wo Nasrallah seine Büros hat. Wir wurden schliesslich mit dem Auto durch verschiedene Bewachungszonen rund um den Häuserblock gefahren, der nicht nur bewacht, sondern auch durch entsprechenden Schranken und Eisentore abgeschirmt war.
Nasrallah ist ein relativ junger, freundlicher Mann, der, das muss man sagen, auch eine große Verantwortung gezeigt hat. Nach dem Abzug der Israelis kam es durch ihn bzw. seine Truppen zu keinen neuerlichen Attacken und Angriffen gegenüber Israel. Wenn es bestimmte begrenzte Aktionen gibt, dann sind das solche gegen die nach wie vor besetzten, an den Golan angrenzenden Gebiete bzw. wahrscheinlich auch nicht sehr erfolgreiche Raketenabschüsse gegen israelischen Flugzeuge, die den Luftraum über dem Libanon verletzen.

David gegen Goliath

Über die Frage, ob das libanesische Militär den Süden des Libanon bewachen sollte, gibt es unterschiedliche Meinungen. In der christlichen Fraktion wird zum Teil heftig dafür plädiert. Andere wieder argumentieren, dass dies wenig Sinn machen würde, denn das Heer im Libanon sei nicht genügend ausgestattet, um wirklich gegen israelische Flugzeuge vorzugehen und daher noch weniger flexibel als die Milizen der Hisbollah. Das israelische Militär könnte und würde also auf die Interventionen der libanesischen Armee massiv zurückschlagen und es könnte zu neuen Auseinandersetzungen und zur Gefährdung des Friedens kommen.
Aus dieser Überlegung heraus versuchen die libanesischen politischen Führer, nicht zuletzt auch der christliche Präsident, der früher Generalstabschef des Heeres war, die Armee aus diesem Konflikt herauszuhalten – wofür ich Verständnis habe.

Hohe kulturelle Qualitätsansprüche

Leider blieb mir bei all meinen bisherigen Besuchen im Libanon wenig Zeit, Beirut, geschweige denn andere Städte, ausgiebig zu besichtigen. Diesmal habe ich das Kunsthistorische Museum in Beirut besucht, und ich bin auch nach Saida gefahren, das etwa eine knappe Autostunde südlich von Beirut liegt. Dort, wo die Libanesen restaurieren, wo sie Kunst ausstellen, trifft man auf eine Qualität, wie man sie in Europa kaum sieht. Das Museum in Beirut, das phönizische, hellenistische und römische Kunst zeigt, ist mit grosser Liebe und Qualität gestaltet und bietet einen besonders faszinierenden Eindruck der früheren Besiedlungen des Libanons. Man sollte keinesfalls versäumen, es zu besuchen.

Wertvolle Zeugnisse hochgehalten

In Saida habe ich alte Festungsanlagen und Märkte, die renoviert wurden, besucht. Auch eine restaurierte Seifenfabrik habe ich besichtigt, die ebenso mit Liebe und Interesse wiederhergestellt worden ist. Eine Stiftung hat sich hier um die Restaurierung mehrerer Häuser und von Teilen der Stadtmauer gekümmert. Auch eine Moschee ich besichtigen, die durch Adaption einer Kirche entstanden ist und einen Preis für die architektonische Gestaltung im Zuge der Renovierung erhalten hat.
Es handelt sich hier zweifellos um Inseln in einer doch sehr armen Umgebung, aber es zeigt, dass das Land versucht, seine eigene Geschichte zu pflegen und mit hoher Qualität die wertvollen Zeugnisse dieser Geschichte zu renovieren und zu präsentieren.

Beispielgebend

Jedes Mal, wenn ich in Beirut verlassen habe – so auch das letzte Mal -, war mir klar, dass ich wieder in diese Stadt kommen werde. Ich werde versuchen, ihre Fortschritte und Entwicklungen zu verfolgen. Das erste Mal war ich tatsächlich aus städtebaulichen Überlegungen hierher gekommen. Ich habe damals versucht, die Aufbruchstimmung, die in Beirut nach dem Krieg geherrscht hat, an andere Städte, die ebenfalls vom Bürgerkrieg zerstört worden sind, zu übertragen bzw. zu vermitteln. So zum Beispiel nach Sarajevo. Was mich gestört und betroffen gemacht hat, war die Passivität, das Leiden, das man auch noch nach Beendigung des Bürgerkrieges in Sarajevo allzu lange stark gespürt hat und die mangelnde Bereitschaft, das Geschehene zu vergessen und etwas Neues aufzubauen.
In Beirut ist für mich gerade diese Bereitschaft stark präsent gewesen. Im Libanon gab es allerdings auch mehr Kapital und der jetzige Ministerpräsident Hariri, der nach den Bürgerkriegszeiten schon einmal Ministerpräsident gewesen ist, hat eigenes Geld miteingebracht und konnte viele andere motivieren. Die Innenstadt, die zu einem grossen Teil bereits saniert ist oder besser gesagt nach dem alten Muster wiederaufgebaut wurde, ist insbesondere in den Abenden wieder eine sehr lebendige Stadt geworden. Und das ist auch ein Beitrag zum Zusammenleben, der hier geliefert wurde.

Es geht um das Zusammenleben

Genau das schien mir die Lehre aus allen unterschiedlichen Erfahrungen in Osteuropa, am Balkan, aber auch im Nahen Osten zu sein: Es geht um das Zusammenleben. Um ein Zusammenleben in einer Form, die versucht, die Konflikte nicht unter den Teppich zu kehren, aber doch in eine friedliche Form der Austragung und der Lösung zu überführen. Und der Libanon könnte dafür ein ungeheuer wichtiges Modell sein, weil es hier nicht nur um ethnische, sondern auch um tief religiöse Konflikte geht. Um Konflikte zwischen dem Christentum und dem Islam, aber auch innerhalb des Christentums und innerhalb des Islams, die zeigen, wie schwierig eine Lösung ist, aber dass sie nicht unmöglich ist. Und dass sie eine für alle Seiten befriedigendere ist als das Austragen von kriegerischen Auseinandersetzungen! 
Beirut, 12.2.2002