Nach dem Reformvertrag I

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Natürlich befinden wir uns nicht „nach“ dem Reformvertrag, sondern er ist gerade erst von allen Staaten ratifiziert worden, um in Kraft zu treten. Und erst jüngst wurden die neu geschaffenen Positionen mit den entsprechenden Personen besetzt. Aber neben der konkreten Umsetzung und vor allem neben der Neuschaffung eines Auswärtigen Dienstes der EU geht es um die Frage, was wir mit dieser nun neu gestalteten und gestärkten EU „anfangen“ sollen.

Reflexionsgruppe

Die Staats- und Regierungschefs haben dazu eine Reflexionsgruppe unter dem ehemaligen spanischen Premierminister Felipe Gonzales eingesetzt. Von Zeit zu Zeit diskutieren wir auch im EU-Parlament in einem kleineren Kreis mit VertreterInnen dieser Reflexionsgruppe. So auch dieser Tage mit Prof. Nicolaidis. Sie ging bei ihrem einleitenden Statement davon aus, dass die EU ein Machtverstärker (power-multiplier) für die Mitgliedstaaten ist. Und in der Tat, gerade das macht die EU attraktiv für die Mitgliedstaaten. Allerdings sind die nationalstaatlichen PolitikerInnen oft zu scheu, faul oder feig, dies den BürgerInnen klar zu sagen.
Ein weiterer Diskussionspunkt waren die „europäischen“ Werte bzw. diejenigen universellen Werte, die der EU besonders wichtig sind. Unmittelbar vor der EU-Zukunftsdiskussion hatte ich ein Referat vor jungen politischen Führungskräften aus Israel und Palästina. Dabei versuchte ich, die Geschichte der Europäischen Einigung und die Lehren aus der schrecklichen europäischen Vergangenheit, die zur Bildung der Europäischen Union geführt haben, darzulegen. Mir ging es dabei durchaus darum, Parallelen für die Nah-Ost Region zu ziehen. Vor allem wollte ich darstellen, dass die Sieger auch den Verlierern eine Überlebenschance geben müssen und auch der Bevölkerung der Verliererstaaten gegenüber Respekt zeigen müssen. Grenzen verändern sich nach Kriegen, aber alle müssen eine Chance haben, ein neues Leben in Frieden und Freiheit zu beginnen.

Versöhnung ist eine tägliche Aufgabe

Ein junger Israeli meinte in der anschließenden Diskussion, dass die Europäer zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Mehrheit der Israelis und der Palästinenser gegenüber den Radikalen und Extremisten die europäischen Werte vertreten. Ich konnte ihm nur teilweise zustimmen. Denn zuvor hatten auch die jungen politischen „FührerInnen“ im Wesentlichen über die Vergangenheit und vielleicht gerade noch über die Gegenwart geredet. Die Zukunft kam nicht vor. Und das ist ein gravierendes Problem dieser Region: kaum jemand denkt über die Zukunft Israels oder Palästinas nach und schon gar nicht über die gemeinsame Zukunft.
Gerade das haben die PolitikerInnen nach dem 2. Weltkrieg gemacht. Sie hatten genug von der – meist grausamen – Vergangenheit, sie wollten die Konsequenzen daraus ziehen und ein neues Europa bauen. Nun muss ich zugeben, dass in letzter Zeit wieder stärker über die Vergangenheit und vor allem über die vergangenen Konflikte zwischen den einzelnen Mitgliedsländern und zwischen Mehrheit und Minderheit innerhalb einzelner Länder nachgedacht wird. Und nicht nur nachgedacht wird, sonder versucht wird, diese Konflikte wiederzubeleben und daraus Kapital zu schlagen. Diesen wiederaufkeimenden Nationalismus halte ich für schädlich und gefährlich. Aber ich kann Prof. Nicolaidis nur zustimmen, Versöhnung ist eine täglich Aufgabe, sie ist nie ein für allemal gelöst. Und daher können wir in den Nahen Osten oder in welche Konfliktregion auch immer, nicht Harmonie exportieren, sondern „nur“ das Management von Konflikten, also die friedliche Diskussion und Austragung von Konflikten. Das ist das Europäische, und diesen Wert sollen wir selbst hoch halten und anderen vermitteln.

Brüssel, 18.11.2009