Nach vorne, nicht zurück!

Wir müssen den Menschen klarmachen, dass ein gedanklicher Rücksprung in die Zeit vor dem Beitritt der EU heute nach den erfolgten Integrationsschritten kaum mehr möglich ist und wirtschaftlich extreme Nachteile mit sich bringen würde.
Gestern Abend bin ich nach Belgrad geflogen. Die Initiative „Europa eine Seele geben“ hatte diesmal in die serbische Hauptstadt eingeladen, um über die Frage der Arbeit von kulturellen Initiativen als Beitrag zum europäischen Einigungsprozess mit Vertretern vor allem Serbiens, aber auch der gesamten Region zu diskutieren.

Kunst ist grenzüberschreitend

Viele Kulturschaffende von unzähligen Initiativen aus den Ländern der Region waren dieser Einladung gefolgt. Besonders interessant war eine Kulturschaffende, die eine Initiative in Novosibirsk gegründet hat und diese jetzt leitet. In der Tat kann man sagen, dass diese kulturellen Beiträge gerade in der unmittelbaren Zukunft einer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen. Sie können ein Bindemittel darstellen, wenn Kultur im Sinn einer Zivilisation gemeint wird.
Gerard Mortier hat kürzlich in seinem Beitrag zum 50 jährigen Bestehen der EU zum Ausdruck gebracht, dass die Kultur bzw. die kulturellen und vor allem die künstlerischen Prozesse oder Produkte verstärkt dazu verwendet werden müssen, auch das Generelle der Zivilisation sowie die Menschenrechte anzusprechen. Mortier machte deutlich, dass in vielen künstlerischen Äußerungen und Prozessen – sei es in der Oper oder in der bildenden Kunst – gerade das Bekenntnis zu den Menschenrechten zum Ausdruck kommt. Mortier meint also nicht jenen engen Kulturbegriff, der Kultur in der Regel als Identitätsstifter für kleine Gruppen versteht. Vielmehr bezieht er sich auf jenen Kulturbegriff, der vielleicht eher als Kunstbegriff definiert werden kann und zum Ausdruck bringt, dass Kunst immer etwas Grenzüberschreitendes hat und immer auch den Respekt vor den Menschen zum Ausdruck bringt.

Europäisierungsprozeß in den Städten

Die Themen, über die wir in Belgrad diskutiert haben, zogen sich quer durch alle Möglichkeiten, über die man auf der nationalen und der europäischen, aber auch auf der lokalen Ebene verfügt, um Kunst und Kultur in den Europäisierungsprozess einzubringen. Ich habe in diesem Zusammenhang angemerkt, dass Europa nicht nur in Brüssel gebaut wird, sondern in jeder Stadt, in jeder Gemeinde und in jedem Ort, wo man darangeht, Menschen unterschiedlicher Rasse, unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Religion zusammenzubringen.
Der Europäisierungsprozess, der natürlich über Europa hinausweist, findet in erster Linie in den Städten statt und muss in besonderem Ausmaß gefördert werden. Städte sind Begegnungsorte von Menschen aus grundverschiedenen Ländern, die ihre jeweiligen Kulturen, Ideen und Verhaltensweisen mitbringen. Daher muss ein entsprechender Dialog stattfinden, um auch eine Integration zu ermöglichen. Städte sind zudem Orte, wo auch Neu und Alt miteinander kommunizieren können, wo ein durchaus kritischer, manchmal antagonistischer Dialog stattfindet, der aber letztendlich auch dazu führen müsste, dass Städte ihr kulturelles Erbe pflegen und erhalten und gleichzeitig etwas Neues bauen, etwas Neues hinzufügen. Denn Städte sind etwas Lebendiges und nicht nur etwas Historisierendes. Städte dürfen nicht zu Museen mutieren.

Dialog der Religionen

Nicht zuletzt geht es auch um die Frage der Religion. Städte sind im allgemeinen Orte, in denen viele verschiedene Religionen ausgeübt werden. Sie sind nicht monoreligiös, sondern haben verschiedene religiöse Praktiken. Auch hier geht es um den Dialog der Religionen. Und auch hier ist klar, dass man viel mehr tun muss, als den Prozess einfach laufen zu lassen. Man muss sich engagieren, um eine entsprechende Entwicklung voranzutreiben. Das ist heute zweifellos schwieriger als früher. Menschen, die heute in die Städte ziehen, kommen von weit weg und bringen Religionen mit, mit denen wir zumindest in den letzten Jahrzehnten nichts oder wenig zu tun hatten.
Besonders in Phasen, in denen das Wirtschaftswachstum nicht so gut vorangeht, besteht immer eine große Gefahr, dass Nationalismus und Rassismus wieder neu aufblühen. Sie vermitteln den Menschen das Gefühl, dass sie an Identität verlieren und dieses nur durch ein extremes, engstirniges Bekenntnis zum Nationalismus oder zur ethnischen Zugehörigkeit wieder gewinnen kann. Das ist eine verständliche, aber kurzsichtige Reaktion. Es macht einmal mehr deutlich, wie wichtig die kulturelle Dimension dieses gemeinsamen Europas ist. Wir brauchen diese kulturelle Zivilisationsdimension, die die wirtschaftliche und politische Integration nicht ersetzen kann, aber sie sehr wohl begleiten muss. Ohne sie wird es nicht möglich sein, an einem gemeinsamen Europa zu bauen.

Die Berliner Erklärung

Das gemeinsame Europa wurde auch jüngst durch die sogenannte Berliner Erklärung der Staats- und Regierungschefs erneut unterstrichen. Eigentlich ist es ja grotesk, dass man sich extra zu diesem gemeinsamen Europa bekennen muss, aber es ist leider eine Tatsache. Die Staats- und Regierungschefs haben sich außerdem zu einem Verfassungsprozess bekannt, der bis 2009 abgeschlossen sein soll. Manche Staatschefs, ich denke etwa an den polnischen und den tschechischen, haben allerdings sofort nach dem formellen Bekenntnis einmal mehr kritische und negative Bemerkungen gemacht. Auch mit dieser Tatsache müssen wir offensichtlich leben.
Ich habe hier in Belgrad einen stellvertretenden tschechischen Minister getroffen, der sogar mit dem Premierminister befreundet ist. Trotzdem meinte er, es sei furchtbar, dass die tschechischen Abgeordneten auf der rechten Seite im Europäischen Parlament tätig sind und eigentlich gegen Europa sprechen – immer verbunden mit der Ausrede, sie seien sehr wohl für Europa, aber für ein anderes Europa. Nach seiner Meinung sollte man diese PolitikerInnen aus dem Europäischen Parlament ausschließen. Aber das geht natürlich nicht, da sie ja direkt gewählt werden.

Kritische, aber pro-europäische Haltung ist gefragt

Bei dieser Frage geht es um ein generelles Problem. Viele Abgeordnete im Europäischen Parlament sind nicht daran interessiert, ein gemeinsames Europa zu bauen, sondern eher daran interessiert, dieses gemeinsame Europa zu verhindern. Weil sie sich aber zu Hause kritisch gebärden und weil viele Menschen meinen, es sei gut, wenn PolitikerInnen kritisch gegen das europäische Establishment auftreten, werden sie eben „nach Europa“ geschickt und erreichen oft das Gegenteil. Dieses Wahlverhalten hat sich ja auch in Österreich gezeigt.
Es wird großer Anstrengungen bedürfen, gerade aus der Lage in Österreich mit der jetzigen Regierung eine kritische, aber trotzdem pro-europäische Haltung Position einzunehmen. Es darf nicht vermittelt werden, wie das permanent in den Schlagzeilen der Kronen Zeitung und anderer Medien getan wird, dass die europäische Konstruktion als solches faul ist. Vielmehr gilt es aufzuzeigen, dass es an dieser europäischen Konstruktion noch vieles zu verändern gilt. Das gemeinsame Haus ist noch lange nicht fertig. Wie so oft ist beim Bau eines komplizierten Hauses auch manches schief gelaufen, manches ist nicht gleichzeitig entwickelt worden, und daher passt es auch nicht sehr gut zusammen.

"Europafreier" Tag?

Man muss allerdings immer die Alternative im Auge behalten. In einer Broschüre der Financal Times hat kürzlich ein junger Europäer den interessanten Vorschlag gemacht, einen „europafreien“ Tag einzuführen. Man sollte der Bevölkerung zeigen, was es heißt, wenn die Grenzen wieder geschlossen werden, wenn Pässe verlangt werden, wenn Visa ausgestellt werden, wenn junge Menschen nicht am Austauschprozess bei Studentenprogrammen, aber auch für junge ArbeitnehmerInnen teilnehmen können wie bisher, etc. Wenn also all das wiederkehren würde, was früher einmal Status quo gewesen ist, dann würden jene, die heute so leichtfertig einen Austritt aus der EU fordern reden und Europa als massive Fehlkonstruktionen bezeichnen sehen, dass die Alternative, der Weg zurück schmerzlich sein würde.
Und wenn man zurückgeht, dann müsste man letztendlich zurückgehen bis in die Situation der beiden Weltkriege im vorigen Jahrhundert… Selbst wenn man keinen so extremen Standpunkt einnimmt: Wir müssen den Menschen klarmachen, dass ein gedanklicher Rücksprung in die Zeit vor dem Beitritt der EU heute nach den erfolgten Integrationsschritten kaum mehr möglich ist und wirtschaftlich extreme Nachteile mit sich bringen würde. Auf der anderen Seite dürfen wir aber auch nicht in Selbstgefälligkeit verfallen. Wir dürfen nicht nur verhindern, dass der Weg zurück gegangen wird, sondern müssen immer wieder betonen, dass der Weg nach vorne beschritten werden muss. Und in diesem Punkt mag auch das Bewusstsein unserer Kulturen, die in ihrer Diversifizierung doch letztendlich ein besseres Leben der Toleranz und Akzeptanz durchsetzen wollen, entscheidend sein, um voran zu kommen.

Belgrad, 30.3.2007