Near abroad

Kiew ist eine europäische Hauptstadt. Sie wird zwar auch in vielen Jahren noch keine Hauptsstadt der Europäischen Union sein. Aber sie wird insgesamt nicht die Perspektive verlieren, dieser Europäischen Union einmal als Mitgliedsstadt anzugehören.
Freitagabend ging es für mich in eine europäische Hauptstadt, die ich noch nie besucht hatte: Kiew, die Hauptstadt der Ukraine. Als Wiener Stadtrat war ich eine Zeit lang auch für die Außenbeziehungen Wiens zuständig und reiste in dieser Funktion einmal in die Ukraine, allerdings nach Odessa. Die Region von Odessa gehört zur Gemeinschaft der Donauregionen. Da Wien auf diesem Gebiet sehr aktiv war, hatte ich Gelegenheit, in Stellvertretung des Bürgermeisters Odessa zu besuchen. Aber das liegt, wie gesagt, schon viele Jahre zurück.

Ein europäisches Land

Für mich ist die Ukraine ein europäisches Land. Nicht unbeträchtliche Gebiete waren Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie. Und in dieser Region, in Galizien, wurde das bürgerliche Gesetzbuch, das in Österreich in wesentlichen Elementen noch heute gilt, erprobt.
Auch wenn es manche nicht wahrhaben wollen bzw. wenn für viele die Ukraine schon in Asien liegt: geografisch und aufgrund der Beziehungen zu vielen mitteleuropäischen Ländern – von Österreich bis hin zu Polen und Litauen – ist die Ukraine zweifellos ein europäisches Land.

In die Schlagzeilen geraten

Schlagzeilen machte die Ukraine aufgrund der dramatischen Veränderungen gegen Ende des vorigen Jahres. Der wahre Grund waren die Auseinandersetzungen zwischen einem Kandidaten, der sehr stark von Russland bzw. von Putin unterstützt worden ist und einem Bewerber, der eher die westliche Orientierung der Ukraine vorantreiben wollte und letztendlich auch gewählt worden ist – Wiktor Juschtschenko.
Juschtschenko ist bei uns auch deshalb bekannt geworden, weil er zwei Mal in einer Wiener Klinik behandelt wurde, nachdem behauptet und zum Teil durch ein ärztliches Attest bestätigt worden war, dass er vergiftet wurde bzw. man versucht hatte, ihn durch Gift zu töten. Wie immer der Wahrheitsgehalt dieser Geschichte ist, Juschtschenko wurde zum Präsidenten gewählt. Und zwar in einer Wahl, die durch viele Wahlbeobachter als korrekt angesehen worden ist. Juschtschenkos Alliierte, Julija Timoschenko, wurde Premierministerin. Sie ist zwar alliiert, steht aber auch in einem gewissen Konkurrenzverhältnis zu Juschtschenko.

Wahlhelfer

An der Wahl und dem Erfolg Juschtschenkos war nicht zuletzt die sozialdemokratische Partei mit ihrem Vorsitzenden Olexander Moros beteiligt. Diese Partei hat gerade unter den früheren Regierungen und Regimes sehr gelitten. Heute steht sie in einem Bündnis mit Juschtschenko und stellt auch einige Minister in der Regierung.
Gemeinsam mit den europäischen Sozialdemokraten hat sie nach Kiew zu einem Seminar über die Beziehungen zwischen der Europäischer Union und der Ukraine eingeladen. Das war auch der Grund meiner Reise hierher.

Gescheiterter Gipfel

Als ich um Mitternacht Lokalzeit in Kiew ankam, war bereits klar, dass der jüngste Gipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs in Brüssel gescheitert war. Durch eine Mitteilung auf meinem Handy wurde ich informiert, dass es auch beim Budget keinen Fortschritt gegeben hat. Ich war schockiert und betrübt. Zugleich war ich mir aber nicht sicher, ob der Kompromiss, hätte man ihn angenommen, auch wirklich ein guter Kompromiss gewesen wäre.
Ich glaube, dass die Gegner dieses Kompromisses teilweise durchaus richtige Argumente ins Treffen führen können. Dass weniger für die Landwirtschaft und mehr für Infrastruktur sowie Forschung und Entwicklung ausgegeben werden soll, ist nachvollziehbar und sinnvoll. Sollten die Gegner allerdings nur ihre eigenen Besitzstände verteidigt haben bzw. überhaupt als Nettozahler weniger in die Europäische Union einzahlen wollen, waren es keine europäische Motive, die ihren Argumenten zugrunde liegen.

Positive Signale für die Ukraine

Erst eine Analyse in den nächsten Tagen wird zeigen, was von dem Ergebnis bzw. Nichtergebnis zu halten ist. Für mich stand jedenfalls fest, dass ich bei meinem Referat am nächsten Tag nicht mit großem Optimismus oder von einer Heilsverkündung sprechen konnte, sondern meine Ausführungen ausgehend von einer sehr prekären krisenhaften Situation der Europäischen Union darstellen musste.
Ich bin der Überzeugung, dass wir – und so habe ich es auch ausgedrückt – die Entwicklung in der Ukraine mit einem durchaus positiven Signal beobachten sollen. Wenn sich der Rechtsstaat und die Demokratie verstärkt entwickelt haben und wenn die Ukraine jetzt auch den Kampf gegen Korruption aufnimmt, wenn sie sich wirtschaftlich positiv entwickelt und versucht, mit allen Nachbarn innerhalb der Europäischen Union und Russland ein gutes Verhältnis zu entwickeln, bringt das auch unseren Bürgerinnen und Bürgern ein erhöhtes Maß an Sicherheit und Stabilität.

Step by step

Das geschieht aber nicht allein durch entsprechende Forderungen. Der Vorsitzende der sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Partei, Moros, hat dies klar zum Ausdruck gebracht. Noch sind die Unternehmungen bzw. die Manager zu eng mit der Politik verbunden, und korrupte Beziehungen werden bekanntlich durch einen Regierungswechsel nicht von heute auf morgen völlig ausgeschaltet. Aber ein größeres Ausmaß an Transparenz und das Zurückdrängen von Korruption sind zweifellos ein fixer Bestandteil des Regierungsprogramms.
Nicht nur uns geht die Umsetzung zu langsam. Auch einige Demonstranten, die nach wie vor in Zelten vor dem Parlament bzw. vor dem Regierungsgebäude schlafen und lebe, wünschen sich eine schnellere Umsetzung. Ich hoffe, dass der innere und äußere Druck stark genug sind, um eine Veränderung herbeizuführen.

Zwischenschritte

Manche der angestrebten Schritte verursachen neue Schwierigkeiten. Wenn bestimmte Privatisierungen für illegal erklärt und neu thematisiert werden müssen, dann bedeutet das zunächst, dass das Eigentum aus privaten Händen in die öffentliche Hand verlagert wird. Und die öffentliche Hand ist bei den vielen Industriebetrieben vor Ort nicht unbedingt der beste Manager.
Folglich ist ein neues Management zu bestellen. Es muss also eine neue und vorübergehende Transformation von Privatbesitz in die öffentliche Hand organisiert werden, damit schließlich eine transparente und faire Privatisierung erfolgen kann. All das schafft Probleme, die es zu bewältigen gibt, bevor überhaupt an den neuen Aufbau einer gesunden Wirtschaft gegangen werden kann. Aber die Zwischenschritte sind einfach notwendig.

Staaten der neuen Nachbarschaft

An der Diskussion nach meinem Referat beteiligten sich auch Vertreter Russlands bzw. Moldawiens. Es ging dabei unter anderem um das Verhältnis zwischen der Europäischen Union und Russland. Ich bin fest überzeugt, dass die beiden großen Player am europäischen Kontinent – die Europäische Union einerseits und Russland andererseits – eine strategische Partnerschaft eingehen sollten, um Frieden und Freiheit zu garantieren.
Allerdings darf das nicht auf Kosten der dazwischenliegenden Staaten gehen, die von uns als „Staaten der neuen Nachbarschaft“ und in Russland als „near abroad“ bezeichnet wird. Diese gemeinsame Nachbarschaft, die uns mit der Ukraine, aber etwa auch mit den Ländern des Südkaukasus, verbindet, könnte sich durchaus zum Wohle dieser Länder auswirken. Und zwar dann, wenn gesunde politische und wirtschaftliche Beziehungen aufgebaut werden, aber auch Russland die freie Entscheidung in diesen Ländern anerkennt.
Es wäre gewissermaßen eine Chance für Russland, zu vernünftigen, akzeptierten und freundschaftlichen Beziehungen zu kommen, die nicht von eigennützigen Interessen Russlands bzw. von mafiaähnlichen Strukturen, die bestimmte Teile der russischen Wirtschaft mit diesen Ländern kontinuierlich haben wollen, beherrscht sind, sondern vom Respekt vor der Unabhängigkeit und der freien Entscheidung der Bevölkerung in diesen Ländern.

Sorgfältig geplante Erweiterung

Zur Frage der Erweiterung habe ich meinen Standpunkt wiederholt: Wir müssen diese sorgfältig planen. Und wir müssen stärker darauf achten, dass die Erweiterungskandidaten ihre Aufgaben erfüllen und wir ihnen dafür durchaus auch Zeit zugestehen. Einen generellen Stopp der Erweiterung kann es aus meiner Sicht nicht geben. Die Erweiterung ist nicht schuld an den Problemen, die wir heute in der Europäischen Union haben.
Meine Meinung stand in Widerspruch zu jener eines anderen Referenten, einem Holländer, der der Erweiterung wesentlich skeptischer gegenüber steht – ohne belegen zu können, dass sie ein Misserfolg der Europäischen Union wäre. Zweifellos ist es uns nicht gelungen zu vermitteln, warum diese Erweiterung ein wichtiges europäisches Projekt ist und dass es nicht nur im Interesse der Erweiterungsländer, sondern auch im Interesse der Europäischen Union und unserer eigenen Bevölkerung ist, wenn diese vernünftig, geplant und strukturiert erfolgt.

Im Interesse aller

Keine der kritischen Stimmen in den letzten Tagen konnte mich allerdings davon überzeugen, dass wir die Erweiterung generell stoppen oder auf die lange Bank schieben sollten. Es geht nicht darum, eine Ho-Ruck-Lösung zu erreichen. Der Prozess kann nur stufenweise erfolgen, so wie in der Vergangenheit. Immerhin hat es 15 Jahre gedauert, bis die Länder, die das Joch des Kommunismus bzw. der sowjetischen Beherrschung abwerfen konnten, Mitglieder der Europäischen Union geworden sind.
Aber trotzdem muss man noch viel deutlicher zum Ausdruck bringen, dass die Vorbereitungen in den einzelnen Ländern sorgfältiger sein müssen, was zu längeren Zeiträumen des Vorbereitungsprozesses führen kann.

Rupel-Vorschlag

Der slowenische Außenminister Dimitrij Rupel hat vor kurzem in einem Artikel in der Financial Times den überlegenswerten Vorschlag gemacht, dass man die Phase des Erweitungsprozesses durchaus verlängern könnte. Indem man sich zwar einerseits politisch frühzeitig entscheidet, wer Kandidatenland ist und wer nicht. Aber indem man aber andererseits die Anpassungs- und Vorbereitungszeit verlängert und die finanziellen Zuschüsse an die betreffenden Länder nicht unbedingt steigert, sondern durchaus in maßvolleren Grenzen hält.
Wenn es so ist, dass wir beim EU-Budget ohnedies auf die Bremse steigen müssen, weil die Länder entweder nicht bereit sind, Geld herzugeben oder ihre Ansprüche zu reduzieren, wird man irgendwann dazu kommen müssen, die Erweiterung zu verzögern oder jedenfalls die finanziellen Konsequenzen der Erweiterung zu reduzieren, also die Beiträge an die Kandidatenländer bzw. die neuen Mitgliedsländer geringer zu halten.

„… die andern brauch´ ma net…“

All das wird in den nächsten Wochen noch heftig diskutiert werden. Aber nochmals sei betont, und in diesem Punkt befinde ich mich in völliger Übereinstimmung mit dem österreichischen Bundespräsidenten Heinz Fischer: Eine Grundsatzhaltung nach dem Motto „Wir sind dabei und das genügt, die anderen brauch´ ma nicht“ ist nicht akzeptabel – weder moralisch noch politisch – und wirtschaftlich unklug. Gerade für ein Land wie Österreich, das sehr viel in den Nachbarländern investiert und von der Erweiterung profitiert hat.
Kürzlich wurde ich in einem Interview gefragt, worin die Vorteile unserer Mitgliedschaft liegen. Die Antwort fiel mir nicht schwer: Wir haben insgesamt durch die Erweiterung der Europäischen Union Vorteile gezogen. Denn diese Erweiterung hätte auf jeden Fall stattgefunden. Wären wir allerdings nicht gleichzeitig Mitglied der EU gewesen, dann hätten unsere Unternehmen nicht in diesem Ausmaß investieren können, dann hätten wir nicht so viele Firmen mit ihrem Hauptsitz und ihrer Entscheidungsstruktur im eigenen Land behalten bzw. zusätzlich ansiedeln können.
So sehr diese Punkte generell diskutiert werden, so sehr steht die spezifische Frage bezüglich der Unkraine vor keiner aktuellen Entscheidung. Jetzt geht es zunächst darum, die Unkraine einerseits zu unterstützen und ihr andererseits die Chance zu geben, ihr eigenes Haus in Ordnung zu bringen und ein selbständiges eigenständiges Land zu werden.

Platz der Orangen Revolution

Bevor das Seminar begann, hatte ich zeitig in der Früh für eine Stunde die Gelegenheit, mir das Zentrum von Kiew anzusehen. Kiew liegt sehr schön auf einer Anhöhe über einem Fluss und hat ein durchaus architektonisch interessantes Zentrum.
Insbesondere trifft das auf jenen großen Platz, den Majden, zu, der in Zusammenhang mit den Demonstrationen und Aktivitäten der Orangen Revolution bekannt geworden ist. Auf dem Platz wurden Zelte aufgeschlagen, und man hat den Ort solange nicht verlassen, bis es zu fairen und transparenten Wahlen gekommen ist, die auch international beobachtet wurden.

Eine europäische Hauptstadt

Ich konnte in der kurzen Zeit, die mir zur Verfügung stand, nur einen Teil der Inneren Stadt sehen. Für mich ist Kiew eindeutig eine europäische Stadt. Eine Stadt, die einen gewissen Wohlstand zeigt. Und die sich, wenn sich das Land insgesamt gut entwickelt, ebenfalls sehr gut entwickeln wird. In Kiew treffen West und Ost zusammen, und leider miteinander im Streit stehende verschiedene orthodoxe Kirchen bestimmen die Gesellschaft mit und prägen auch das Stadtbild.
Trotzdem: Kiew ist eine europäische Hauptstadt. Sie wird zwar auch in vielen Jahren noch keine Hauptsstadt der Europäischen Union sein. Aber sie wird insgesamt nicht die Perspektive verlieren, dieser Europäischen Union einmal als Mitgliedsstadt anzugehören. In der Zwischenzeit muss sich Kiew bzw. die Ukraine insgesamt auf diese Entwicklung vorbereiten. Und ich erwarte eigentlich, dass sie sich von selbst stärker in das europäische Städtenetzwerk integrieren wird.

Kiew, 18.6.2005