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Wir brauchen in der Balkanregion ein europäisches Krisenmanagement, um rechtzeitig eintreten zu können, wenn sich weitere negative Entwicklungen auftun.  
Von Stockholm ging es für mich gestern weiter nach Wien, wo ich an einem Runden Tisch der EU-Kommissionsvertretung zum Thema „Vertrag von Nizza“ teilnahm. Noch am selben Abend verschlug es mich nach Rom, von wo aus ich heute früh nach Bari weiterreiste.
Ich war hierher gekommen, um bei einer Podiumsdiskussion gemeinsam mit italienischen Abgeordneten aus dem Europäischen Parlament, den stellvertretenden Außenministern von Albanien und Kroatien, einem serbischen Sozialdemokraten, den ich bereits kannte, und dem früheren Ministerpräsidenten und heute führenden Figur der Linken in Italien, Massimo D´Alema, die Entwicklungen am Balkan zu analysieren.

Albania meets Europe

Der Balkan hat mich die ganze Woche über nie verlassen. Am Beginn der Woche stand eine Diskussion mit Vertretern des albanischen Parlaments. Fatos Nano, der frühere Ministerpräsident und jetzt wieder Vorsitzende der Sozialistischen Partei ist seitens der Albaner zum Vorsitzenden des gemischten Ausschusses mit dem Europäischen Parlament gewählt worden. Mit ihm kamen der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses, der der Opposition angehört, sowie mehrere Abgeordnete der Regierungsparteien und der Opposition. Jene, die die offizielle Berisha-Linie vertreten, waren allerdings nicht dabei, da sie nach wie vor mehr oder weniger die Arbeit im albanischen Parlament boykottieren.

Grenzüberschreitende Kriminalität

Die Diskussionen reichten von der wirtschaftlichen Situation bis zu manchen Zwischenfällen bei den letzten Wahlen. Im Mittelpunkt stand aber vor allem die Frage der Verhinderung von grenzüberschreitender Kriminalität, wo es um Drogenhandel, Handel mit Prostituierten bzw. Frauen, die in diese Position gezwungen werden und um illegale Migrationsaktivitäten geht. Mein Eindruck ist, dass nicht alle auf der albanischen Seite die Entwicklung, die hinter dieser furchtbaren grenzüberschreitenden Kriminalität steckt, ernst nehmen. Aber das ist auch schwierig für Albanien, da viele Nachbarn nicht bereit sind, wirklich tatkräftig daran mitzuhelfen, dass diese Region nicht als Durchgangsregion verwendet wird, in der – vor allem über den Hafen Dures – die illegalen grenzüberschreitenden Aktivitäten abgewickelt werden.

Die Mafia geht um

Die Albaner selbst sind zudem, was Polizeikräfte betrifft, nach wie vor schlecht ausgerüstet, und es gibt nur zwei Hubschrauber zur Grenzüberwachung. Mit einer derart geringen Ausstattung an Personal und Ausrüstung kann man sicher nicht all das tun, was man tun möchte, um diese Aktivitäten zu verhindern.
Inzwischen ist aber wenigstens die Zusammenarbeit mit Italien relativ gut entwickelt. Ebenso gut entwickelt sind allerdings auch die Zusammenarbeit zwischen der italienischen und der albanischen Mafia und darüber hinausgehende mafiöse Bestrebungen in der Region, die inzwischen schon bis nach China reichen. Und natürlich ist auch das Justizsystem in Albanien von dieser Schwäche betroffen. Es war der außenpolitische Ausschussvorsitzende, der in klarer Offenheit gemeint hat, in Albanien käme man nur auf drei Arten zu seinem Recht: Entweder man sei ein Familienangehöriger des Richters, man besitze mehr Geld als der Gegner oder man bedrohe den Richter physisch. Ich hoffe nicht, dass das 100 %ig stimmt. Aber wenn auch nur 80 % davon wahr sind, dann ist schon das eine verheerende Aussage bzw. eine Aussage über einen verheerenden Zustand!

Freilassung albanischer Gefangene

Neben den Vertretern des albanischen Parlaments trafen wir bei dieser Gelegenheit auch Flora Brovina, die prominenteste albanische Gefangene des Milosevic-Regimes, die von Kostunica bald nach seinem Amtsantritt frei gelassen wurde. Allerdings gibt es noch viele andere Gefangene in den Gefängnissen Serbiens, die heute zum Teil unter noch schwierigeren Bedingungen leben. Auf Grund der chaotischen Zustände und sicherlich auch wegen gewisser Aktivitäten der Geheimdienste haben die serbischen Gefangenen in einem Teil der Gefängnisse die Macht und Kontrolle übernommen – und das natürlich oft auf Kosten der albanischen Gefangenen.
Jedenfalls war das Plädoyer von Flora Brovina für die Freilassung aller albanischen Gefangenen oder zumindest für die Übertragung der Gefangenen an die UNMIC im Kosovo, also an die offizielle Kosovo-Verwaltung, denn es handelt sich ja um Gefangene aus dem Kosovo, überzeugend. Und ich habe sowohl den Ratsvorsitzenden, den französischen Europaminister Moscovici, als auch den hohen Beauftragten Solana in der Diskussion des außenpolitischen Ausschusses gebeten, im Gespräch mit Kostunica beim Zagreber Gipfel, der am Freitag dieser Woche stattfand, mit Nachdruck die Freilassung aller politisch Gefangenen – ob Serben oder Albaner – zu verlangen. Als ein wesentliches Signal gegenüber den Albanern, dass man grundsätzlich eine andere Politik betreiben möchte.
Der Balkan war natürlich auch Thema der Gespräche mit den Kolleginnen und Kollegen im schwedischen Reichstag. Und er stand auch jetzt, wie gesagt, im Mittelpunkt der Tagung der Sozialisten in Bari. Ich habe bei diesem Anlass versucht, in fünf kurzen Punkten zu erklären, was Europa tut bzw. was Europa noch mehr tun müsste, um zur Stabilisierung des Balkans beizutragen.

Chance auf EU-Mitgliedschaft

An erster Stelle geht es sicher darum, eine klare Aussage über die europäische Zukunft Süd-Osteuropas zu treffen. Den Balkanstaaten muss ein Angebot gemacht werden, dass sie Kraft ihrer eigenen Anstrengungen und Bemühungen eine Chance bekommen, Mitglied der Europäischen Union zu werden. Schon in meinem Bericht hinsichtlich Mazedonien habe ich das mit der sogenannten Evolutionsklausel zum Ausdruck gebracht, als es darum ging, die Ziele des Assoziierungs- und Stabilitätsabkommens der EU mit Mazedonien klar zu legen. Und wie ich höre, ist der Vertrag mit Mazedonien nicht nur bereits unterschriftsreif und in Zagreb paraphiert worden, sondern ist in Zagreb dieses europäische Signal, dieses Angebot der EU an die Länder des Balkans, auch generell – unter Weiterentwicklung der Beschlüsse in Feira – gemacht worden.

Finanzspritze

Zweitens: Es bedarf wirtschaftlicher Hilfe für den Balkan, auch wenn der Rat bekanntlich nicht jene Summe zur Verfügung stellen möchte, die Kommission und Parlament als notwendig erachten. Das sind die angebotenen 4,5 Milliarden Euro für die Jahre 2000 – 2006. Immerhin ein erster beträchtlicher Schritt, dieser Region auf die Beine zu helfen. Mag sein, dass es im Laufe der Zeit mehr wird, wenn sich die Notwendigkeit dafür einstellt. Aber sicherlich kann man auch mit diesem Betrag leben.

Polizeireform

Drittens: Es bedarf stabiler Systeme des Rechts und der Rechtsdurchsetzung. Das beginnt zunächst bei der Polizei und deren Ausbildung. Dabei muss auch sichergestellt werden, dass die Polizisten, die ausgebildet werden, nicht zusehends in Richtung mafioser Strukturen abdriften. Eine ausreichende Entlohnung der Polizisten sollte den Drang zu Korruption, Schmiergeldannahme etc. zurückhalten. Eine moderne Polizei braucht ausserdem entsprechende Ausrüstung, vor allem an den Grenzen. Und es bedarf natürlich auch Gefängnisse, die vor allem in Albanien, zum Beispiel durch die Unruhen, zum Großteil zerstört worden sind. Ein nicht korruptes, korrektes, objektives Rechtssystems innerhalb einer ebensolchen Gerichtsbarkeit sind weitere unabdingbare Voraussetzungen.

Zusammenarbeit in der Region

Viertens: Es bedarf einer regionalen Zusammenarbeit aller Länder in der Region selbst – im Sinne einer wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit, des Respekts, der Grenzen und vor allem auch der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Migration sowie, was insbesondere auch mein Diskussionspartner aus Kroatien betonte, der grenzüberschreitenden Korruption.
Internationale Verbrecherorganisationen und korrupte Strukturen sind ja bekanntlich die Ersten, die sich globalisieren und Grenzen überschreiten. Daher müssen wir bei dieser grenzüberschreitenden Zusammenarbeit am Ball bleiben – denn wie gut auch immer die Absicherung der Grenzen ist, sie kann nie so gut sein, dass wir nicht immer wieder auf eine solche Zusammenarbeit zurückgreifen müssten.

Europäisches Krisenmanagement

Fünftens: Es bedarf eines europäischen Krisenmanagements, um rechtzeitig eintreten zu können, wenn sich weitere negative Entwicklungen auftun. Ob es sich um Streitigkeiten in Bosnien-Herzegowina handelt, ob es im Dreieck Serbien, Montenegro, Kosovo oder auch in einem der anderen Länder zu Problemen kommt: Der Frieden in dieser Region ist noch nicht so abgesichert, dass wir nicht Angst vor neuen negativen Entwicklungen haben müssen.
D`Alema hat in seinem Referat, das eine sehr klare europäische Perspektive für den Balkan aufzeigte, mit Hinweis auf meine Argumente, dass die Gefahren noch nicht vorbei seien, zurecht eingefordert, auch die positiven Seiten anzuerkennen. Es gibt das Jugoslawien von Milosevic, es gibt das Kroatien von Tudjman und es gibt das Albanien von Berisha nicht mehr. Das alles ist vorbei – hoffentlich für immer.
Ich mache aber nicht deswegen immer wieder auf die Risken, Gefahren und möglichen problematischen Entwicklungen am Balkan aufmerksam, weil ich die Fortschritte leugnen möchte, sondern ganz im Gegenteil: Ich will die Notwendigkeit unterstreichen, in unseren Bemühungen fortzufahren, nicht nachzulassen und das Glas, das man je nach Sichtweise als halb voll oder halb leer bezeichnen kann, auch wirklich voll zu machen, es zu füllen mit wirtschaftlichem, politischem Inhalt. Mit einem Wort: Ich fordere eine wirklich umfassende Balkanstrategie, die auch bis ins Detail entwickelt werden muss.

Untermauerung der Vorhaben

Beim Gipfel der Staats- und regierungschefs in Zagreb sind, soweit ich es in den Nachrichten verfolgen konnte, sehr positive Signale gesetzt worden. Aber positive Signale auf der einen Seite bedürfen auch immer sehr konkreter Untermauerung auf der anderen Seite. So hat mich zum Beispiel in Stockholm während meines abendlichen Spaziergangs Wolfgang Petritsch angerufen und mich mit einem Hilferuf gebeten, mich dafür einzusetzen, dass das Europäische Parlament seine Arbeit mit ausreichenden finanziellen Mitteln unterstützt. Nicht zuletzt auch deshalb, um zu verdeutlichen, dass jetzt Europa die wesentlichen Schritte setzt und den Amerikanern nicht mehr die Gelegenheit gegeben wird, großmütig Geld vorzuschießen, das nur deshalb verwendet wird, weil aus internen Streitigkeiten und Diskussionspunkten die ausreichenden finanziellen Mittel nicht gesichert werden konnten.

Ja, darum geht es also: Es geht um die BürgerInnen. Und es waren bei dieser Tagung sehr viele BürgerInnen aus der Region Bari anwesend. Das gilt natürlich nicht nur für diese Region, die von den Flüchtlingsbewegungen aus der Balkanregion besonders betroffen ist. Wir müssen allen BürgerInnen, auch bei uns in Österreich, klar machen, dass wir mit aller Kraft versuchen werden, den Krisenherd Balkan nicht nur so ruhig zu halten wie derzeit, sondern auch wirklich in eine, ich will nicht das Wort von Helmut Kohl zu Ostdeutschland verwenden, nämlich blühende Region, zu verwandeln, aber doch in eine wirtschaftlich selbstständige Region, die auf ethnische Streitigkeiten und Hass verzichten kann und wird.

Networking

Uns allen, die wir an dieser Podiumsdiskussion teilnahmen, war natürlich diese Zielsetzung gemeinsam. Es mag zugegebenermassen ein bisschen grotesk sein, für eine kurze Diskussion von Wien über Rom nach Bari und von Bari über Mailand zurück nach Wien zu fliegen. Aber die Gespräche, die wir natürlich auch am Rande der Tagung bei einem dieser guten, aber leider viel zu reichhaltigen italienischen Essen führten, waren ganz zweifellos ein Beitrag dazu, das Netzwerk zwischen Europa im Sinne der Europäischen Union und den Vertretern der Balkanregion zu stärken.
Und es bedarf vieler solcher Netzwerke, um Zug um Zug, Schritt für Schritt die Region des Balkans an die Werte, Inhalte und Zielsetzungen der Europäischen Union heranzuführen.  
Bari, 25.11.2000