Neuordnungen

Einen Namen macht man sich im Europäischen Parlament insbesondere durch konkrete Arbeit und nicht so sehr durch bestimmte Positionen.
Die Schlacht – die Wahlschlacht – ist geschlagen. Nun beginnt wieder die Arbeit. Die ersten Wochen sind von Erwartungen und Enttäuschungen, von Misserfolgen und Erfolgen gekennzeichnet.

Omnipräsente Spanier

In der Fraktion habe ich vorerst meine Kandidatur für den Parlamentspräsidenten angemeldet. Meine langjährige Erfahrung als Parlamentarier der „vorderen Reihen“, meine guten Kontakte auch zu anderen Fraktionen haben mich bewogen, zu kandidieren. Ich hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass der spanische Premierminister Zapatero einen seiner Vorgänger im Amt als Parteivorsitzender, Pépé Borell, unbedingt ins Rennen schicken wollte. Borell ist ein erfahrener spanischer Parlamentarier, allerdings ein völliger Neuling im Europäischen Parlament.
Die Spanier haben schon zwei Mal den Parlamentspräsidenten gestellt, und ein Spanier war die vergangenen fünf Jahre Fraktionsvorsitzender der Sozialdemokraten. Überdies ist der Spanier Xavier Solana erst kürzlich zum „EU-Außenminister“ und Generalsekretär des Rates wiederbestellt worden und Jose Manuel Barroso aus dem iberischen Nachbarland Portugal wird aller Voraussicht nach in den nächsten Tagen zum Kommissionspräsidenten gewählt werden.

Die „Südfront“

All diesen Tatsachen zum Trotz haben „die Spanier“ rasch eine „Südfront“ hergestellt und alle SPE-Mitglieder der Mittelmeeranrainerstaaten inklusive der Franzosen haben sich für die Wahl von Zapatero ausgesprochen. Auch wenn ich die meisten der neuen Mitgliedsländer und einen Großteil der Deutschen auf meiner Seite hatte – die Blockbildung im Süden hat meine Chancen, als Parlamentspräsident eine klare Mehrheit zu bekommen, deutlich reduziert.
Vielleicht habe ich aber meine Kandidatur auch nicht deutlich und vehement genug vertreten. Ich hatte natürlich selbst Zweifel, ob ich mit der Position des Parlamentspräsidenten, der ja die jeweils beschlossene Meinung des Parlaments wiedergeben muss, eine große Freude haben würde. Gerade nach dieser kämpferischen Wahlauseinandersetzung, die mir großen Spass gemacht hat, war ich eher auf eine engagierte Arbeit im Europäischen Parlament eingestellt.

Andere wichtige Funktionen

Was mir aber gar nicht gefallen hat und gefällt, ist die Blockbildung nationaler Delegationen, die eine freie Abstimmung unmöglich gemacht hat. Sicher, die Wahl erfolgt geheim. Aber die nationale, um nicht zu sagen nationalistische Haltung gerade der „südlichen“ Abgeordneten, wenn es um ihre Interessen geht, hätte ein deutliches Abweichen verhindert. Und da ich mich ohnedies auch vorbereitet hatte, die Funktionen des Vizepräsidenten und des parlamentarischen Geschäftsführers der Fraktion zu übernehmen, fiel mir der Verzicht auf die Kandidatur zum Parlamentspräsidenten letztlich nicht allzu schwer.
Besonders bedauernswert finde ich allerdings die Tatsache, dass es wieder kein Vertreter der neuen Länder schaffen wird, eine herausragende Position auf europäischer Ebene zu erzielen – weder aus der letzten (Österreich, Schweden, Finnland) noch aus der aktuellen Beitrittsrunde, die offiziell am 1. Mai 2004 in Kraft getreten ist.
Das wäre die Attraktivität eines Bronislaw Geremek, des früheren polnischen Außenministers und einer der klügsten und intellektuellsten Köpfe aus der Solidarnosc-Bewegung. Er wird von den Liberalen mit Unterstützung der Grünen kandidiert. So wie der SPE-Kandidat die Runde bei allen anderen Fraktionen gemacht hat, war auch Geremek in unserer Fraktion zu Gast. Allerdings war ich von seiner inhaltlichen Präsentation enttäuscht, es gab wenige überzeugende politische Aussagen.

Enttäuschender Kommissionspräsident

Noch viel enttäuschter war ich allerdings von der Präsentation des von den europäischen Regierungschefs vorgeschlagenen Kommissionspräsidenten Barroso. Nicht, dass er beim Hearing in unserer Fraktion fürchterliche Aussagen gemacht hat. Aber er bestätigte die Vermutung, dass er aufgrund seiner konservativen, aber vor allem seiner extrem abgeschliffenen, wenig kantigen Einstellung zu wichtigen politischen Fragen seiner KollegInnen der 24 Mitgliedsländer gewählt wurde. Weder in der Außen-, noch in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zeigte er visionäre Vorstellungen und kam über – zum Teil konservativ gefärbte – Allgemeinplätze nicht hinaus.
Aufgrund der Mehrheit der Regierungschefs und des Ergebnisses der Wahlen zum Europäischen Parlament war klar, dass ein Konservativer zum Kommissionspräsidenten vorgeschlagen werden würde. Aber es gibt aus meiner Sicht – und diese Meinung teilen viele – attraktivere Konservative, von Chris Patten, dem Außenkommissar der EU, bis zum luxemburgischen Ministerpräsidenten Jean Claude Juncker.
Vielleicht entwickelt Barroso ungeahnte Fähigkeiten – ich würde mich ernsthaft freuen. Aber derzeit sehe ich keine Veranlassung, ihn zu wählen, wenngleich das auch eine Ablehnung der Mutlosigkeit, ja Feigheit der Regierungschefs bei der Auswahl ihres Kandidaten, den sie dem Parlament zur Wahl vorschlagen, zum Ausdruck bringen soll.

Fraktion „neu“

Wie die Fraktion insgesamt stimmen wird, ist heute noch nicht abzusehen. Einige nationale Delegationen stehen unter starkem Druck von zu Hause, also den Parteien, die an nationalen Regierungen beteiligt sind bzw. sogar den Regierungschef stellen. Das gilt zum Beispiel für die Spanier, die Engländer, etc. Besonders schwer tun sich die Portugiesen. Die führen die selben internen Debatten, die wir führen würden, hätten sich die Regierungschefs auf Wolfgang Schüssel als ihren Kandidaten geeinigt.
Leider spielt das nationale Element innerhalb der EU und so auch in unserer Fraktion noch immer eine große Rolle. Durch eine Reform des Fraktionsstatutes, an der ich eifrig mitgearbeitet habe, wollten wir die nationalen Einflüsse zurückdrängen und eine stärkere europäische Fraktion schaffen. In diesem Sinn sind jetzt nicht mehr alle Delegationsleiter stellvertretende Vorsitzende, sondern es gibt Wahlen zu sieben Vizepräsidenten der Fraktion. Einer davon bin ich, ergänzt um die bereits erwähnte Funktion des parlamentarischen Geschäftsführers. Als solcher bin ich für den „reibungslosen“ Ablauf des parlamentarischen Geschehens aus unserer Sicht sowie für die Gesamtkoordination unserer Arbeit verantwortlich. Als stellvertretende Vorsitzende dürfen wir nicht mehr länger Delegationsleiter sein bzw. andere herausragende parlamentarische Positionen einnehmen, etwa Ausschussvorsitze, etc. Dennoch fühlen sich einige nach wie vor mehr als Vertreter ihrer Delegation als als Beauftragte der Gesamtfraktion. Es ist äußerst schwierig, ein europäisches Bewusstsein zu verankern, viel schwerer jedenfalls, als immer und immer wieder Europa auf den Lippen zu führen.

Parlamentarisches Punktesystem

Nicht zu Unrecht hingegen stehen die nationalen Interessen bei der Verteilung der verschiedenen, auf die einzelnen Fraktionen zu verteilenden Positionen im Parlament im Vordergrund. Grundsätzlich gehen wir hier nach einem Punktesystem vor, das den einzelnen Delegationen je nach Größe ein Punktekontingent zuweist.
Nach jeder „Besetzungsrunde“ (Wahl der Fraktionsvizepräsidenten, Parlamentspräsident bzw. Vizepräsidenten, Ausschussvorsitzende, etc.), werden die von einer Delegation „konsumierten“ Punkte in Abzug gebracht. Dies bedingt, dass naturgemäß die großen Delegationen mehrfach zugreifen können, während die mittleren und kleineren Delegationen ihre Punkt bald „ausgegeben“ haben. Und dennoch oder gerade deshalb kommt es immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen, wenn entweder gleich große Delegationen um eine Position kämpfen oder die unterschiedliche Qualität der Kandidaten ins Spiel gebracht werden.

Die Arbeit zählt!

Ich spiele dieses Spiel nun bereits das vierte Mal mit, diesmal meist im Vorsitz, weil sowohl zu Beginn einer Gesetzgebungsperiode als auch in der Mitte der Zeit ein solches Verfahren abgewickelt wird. Auch diesmal wird man wieder einen Kompromiss finden, und dennoch werden Manche unzufrieden sein. Aber ich betone vor allem den neuen KollegInnen gegenüber immer wieder: Einen Namen macht man sich hier insbesondere durch konkrete Arbeit und nicht so sehr durch bestimmte Positionen.
Brüssel, 7.7.2004