Nicht gegeneinander, sondern miteinander!

Die EU möchte mit der russischen Föderation mehrere „Räume“ entwickeln, in denen eine schrittweise Kooperation und Integration erfolgen sollen.
Die Beziehungen der EU zu Russland waren letzte Woche im EU-Parlament zweimal Gegenstand ausführlicher Debatten. Einmal im Rahmen eines Berichtes über unsere zukünftige Politik zu unseren Nachbarn, also eine Politik des „erweiterten Europas“ und anderseits in einem Nachschlag zum EU-Russland-Gipfel, der am 6. November in Rom stattgefunden hat.
Bei diesem Gipfel ist Berlusconi durch eine besonders unkritische Haltung zum Russland von heute inklusive dem Tschetschenien-Krieg aufgefallen. Aber für Berlusconi spielen weder in Italien noch in Russland autoritäre und autokratische Verhältnisse eine zu kritisierende Rolle. Starke Männer versteht und schätzt er, er wäre selbst gerne noch viel stärker und mächtiger – aber die Demokratie hindert ihn daran.

I.

Etwas analytischer betrachtet gibt es in der EU jedenfalls drei Hauptströmungen hinsichtlich des Verhältnisses zu Russland.
Die „Menschenrechtsaktivisten“ sehen auch kurzfristig und unmittelbar die Frage der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte im Vordergrund der Beziehungen zu Russland. Das sind jene Themen, über die vorrangig gesprochen werden sollte und die den Rahmen und die Grenzen unserer Beziehungen zur russischen Föderation setzen.
Die Pragmatiker sehen Russland als Wirtschaftsfaktor und hinsichtlich seiner geopolitischen Rolle als wichtigen Partner der EU. Was die geographische Rolle betrifft, gibt es allerdings große Unterschiede bei den Pragmatikern. Die einen wollen Russland in eine enge Dreierbeziehung USA-EU-Russland einspannen (z.B. Italien, Großbritannien), die anderen wollen Russland als Partner, um ein – begrenztes – Gegengewicht zu den USA zu gewinnen.
Die dritte Gruppe ist jene der „grundsatzorientierten“ Realpolitiker. Sie sehen die Frage im Zusammenhang mit der demokratischen und rechtsstaatlichen Entwicklung als kontinuierlich und langfristig zu behandelnde Themen, die aber einem kurzfristigen und dringend notwendigen Ausbau der politischen, strategischen und wirtschaftlichen Beziehungen nicht im Wege stehen dürfen.

Es kann heute noch nicht gesagt werden, welche neuen Akzente bzw. Akzentverschiebungen durch die Erweiterung der EU von 15 auf 25 kommen werden. Die neuen Mitglieder sind Russlandkenner, allerdings mit mehr negativen als positiven Erfahrungen. Sie werden jedenfalls bei der Russlandpolitik der EU viel mitreden.

Natürlich gibt es auch auf der russischen Seite unterschiedliche Strömungen, jedenfalls die „Atlantiker“ und die „Europäer“. Die einen wollen sich der Hypermacht USA anschließen – es ist immer gut, mit den Großen und Mächtigen zu sein, noch dazu ,wo diese die Missachtung demokratischer Grundsätze und den Tschetschenienkonflikt nicht stört. Auch für die USA fällt dieser Krieg unter die Kategorie des Kampfes gegen den Terrorismus.
Auf der anderen Seite gibt es die Europäer, die die starke wirtschaftliche Verflechtung mit der EU im Vordergrund sehen, Russland auch in der Partnerschaft mit der EU mehr Selbstständigkeit und Stolz zuerkennen.

II.

Die EU möchte mit der russischen Föderation mehrere „Räume“ entwickeln, in denen eine schrittweise Kooperation und Integration erfolgen sollen. Zuerst ist der gemeinsame Wirtschaftsraum zu erwähnen. Allerdings müsste eine stärkere Anpassung der Wirtschaftsgesetzgebung mit mehr Transparenz und Rechtsicherheit erfolgen. Gerade diesbezüglich hat die Yukos-Affäre mit der spektakulären Verhaftung des russischen Erdöl-Milliardärs Michail Chodorkowski einige Defizite aufgezeigt und zur Unsicherheit von Investoren beigetragen.

Besonders interessant für beide Seiten ist die Zusammenarbeit im Energiesektor, vor allem durch Investitionen in die Gewinnung und Verteilung (Pipelines) von Erdöl und Erdgas. Der Energie- und damit Energieimportbedarf der EU steigt leider stark an. Die Prognose für die EU 15 für den Energieverbrauch geht davon aus, dass dieser zwischen 2000 und 2030 um 0,8% pro Jahr wächst, allerdings bei abnehmender Wachstumsrate zwischen 2000 und 2010 um 1,2%, im nächsten Jahrzehnt um 0,8% und dann um 0,5%.
Diese Trends werden sich nicht zuletzt auch durch die Erweiterung der Europäischen Union verändern. Der Energieverbrauch der EU 25 wird sich um 0,9% pro Jahr in der Periode 2000-2030 erhöhen – gegenüber 0,8% in der EU 15. Trotz dieser relativ geringen Steigerungsrate beim Energieverbrauch muss Europa mit einer deutlich steigenden Importabhängigkeit rechnen. Auf die 25 Mitgliedsländer der zukünftigen EU bezogen hatte Europa im Jahr 2000 eine Importabhängigkeit von 47,1%. Sie steigt in den nächsten Jahrzehnten kontinuierlich auf 67,5%. Dies betrifft besonders Importsteigerungen bei festen Brennstoffen und Erdgas!
Derartige Prognosen machen also eine Kooperation im Energiesektor durchaus interessant, wenngleich diese auch eine größere Abhängigkeit der EU von Russland schafft. Aber bei langfristigen Verträgen könnte zumindest eine gemeinsame Abhängigkeit daraus entstehen, die zu einem engen Zusammenrücken zwischen der EU und Russland führen könnte.
Apropos Energie, ein wichtiges Thema ist natürlich auch der Handel mit Nuklearmaterial. Ab Anfang 2004 sollen diesbezügliche Vertragsverhandlungen zwischen der EU und Russland aufgenommen werden.

Zwei weitere „Räume“ betreffen die Gestaltung der inneren und der äußeren Sicherheit. Das beinhaltet sowohl die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität als auch die Sicherheit in unserer unmittelbaren Nachbarschaft (vom Balkan über den Kaukasus bis zum Nahen Osten) sind ohne Mithilfe Russlands kaum herzustellen bzw. zu bewohnen. Auch diesbezüglich ist ein Näherrücken der beiden Partner wichtig, aber es setzt die Bereitschaft Russlands zu Reformen im Inneren und zu einer offensiven Außenpolitik im Sinne einer Kooperation von demokratischen Staaten und Unionen bzw. Föderationen voraus.

Eine Kooperationsstrategie Russland – EU sollte aber nicht nur aus engem Interessenskalkül heraus entstehen. Die EU und Russland sind auch durch eine oftmals komplexe und widersprüchliche Ideengeschichte geprägt. Für Russland, aber auch für die EU gilt, dass heute der Markt und seine Bedürfnisse mehr zählen als Gedanken und Ideen über die Zukunft. Diese Entwicklung hat ja nicht nur negative Seiten, denn nicht alle in Europa entstandenen und verwirklichten Ideen waren von Vorteil für unseren gemeinsamen Kontinent, manche brachten furchtbare Katastrophen. Aber es könnte ja auch gemeinsam an persönlichen Ideen und Werten gearbeitet werden.

Auf Russland bezogen meinte der Schriftsteller Vladimir Sorokin aus Anlass des Russlandschwerpunktes bei der Frankfurter Buchmesse: „Nach dem für die meisten Sowjetbürger unerwarteten Zerfall der UdSSR im Jahre 1991 begann der Siegeszug des Kapitalismus. Er brach über Russland herein wie eine Revolution und war dementsprechend wild, ungestüm und unerbittlich. Die Veränderung der letzten zwölf Jahre sind wahrscheinlich wahrhaft überwältigend, dabei geht es nicht einmal um den neuen Staatsaufbau, um die Abkehr von der kommunistischen Ideologie oder um die Kapitalisierung des Lebens und der Wirtschaft. Nach dem Sieg des Kapitalismus sind in Russland die Ideen verschwunden und die Dinge aufgetaucht. Angesichts dieser metaphysischen Veränderung verblassen Ereignisse wie der Putsch von 1993 oder der Kampf ums Weisse Haus, treten Tschetschenien oder die Verarmung der Massen in den Hintergrund.“
Und er meinte auch: „Die Dinge verdrängten die großen Ideen, nahmen deren Platz ein: eine Küchenmaschine anstelle des Marxismus-Leninismus, ein Alfa Romeo anstelle des proletarischen Internationalismus, ein Videorecorder anstelle der lichten Zukunft.“

Wie oben erwähnt, ähnliches kann man – wenngleich abgeschwächt – auch über das heutige Europa sagen und man kann einer solchen Entwicklung auch Positives abgewinnen. Man sollte aber doch auch an der Entwicklung neuer Ideen arbeiten, nicht gegeneinander, sondern miteinander!
Wien, 22.11.2003