NON – NEE!

Wir müssen uns davor hüten, in Europa keine Verfassung zu haben, keine weiteren Erweiterungsschritte vorzunehmen und dadurch viele Menschen am Rande der Europäischen Union zu enttäuschen. Im Vordergrund steht jetzt ganz eindeutig die Stärkung der Europäischen Union.
Von Riga aus ging es für mich über Stockholm weiter nach Tallin. Gemeinsam mit meinen Mitarbeiterinnen habe ich von Stockholm aus mit einer großen Fähre über Nacht das Meer überquert, am frühen Vormittag erreichten wir schließlich den Hafen von Tallin.
Die Fahrt durch die Schären – die Inselwelt Stockholms – ist traumhaft und bietet ein einmaliges Bild einer ruhigen, in sich ruhenden Meereslandschaft. Während dieser beeindruckenden Fahrt erfuhr ich von der Ablehnung der Europäischen Verfassung durch die französische Bevölkerung.

Das „NEIN“ steht fest

Ich war zwar nicht überrascht, aber dennoch betroffen von diesem NEIN aus Frankreich. Wie viele andere hatte ich noch einen kleinen Funken Hoffnung gehabt, dass die Stimmung im letzten Moment umschlagen und das, was ich als Vernunft ansehe, obsiegen würde. Es ist anders gekommen. Frankreich hat überwiegend NEIN gesagt – vor allem auch eine Mehrheit der sozialdemokratisch orientierten Wählerinnen und Wähler, wie sich später herausstellte.
Wir hatten in den letzten Tagen bereits erschöpfend über das wahrscheinliche Abstimmungsergebnis in Frankreich diskutiert. Es war eine Mischung von verschiedensten Überlegungen, Argumenten und Emotionen, die zu diesem Ergebnis geführt haben. Es waren rechts gerichtete, nationalistisch gewandte Argumente. Argumente, die allen Unmut über die Globalisierung und die Erweiterung der Europäischen Union zum Ausdruck gebracht haben. Und es war zweifellos auch ein Teil der Wählerinnen und Wähler, die in dieser Verfassung kein starkes Europa gesehen haben.

Illusionen

Dabei wird ein starkes Europa oft mit einem starken Frankreich gleichgesetzt bzw. mit einem Europa, das die französische Bevölkerung vor den Auswirkungen der Globalisierung und den neuen Wettbewerbsverhältnissen verschonen kann. Hinter dieser Denkweise stecken zahllose Illusionen.
Man kann zwar Entwicklungen verzögern bzw. abfedern und dabei helfen, neue Arbeitsplätze entstehen und neue Produkte mit höchsten Qualitätsansprüchen erzeugen zu lassen. Aber man kann Frankreich oder ein anderes Land in Europa ganz bestimmt nicht mittel- und langfristig aus dem internationalen globalen Wettbewerbsverhältnissen herausnehmen. Das ist weder möglich noch wäre es gegenüber den ärmsten Ländern dieser Welt fair und moralisch vertretbar.

Große Enttäuschung

Die Debatte über das NEIN in Frankreich und das vorhersehbare NEIN in Holland hat unsere Fraktionstagung in Tallin dominiert. Und die Enttäuschung war fast allen Mitgliedern unserer Fraktion ins Gesicht geschrieben – eine Enttäuschung über das NEIN jenes Landes, das eines der Gründerländer der Europäischen Union war.
Es ist schwierig, jetzt die notwendigen Schritte zu setzen. Einerseits muss man das NEIN zur Kenntnis nehmen, muss darauf eingehen und die Motive erforschen. Andererseits ist es notwendig, auch die JA-Stimmen, die es in Frankreich selbst und davor bei Befragungen in Spanien und vielen anderen Ländern gegeben hat, zu berücksichtigen. Lediglich diejenigen, die – aus welchen Gründen auch immer – NEIN gesagt haben, pfleglich und sorgsam zu behandeln, genügt nicht. Wir dürfen jene Menschen in Europa, die trotz vieler Lügen und Verzerrungen, die in Zusammenhang mit der Verfassung kolportiert wurden, mit JA gestimmt haben, auf keinen Fall vernachlässigen.

Irritationsfaktor Erweiterung

Zweifellos hat die Frage der Erweiterung eine große Rolle gespielt. Viele fürchten, dass die Erweiterung die Europäische Union so grundlegend verändert, dass Frankreich und auch einige andere Länder nicht mehr den Ausschlag für die wichtigen Entscheidungen der EU geben. Es kommt nicht von ungefähr, dass gerade in zwei EU-Gründungsländern – in Frankreich und den Niederlanden – mit NEIN gestimmt wurde. Und man hat nicht zu Unrecht das Gefühl, dass in diesen beiden Ländern auch die Entwicklung zu einer größeren Union mit Unbehagen gesehen worden ist.
Schon als Österreich, Schweden und Finnland der EU beigetreten sind, hat das ein gewisses Unbehagen ausgelöst. Und wahrscheinlich haben auch die so genannten Sanktionen gegen Österreich einen Ursprung darin, dass man dieses neue Mitgliedsland gewissermaßen sanktionieren und zur Ordnung rufen wollte, weil es eine Regierung gebildet hat, die verdächtigt wurde, sehr antieuropäisch zu agieren und die die Gründungsphilosophie – die Verhinderung von Faschismus und Krieg – nicht zu achten.

Aus dem Bauch heraus

Jetzt sind weitere Länder hinzugekommen, und mit ihnen auch die einen oder anderen Probleme – zumindest wurden Probleme, die sich entwickelt haben, etwa die hohe Arbeitslosigkeit, in Verbindung mit der Erweiterung gesehen. Gerade in Frankreich und Holland hat die Erweiterung aber keinen Beitrag zur Arbeitslosigkeit geleistet.
Aber es geht nicht um Realentwicklungen, sondern um das, was viele Menschen subjektiv empfunden haben. Und da war und ist die Erweiterung Teil der Globalisierung, Teil der Öffnung der Europäischen Union, Teil davon, dass neue Entscheidungsverhältnisse gegründet werden und damit ein gewisser Macht – und Einflußverlust der Ursprungs- und Gründungsmitglieder der Europäischen Union erfolgt.

Und Österreich?

Natürlich muss man sich fragen, wie eine Befragung in Österreich ausgegangen wäre. Ich bin mir über das mögliche Ergebnis nicht sicher. Auch wenn die Verfassung bei uns prinzipiell eine breite Zustimmung findet, hätte all das, was in Österreich in Zusammenhang mit Neoliberalismus, einer späteren Mitgliedschaft der Türkei, des Balkans, etc. verbreitet worden wäre, ebenfalls einen Meinungsumschwung bringen können.
Angesichts der Probleme, die mit der Erweiterung diskutiert worden sind, ist das durchaus vorstellbar. Wenn man sich aber die empirischen Studien ansieht und sich auch ein bisschen umhört, dann sieht man, dass gerade Österreich von der Erweiterung profitiert hat bzw. die notwendigen Schritte seitens vieler Unternehmungen gesetzt worden sind, um an diesem Erweiterungsprozess voll teilhaben zu können. Und zwar nicht so sehr durch eine Verlagerung von Arbeitsplätzen – ich verschweige nicht, dass das da und dort passiert ist -, sondern vor allem durch ertragreiche Investitionen in unseren Nachbarländern. Ich denke etwa an die Banken, an die Versicherungen, an den Kauf der größten rumänischen Erdölfirma, etc.

Chancen nützen

Österreichische Firmen haben durch die Erweiterung zusätzliche Gewinne erzielt und konnten so ihre Bilanzen und ihre Wirtschaftskraft konsolidieren – und das kommt letztendlich auch den ArbeitnehmerInnen zugute. Ein Unternehmen, das gut verdient, ist ein Unternehmen, das investiert und Arbeitsplätze schafft. Ein Unternehmen hingegen, das die Chancen der Erweiterung nicht wahrnimmt und glaubt, sich abschotten zu können, verliert letztendlich an Profitabilität und versucht in der Folge, die Gewinnsituation durch Kündigungen zu verbessern und die Ausgangslage so wieder herzustellen.
Zweifellos hat die Tatsache, dass der Arbeitsmarkt für unsere Nachbarländer nicht sofort freigegeben wurde, dazu beigetragen, dass Österreich von machen Problemen verschont geblieben ist. Allerdings muss man dazu sagen, dass hier ein Weg gefunden werden muss, dass jedenfalls kostengünstige Produktionen – ob im Inland oder im Ausland – insgesamt zu Produkten führen, die auch in Österreich, in Europa und auf dem Weltmarkt abgesetzt werden können.

Unterschiedliche Wege

Große Unternehmungen – und das ist nun einmal so und kann nicht geändert werden – haben entsprechende Wahlmöglichkeiten. Man muss also die verschiedensten Faktoren mitberücksichtigen. Und will man nicht die Löhne und Steuern gegen Null senken, dann muss man danach trachten, immer wieder neue und qualitativ hochwertige Produkte herzustellen. Dazu wird es notwendig sein, Ausbildung und Bildung permanent zu verbessern – und zwar nicht nur in den ersten Lebensjahren, sondern lebensbegleitend.
Es ist keine gemütliche und einfache Welt, in der wir uns befinden – wahrscheinlich ungemütlicher als die 60er und 70er Jahre. Dennoch gibt es Entwicklungen, die wir nicht ändern können. Sehr wohl können wir allerdings unterschiedliche Wege gehen. Wir können den neoliberalen Kurs gehen – runter mit den Löhnen, den Steuern, den Leistungen der öffentlichen Hand, um auf einem sehr niedrigen Niveau mit den Ländern Osteuropas, China und Indien konkurrenzieren zu können. Das halte ich für unsinnig, nicht machbar und schädlich.

Die Alternative

Die Alternative ist aber nicht, einfach so zu bleiben, wie man ist und sich abzuschotten. Diesem Vorwurf sehen sich gerade die Franzosen ausgesetzt. Die Alternative besteht vielmehr im Erbringen hoher Leistungen. Allerdings bedarf es parallel dazu eines sozialen Netzes, damit, wenn Leistungen nicht erbringbar, Produkte nicht absetzbar sind und Arbeitslosigkeit entsteht, diese Arbeitslosigkeit nur kurz eintritt und die Menschen durch Schulungen und Umschulungen auf neue Möglichkeiten vorbereitet werden.
Es ist zwar sehr angenehm, lange Zeit in demselben Job zu sein und sich nicht bemühen zu müssen, diesen zu halten bzw. einen neuen Job zu finden. Den Menschen allerdings vorzugaukeln, dass dies möglich ist, ist eigentlich ein Verbrechen. Es weckt Illusionen, die nicht eingehalten werden können und die den Nährboden für antidemokratische Parteien und Entwicklungen bereiten.

Das nordische Modell

Gerade Estland, das eigentlich ein Entwicklungsland ist, versucht einen Weg hoher Leistungen zu gehen. Aufgrund der im Land herrschenden Armut und vielleicht auch aufgrund einer gewissen politischen Ideologie der Regierungsparteien ist dieser Weg aber mit zu wenigen sozialen Leistungen verbunden.
Für uns SozialdemkraInnen in Europa ist in diesem Zusammenhang das nordische Modell kein Modell schlechthin. Kein Konzept kann ohne Adaptionen und Veränderungen auf die eigene nationale Situation oder auf Europa insgesamt übertragen werden. Beim nordischen Modell gibt es ein höheres Maß an Flexibilität von Kündigungsmöglichkeiten. Aber es verfügt über ein dichtes soziales Netz, das eng mit Ausbildung und Weiterbildung verbunden ist. Das bringt kurze Verweildauer in der Arbeitslosigkeit. Im Übrigen geht ja nicht immer nur um Kündigungen durch den Arbeitgeber, sondern auch durch die ArbeitnehmerInnen – etwa, wenn sie unzufrieden mit ihrem Gehalt oder den Arbeitsbedingungen sind. Bei einem entsprechenden sozialen Netz und einem größeren Ausmaß an Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten fällt es wesentlich leichter, einen solchen risikoreichen Schritt zu unternehmen.

Paavo Lipponen, Mann der Mitte

Auch in Tallin haben wir über das Nordische Modell diskutiert, ebenso wie über die Konsequenzen, die wir aus den Referendums-NEIN in Frankreich und Holland zu ziehen haben. Die Regie wollte es, dass wir bei dieser Gelegenheit zudem über Russland und die Ostdimension der Europapolitik gesprochen haben. Zu diesem Zweck war der frühere finnische Ministerpräsidenten und jetzige Parlamentpräsident Paavo Lipponen eingeladen worden.
Ich hatte die Gelegenheit, am Abend und am Morgen des zweiten Tages der Fraktionstagung sehr ausführlich mit Paavo Lipponen zu sprechen. Er ist ein sehr ruhiger, besonnener, aber klar denkender Sozialdemokrat, der leider nicht Präsident der Europäischen Kommission geworden ist – obwohl er das angestrebt hat. Lipponen ist ein Pragmatiker. Er sieht durchaus die Notwendigkeit einer Kombination von Liberalisierungs- und Öffnungsschritten des Marktes. Aber er sieht auch die Notwendigkeit der sozialen Komponente. Er ist, wenn man so will, ein richtiger Sozialdemokrat, der in der Mitte des politischen Spektrums angesiedelt ist. Vor allem kommuniziert er äußerst geschickt mit der Bevölkerung. Dennoch gab es keine dritte Amtsperiode für Paavo Lipponen, wobei die Sozialdemokraten nach wie vor in der Regierung vertreten sind und er sicher noch einen maßgebenden Einfluss auf die Europapolitik Finnlands hat.

Mit Augenmaß vorgehen

Unterm Strich unserer Beratungen in Tallin bleibt die Tatsache, dass wir nach dem NEIN mit Augenmaß vorgehen müssen. Wir müssen uns davor hüten, in Europa keine Verfassung zu haben, keine weiteren Erweiterungsschritte vorzunehmen und dadurch viele Menschen am Rande der Europäischen Union zu enttäuschen. Und wir müssen uns davor hüten, dass wir in Europa keine aktive Außen- und Sicherheitspolitik haben, wenn wir darauf verzichten, eine gemeinsame Politik und einen gemeinsamen Außenminister zu etablieren.
Im Vordergrund steht jetzt ganz eindeutig die Stärkung der Europäischen Union. Entweder geht das mit einer neuen Verfassung, zu der wir im Laufe der nächsten zwei bis drei Jahre kommen oder zumindest dadurch, dass wir wesentliche Teile der bestehenden Verfassung übernehmen, ohne einen Gesamtwurf zu vollziehen. Zudem müssen wir über weitere Schritte der Erweiterung nachzudenken. Das heißt allerdings nicht, dass die schon begonnenen Schritte zurückgenommen werden sollten – dies betrifft Bulgarien, Rumänien, in weiterer Sicht Kroatien sowie die Türkei. Auch das setzt jedenfalls eine Stärkung dieser Europäischen Union voraus.
Tallin, 30.5.2005