Panta rhei

Die Ampel für die Türkei steht derzeit auf Gelb, und sie kann auf Rot oder Grün umschalten – das ist alles noch offen.
Diesen Monat fanden zwei Straßburg-Wochen mit den entsprechenden Plenarsitzungen statt. In der vergangenen Woche ging es dabei zweimal um Fragen der Erweiterung der Europäischen Union.

Kommissionsempfehlung: 2007

Zum einen standen Bulgarien und Rumänien auf der Tagesordnung. Vor einiger Zeit wurde weitgehend festgelegt, dass diese beiden Länder entweder 2007 oder, wenn sie nicht genügend Fortschritte machen, 2008 der Union beitreten sollen. Viele Belange sind ja bereits auf dem richtigen Weg, allerdings bestehen vor allem im Justiz- und Innerenbereich, insbesondere bei der Unabhängigkeit der Justiz, noch einige Mängel.
Mein Kollege Jan Marinus Wiersma und ich hatten uns bereits vorige Woche bei den zuständigen Spitzenbeamten über den aktuellen Stand erkundigt und Dienstag früh ein Gespräch mit Erweiterungskommissar Oli Rehn geführt, bevor nachmittags die Linie der Kommission offiziell bekannt gegeben worden ist. Diese empfiehlt eindeutig, den Beitritt 2007 durchzuführen. Ausschlaggebend sind dabei allerdings die so genannten Sicherheitsklauseln, d.h. das Setzen allfälliger Maßnahmen, die verhindern sollen, dass es negative Rückwirkungen gibt. Durch die Sicherheitsklauseln können beispielsweise Geldflüsse gestoppt oder eingefroren werden, wenn nicht gewährleistet ist, dass das Geld gemäß den vorgesehenen Regeln verwendet wird.

Restrisiko

Letztendlich besteht ohne Zweifel ein gewisses Risiko. Unter den bestehenden Mitgliedsländern ist man sich aber einig, dass in den vergangenen Monaten einige deutliche Fortschritte gemacht worden sind, und dieses Argument wurde von der Kommission hinsichtlich eines Beitrittes 2007 berücksichtigt.
Auch mein persönlicher Eindruck auf Grund verschiedener Gespräche deckt sich mit diesem Argument. Dennoch bleibt nach wie vor ein gewisser Zweifel, ob es vom Rat – also den Staats- und Regierungschefs – richtig gewesen ist, das Jahr 2007 als Zieltermin zu setzen oder ob man hier nicht besser mit offenem Termin verhandeln hätte.

Die Ampel für die Türkei steht auf Gelb

Die zweite Erweiterungsdiskussion ergab sich im Zusammenhang mit der Türkei. Die Verhandlungen mit der Türkei wurden ja bekanntlich eröffnet. Sie gehen allerdings nicht sonderlich rasant voran, weil sich eine Reihe von Schwierigkeiten stellen. Dennoch hat die Kommission bisher noch keinerlei Empfehlungen abgegeben, die Verhandlungen zu stoppen oder zu unterbrechen.
Wir sind mit dem Fortschritt der Menschenrechtsentwicklungen und der demokratischen Entwicklungen in der Türkei zweifellos nicht besonders zufrieden. Und die Kurdenproblematik stellt nach wie vor ein tief greifendes Problem dar, das einer wirklichen Lösung in keiner Weise näher gekommen ist. Das liegt zum Teil am wiederaufflammenden Terrorismus auf Seiten der PKK, und es liegt zum Teil am Militär, das verhindert, dass die Regierung sich den kurdischen Bewegungen politisch annähert. Auch das Justizsystem, das erneut einige Bürgermeister aus kurdischen Städten mit Gerichtsverfahren bedroht, spielt eine Rolle. Trotzdem ist aus meiner Sicht zumindest jetzt noch nicht der Zeitpunkt gekommen, um die Verhandlungen mit der Türkei zu unterbrechen. Die Ampel steht derzeit auf Gelb, und sie kann auf Rot oder auf Grün umschalten – das ist alles noch offen.

Damoklesschwert Zypern

Ein weiteres Damoklesschwert ist die Zypern-Frage. Die Türke hat noch immer nicht ihre rechtliche Verpflichtung erfüllt, Zypern offiziell anzuerkennen und die Häfen und Flughäfen für zypriotische Schiffe und Flugzeuge zu öffnen. Auf der anderen Seite blockieren die Zyprioten leider immer noch die verschiedenen Unterstützungsmaßnahmen, insbesondere den direkten Handel mit der türkischen Bevölkerung im Norden der Insel.
Wir hatten dieser Tage den Vorsitzenden unserer sozialdemokratischen Schwesterpartei aus Zypern eingeladen und mit ihm ein Gespräch geführt. Die Partei ist an der Regierung beteiligt, eine Regierung, die aus meiner Sicht vor allem durch ihren Präsidenten Papadopolous äußerst geringes Interesse zeigt, die derzeitige Blockade in den Gesprächen zwischen Nord und Süd zu überwinden.

Verhandlungen werden weitergeführt

Nun, die Abstimmung im Europäischen Parlament ergab mit einer großen Mehrheit, dass die Verhandlungen mit der Türkei mit dem Ziel einer Mitgliedschaft trotzdem weitergeführt werden sollen. Diese Mehrheit entstand nicht zuletzt auch deshalb, weil es sehr viele kritische Anmerkungen gegenüber der Türkei und den inneren Fortschritten gegeben hat. Daraus eine entsprechende Schlussfolgerung zu ziehen, ist allerdings schwierig.
Auch bei den Nein-Stimmen gab es einige, die gegen den Bericht gestimmt haben, weil er ihnen zu positiv war und andere, die dagegen gestimmt haben, weil er ihnen zu negativ war. In diesem Sinn können also auch die Nein-Stimmen nicht eindeutig zugeordnet werden. Dass die ganz Rechte, unter ihnen Le Pen und seinesgleichen, gegen die Türkei gestimmt haben, ist nachvollziehbar. Ebenso wie die Tatsache, dass die Grünen dafür gestimmt haben.

Fuad Siniora, Ministerpräsident des Libanon

Eine andere außenpolitische Debatte, die wir in Straßburg geführt haben, war die Diskussion mit dem Ministerpräsidenten des Libanon. Ministerpräsidenten, sofern sie nicht die Funktion des Ratsvorsitzenden ausüben, haben üblicherweise kein Rederecht im Parlament. Aus diesem Grund wurde die Sitzung des Parlaments offiziell unterbrochen und eine so genannte offene Konferenz der Präsidenten, an der allen Abgeordneten teilnehmen können, einberufen.
Der libanesische Ministerpräsident Fuad Siniora hat keinen Zweifel daran gelassen, wer für ihn der Hauptschuldige in der Krise und im vergangenen Krieg ist. In meiner Rede habe ich darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, dass die Nachbarn dem Libanon endlich ermöglichen, sich in Ruhe entwickeln zu können. Beim anschließenden Abendessen, bei dem ich neben dem Ministerpräsidenten zu sitzen kam, habe ich ihm unsere Eindrücke über unsere Reise in Syrien wiedergegeben. Siniora und seine Begleiter waren sehr interessiert zu erfahren, wie wir die syrische Haltung einschätzen. Sie selbst haben keinen engen Kontakt mit Syrien und Präsident Assad, was eigentlich schade ist. Die Spannungen nach der Ermordung des früheren Ministerpräsidenten Hariri spielen dabei aber zweifellos eine zu große Rolle.

Migrationsproblematik

Eine andere Debatte, an der ich ebenfalls kurz teilgenommen habe, widmete sich der Migration. Die Zuwanderung, insbesondere in den Süden Europas, hat jüngst zu großen Schlagzeilen geführt. Viele Menschen, vor allem aus dem Norden Afrikas, kommen heute nach Spanien. Aber, und das hat mich verwundert, es sind eigentlich viel mehr Menschen aus anderen Regionen, insbesondere aus Osteuropa, direkt oder indirekt nach Spanien eingewandert. Sie haben nicht die Meeresstrecke genommen, sondern wurden durch eine Reihe von europäischen Ländern durchgeschleust.
Vor diesem Hintergrund trifft das oft zitierte Argument, Spanien sei selbst schuld, weil es eine große Anzahl von illegalen Flüchtlingen legalisiert hat, insofern nicht zu, als die Legalisierung nur zu einem kleinen Teil die heute verstärkt aus dem afrikanischen Raum Kommenden betrifft, sondern all jene betroffen hat, die über jene Länder zugewandert sind, die sich heute sich groß aufspielen und Spanien eine völlig falsche Migrationspolitik vorwerfen.

Europäische Migrationspolitik fehlt

Trotzdem steht fest, dass wir mit Migration nicht so umgehen können wie bisher. Die Tatsache, dass es keine europäische Migrationspolitik gibt, ist völlig unbefriedigend. Wiederholte Hinweise von Ministern – besonders aus dem Norden und aus Deutschland – Migration könne nur national erfolgen, sind entbehrlich. Dies ist aufgrund der offenen Grenzen des Schengenraumes gar nicht möglich. Daher brauchen wir eine intensive Migrationspolitik, die nicht nur eine Polizeipolitik oder eine Politik des Grenzschutzes nach Außen ist und sich auf die Absicherung der Festung Europa konzentriert.
Eine europäische Migrationspolitik muss vielmehr alle Fragen der Migration und der Integration mit einschließen. Fragen auf folgende Antworten müssen gefunden werden: Können wir in jenen Ländern investieren und jenen Ländern koordiniert helfen, aus denen die Zuwanderung kommt? Wie können wir den Ländern helfen, die derzeit eher als Durchgangsländer dienen? Und wie können wir auf der anderen Seite auch die so genannten Pull-Faktoren wie das Angebot illegaler Arbeitsplätze durch Unternehmer auf europäischer Seite vermeiden?

Am Ball bleiben

Ich habe daher darauf gedrängt, dass wir in unserer Fraktion eine Arbeitsgruppe einsetzen, die sich detailliert mit den verschiedenen Aspekten befasst, parallel zu einer Arbeitsgruppe, die auch in der Kommission eingesetzt worden ist. Genau das werden wir jetzt auch tun. Und ich werde weiter – obwohl ich kein Spezialist auf diesem Gebiet bin – im Bewusstsein, wie wichtig diese Frage ist, darauf drängen, dass wir hier Fortschritte erzielen.

Straßburg, 27.9.2006