Polnischer Zweckoptimismus

Kulturell und von den geschichtlichen Auseinandersetzungen her müsste Polen ein starkes Interesse haben, in diesem Europa eine entscheidende Rolle zu spielen. 
Gestern Mittag bin ich nach Warschau gekommen. Ein strahlend blauer Himmel hat mich in Wien verabschiedet und in Warschau begrüsst.
Warschau ist eine sehr grüne Stadt mit vielen Parks und Alleen. Vielleicht befindet sich heute mancher Park dort, wo vor dem Krieg Häuser standen. Warschau hat sich jedenfalls, seit ich das erste Mal hierher kam, stark verändert. Die Stadt ist viel lebendiger und viel weniger dunkel und düster geworden – wenngleich der sonnige Tag heute eine besonders freundliche Atmosphäre schafft.

Übergangsregelungen bei Grundstückskauf

Gestern Mittag gab der Österreichische Botschafter in Warschau, Dr. Wolfgang Steininger, anlässlich meines Besuches einen Empfang, bei dem ich viele hochrangige Vertreter des Außenministeriums getroffen und manches interessante Gespräch über den Erweiterungsprozess und die entsprechenden Verhandlungen geführt habe. Natürlich stand dabei in erster Linie die Frage der Freizügigkeit beim Arbeitnehmerverkehr im Mittelpunkt.
Aber auch die Frage der Übergangsregelungen beim Ankauf polnischer Grundstücke durch so genannte EU-Ausländer spielte eine Rolle. Der Vertreter der EU-Kommission in Warschau machte mich in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass die österreichische Regelung, die darauf abzielt, dass eine gewisse Mindestanwesenheitszeit in einer Gemeinde gegeben sein muss, um ein Grundstück zu erwerben – unabhängig ob Inländer oder Ausländer – auch für Polen beispielgebend sein könnte.
An dem Empfang nahm auch der frühere österreichische Botschafter, Dr. Schmid, teil. Schmid verhandelt heute in Polen die Frage der Kompensation für Zwangsarbeiter und ist sehr zuversichtlich für einen baldigen Abschluss dieser Gespräche. Er hat sich ausserdem sehr angetan von der großen Bereitschaft der polnischen Vertreter gezeigt, in dieser Frage zu einer vernünftigen Regelung im Interesse der Zwangsarbeiter zu kommen.

Ikone gegen Engstirnigkeit und Nationalismus

Nachmittags, nach dem Besuch einiger Ausstellungen moderner Kunst, trafen wir den Herausgeber und Chefredakteur der größten Zeitung Polens, der „Gazeta Wyborcza“. Adam Michnik ist eine Ikone, ein Idol, ein Symbol für die beharrliche Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Regime, die Änderung des Kommunismus und den Übergang zu einer Demokratie. Michnik war und ist ein vehementer Vertreter der Freiheit und ein Kämpfer gegen Engstirnigkeit und Nationalismus. Gerade deshalb hat er es sich mit manchen seiner früheren Freunde verscherzt. Er ist Vertreter einer radikalen Mitte. Und in dieser Position ist Michnik nach wie vor eine wichtige Persönlichkeit im gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben Polens.
Michnik pflegt inzwischen gute Beziehungen zum „post-kommunistischen“ Präsidenten Kwasniewski. Er ist ein Kritiker des rechtsgerichteten „Radio Maria“ und auch des sehr konservativen Episkopats. Und er bewundert Papst Johannes den II. als einen Mann, der sehr mutig und kräftig ist und gerade jüngst auch durch seinen Besuch in Israel, Syrien und den orthodoxen Ländern gezeigt hat, dass man nach vorne schauen und für neue Begegnungen und den Dialog offen sein muss. Dabei ist Michnik durchaus bewusst, wie konservativ der Papst in religiösen Angelegenheiten ist.

Fehlender Gestaltungswillen

Die Verhältnisse in Polen, die Zukunft Polens in der Europäischen Union, die Situation am Balkan und vieles andere mehr gehörte zu dem Gespräch zwischen Adam Michnik, dem Leiter des österreichischen Kulturinstitutes, Andreas Stadler, und mir selbst. Mir fiel auf, dass Michnik ein begeisterter und engagierter Europäer ist, dessen Vorstellungen, wie dieses Europa sich weiterentwickeln soll, wenn Polen in die Europäische Union will, aber eigentlich sehr schwach ausgeprägt sind. Europa ist für ihn mehr eine Heimat, die als solches wichtig ist, die existiert, in die man eintreten muss. Die Frage, wohin es gehen soll, spielt für ihn dagegen keine grosse Rolle.
Der Hinweis auf die Kritik an Europa und die innereuropäische Debatte entlockten Michnik nur ein Lächeln und er meinte dazu: „Ja, ja, ich weiss schon. Es gibt Kritik an der Bemessung der Gurkenkrümmung und anderes mehr. Aber so ist es nun mal im Leben. Wir müssen dazu gehören.“ Das erinnerte mich an die Bemerkung, die ich bei meinem letzten Besuch von einem Vertreter des Verteidigungsministeriums gehört hatte: „Wir wollen in die Europäische Union, weil das ganz einfach normal ist. Und wir wollen normal sein!“

Eingeholt von der Geschichte

Um ähnliche Fragen ging es auch am Abend bei einem Empfang, den Andreas Stadler bei sich zu Hause gab. Wieder waren Vertreter des Kultur- und Medienlebens anwesend, und auch der Rektor der Universität sowie ein interessanter führender Journalist des Landes, Adam Krzeminski von der Zeitschrift „Polityka“, zählten zu den Gästen. Mit Krzeminski gab es besonders intensive Diskussionen, ausgehend von der polnischen Geschichte über die heute noch stattfindende Auseinandersetzung hinsichtlich der Mitverantwortung mancher Polen an der Verfolgung der Juden bis hin zur Zukunft Europas.
Sowohl für Adam Michnik als auch für Adam Krzeminski war und ist diese Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, verbunden mit dem Ort Jedwabne eine besonders wichtige. In Jedwabne wurden am Beginn des Krieges viele Juden getötet. Und was eigentlich nur den Deutschen zugeschrieben worden war, ist auch hier unter Beteiligung vieler polnischer, nicht jüdischer Bewohner dieses Ortes geschehen. Das wurde natürlich zuerst vehement abgestritten, hat sich aber dann doch zum Teil als richtig herausgestellt.
Die Frage, in wie weit man sich dafür entschuldigen bzw. sich dazu bekennen muss, wie weit das kein Einzelfall war, sondern es auch in anderen Fällen eine solche Mitverantwortung an Judenmorden durch Polen gegeben hat – all das steht heute im Mittelpunkt heftiger Diskussionen. Präsident Kwasniewski hat versucht, diese Mitverantwortung durch eine starke und eindeutige Erklärung nachträglich zu übernehmen und zum Selbstbewusstsein, zur Selbstkritik und zur Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte in Polen beizutragen.

Gesamtgesellschaftlicher Wandlungsprozess

Angesprochen auf die Frage, wer eigentlich die wesentlichen Veränderungen in Polen herbeigeführt habe und der tatsächliche Träger der Revolution in Polen sei, meinte ein Gesprächspartner: „Erstens hat es in Polen keine Revolution gegeben. Zweitens waren in Polen gewissermassen alle an diesem gesellschaftlichen Wandlungsprozesses beteiligt. Die Einen, weil sie die Kommunisten kritisiert und bekämpft haben. Die Anderen, weil sie letztendlich doch zum Dialog bereit waren – nach anfänglichem Widerstand. Und die Katholische Kirche, die zuerst Kompromisse mit den Kommunisten eingegangen ist, aber dann doch mitgeholfen hat, die Dinge zu verändern.“
Genau das zeichnet die polnische Situation aus. Die Veränderung erfolgte nicht nur durch die Solidarnosc. Alle gesellschaftlichen Gruppen können zumindest für sich behaupten, Mitträger dieses Veränderungsprozesses gewesen zu sein.

Hohes intellektuelles Niveau

Ich testete bei dieser Gelegenheit meine These, dass wir, wenn wir von Europa sprechen, nicht immer nur über die Vergangenheit und die Gegenwart von Europa diskutieren dürfen, sondern Europa eigentlich neu erfinden müssen. Dieser Gedanke war bei einigen Diskussionsteilnehmern sehr umstritten.
Allerdings meinte mein journalistischer Gesprächspartner: „Sie haben eigentlich Recht. Die Europa-Idee ist wie Zellolid, auf dem ein Film unterschiedlichen Inhaltes gedreht werden kann. Der Gedanke als solches ist relativ neutral, aber es muss erst ein Inhalt für dieses Europa gefunden und erfunden werden.“
Das Interessante an derartigen Diskussion in Polen ist, dass sie immens spannend sind und immer ein bisschen wie Streitgespräche ablaufen. Genau das fasziniert mich an diesem Land, und aus meiner Sicht sollte dieses Niveau der intellektuellen und politischen Auseinandersetzung auch in die Europäische Union hineingetragen werden.

Das Warschauer Schloss

Am nächsten Tag besuchten wir das Warschauer Schloss, das nach dem Krieg wieder aufgebaut worden ist. Der eigentliche Beschluss für den Wiederaufbau wurde ziemlich bald nach dem Krieg gefasst, es hat aber in der Folge viele Verzögerungen und auch Widerstände gegeben. 1979 hat man schliesslich mit dem Wiederaufbau begonnen, und dieser hat 10 Jahre gedauert.
Der Aufbau des Schlosses hat mich natürlich auch auf Grund meiner Berliner Aufgabe zur Vorbereitung der Bebauung des Schlossplatzes interessiert. In Warschau hat man sich für eine sehr konservative Wiedererrichtung des Schlosses mit vielen Bildern und Gegenständen, die auf die Tradition der polnischen Könige und die Kontinuität der Königshäuser hinweist, entschlossen. Schon gestern hat der von mir angesprochene Journalist und Politiker gemeint, die Kommunisten hätten deshalb für den Wiederaufbau des Schlosses votiert, weil sie der polnischen Gesellschaft beweisen wollten, dass sie in erster Linie Polen sind, die nicht von Moskau gesteuert werden, sondern wirklich die nationalen Interessen Polens im Auge haben. Und das hat auch bewirkt, dass Polen als erstes Land immer wieder Veränderungen im eigenen Land durchführen konnte, ohne dass es zu wirklichen Niederschlagungen à la Prag 1968 gekommen ist.
Aber das unterscheidet zugleich auch den Wiederaufbau des Warschauer Schlosses von einem möglichen Neubau mit Anlehnung an das Schloss in Berlin. Hier geht es nicht um die positive Demonstration der Kontinuität einer Nation, sondern vielmehr um die städtebauliche Situation im historischen Kontext.

Bürger zweiter Klasse?

Zu Mittag ging es weiter zum Chefverhandler der polnischen Regierung, Minister Kulakowski, den ich schon seit längerem kenne und mit dem ich ein sehr angenehmes, freundschaftliches Gespräch führte. Inhaltlich waren wir allerdings nicht in allen Fragen einer Meinung, so zum Beispiel beim Thema Freizügigkeit im Arbeitnehmerbereich und bei den Dienstleistungen.
Wie bei der nachfolgenden Diskussion, zu der die Friedrich-Ebert-Stiftung eingeladen hatte und bei der SPD-Geschäftsführer Müntefering das Hauptreferat hielt, stand auch hier die Kritik, dass durch die Übergangsregelungen im Zuge der EU-Erweiterung Bürger zweiter Klasse geschaffen würden, im Mittelpunkt. Ich entgegnete, dass durch die Übergangsregelung von Polen und anderen Erweiterungskandidaten ebenfalls Bürger zweiter Klasse geschaffen würden – nämlich in den EU-Staaten, die in diesen Erweiterungskandidaten zum Beispiel keine Grundstücke kaufen dürfen bzw. dies nur unter schwierigen Bedingungen oder nur mit starken Übergangsfristen tun können.
Insgesamt ist ja diese Frage schon etwas entdramatisiert und entemotionalisiert, aber natürlich gibt es noch immer entsprechende Diskussionen.

Emotionale und rationale Fragen

Ich fände es sehr viel vernünftiger, wenn die polnischen Politiker diese Frage weniger in den Vordergrund stellen würden. Deutschland und Österreich brauchen auf diesem Gebiet einen Kompromiss, und wenn es keinen Kompromiss gibt, kann es nicht zur Erweiterung kommen. Daher sollte man diese Frage nicht so emotional betrachten, wie das bisher in der Vergangenheit geschehen ist. Im Übrigen meine ich nach wie vor, dass Polen sicherlich in der ersten Erweiterungsrunde sein wird und wir alle danach trachten sollten, Polen und möglichst viele Erweiterungsländer bereits so in die Europäische Union zu integrieren, dass sie 2004 aktiv an der Wahl zum Europäischen Parlament teilnehmen können.
Die wirklich heiklen Fragen liegen aber anderswo: Sie liegen bei der Finanzierung, genauer bei der Aufteilung der Finanzierung auf die Nettozahler und Nettoempfänger, gerade im Zusammenhang mit der Regional- und Kohäsionspolitik. Es ist höchst an der Zeit, diese Kernfragen zu lösen, denn sonst wird es eng. Hier geht es ums Eingemachte: Es geht ums Geld.

Auf zu neuen Ufern

An diesem nach wie vor schönen und heißen Nachmittag verließ ich Warschau in Richtung Berlin. Deutschland und Polen sind zwei große Länder, die die nördliche Mitte bis nach Westen und Osten besetzen, die, wenn sie gemeinsam an einem Strang ziehen – und das haben aus meiner Sicht beide Länder vor – unendlich viel erreichen können, nicht nur zur Stabilisierung der geografischen Mitte, sondern auch zur Stärkung Europas insgesamt. Zur Stärkung eines Europas, das auch im Hinblick auf die USA nicht an Gegnerschaft, aber an Eigenständigkeit gewinnen muss.
Ob Polen dazu bereit ist, kann ich noch nicht sagen. Aber es ist aus meiner Sicht stärker bereit als noch vor einigen Jahren. Ich hoffe, dass Polen sich zunehmend auch mit diesem Europa identifiziert, dass es nicht nur dabei sein möchte, sondern auch an der Stärkung dieses Europas mitarbeiten möchte. Kulturell und von den geschichtlichen Auseinandersetzungen müsste Polen eigentlich ein starkes Interesse haben, in diesem Europa eine große entscheidende Rolle zu spielen. Ich würde mir das jedenfalls wünschen.  
Warschau, 24.5.2001