Post-Georgien-Strategien

Europa muss positive Angebote an unsere östliche Nachbarschaft – also die Ukraine und die Länder des Südkaukasus – machen.
In der vergangenen Fraktionswoche beschäftigen wir uns vor allem mit der Situation in der östlichen Nachbarschaft der EU nach der Georgien-Krise.

Stufenweise Integration

Wir hatten dazu eine Reihe von Veranstaltungen, zu denen wir externe Gäste eingeladen haben. Den Auftakt bildete am Montag ein Seminar, bei dem die Entwicklung bezüglich NATO-Erweiterung bzw. das Verhältnis EU-NATO im Mittelpunkt stand. Wir waren uns ziemlich einig, dass es nicht darauf ankommt, mit Gewalt die NATO zu erweitern, sondern dass Europa positive Angebote an unsere östliche Nachbarschaft – also die Ukraine und die Länder des Südkaukasus – machen muss. Es gilt zu signalisieren, dass wir die betroffenen Länder stufenweise in ein weiteres Europa integrieren wollen, ohne heute bereits konkrete Aussagen über eine Mitgliedschaft treffen, geschweige denn ein konkretes Datum für eine solche Mitgliedschaft nennen zu können.
Es ist zweifellos eine schwierige Gratwanderung, einerseits nach außen positive Signale zu geben und andererseits nach innen nicht unmittelbaren Widerstand hervorzurufen und den Eindruck zu erwecken, man wolle die EU hemmungslos erweitern, ohne sich um deren Konsolidierung zu kümmern. Um so wichtiger wäre die Vertiefung der EU durch Ratifizierung und Umsetzung des Reformvertrages.

Salome Surabischwili, die ehemalige Außenministerin Georgiens

In den folgenden Tagen haben wir mehrer Gespräche mit einer Expertin geführt, die auf meine Anregung hin eingeladen worden ist: mit Salome Zurabischwili, der ehemaligen Außenministerin Georgiens. Sie ist französische Botschafterin in Georgien gewesen und wurde später von Präsident Saakaschwili anlässlich eines Besuches von Präsident Chirac als Außenministerin engagiert. Zurabischwili selbst stammt aus einer georgischen Familie, die in Frankreich im Exil gelebt hat. Nach einigen Differenzen wurde sie schließlich aus der georgischen Regierung geschmissen.
Jedes einzelne Gespräch mit ihr war äußerst interessant – ob es nun um Russland, um Georgien oder um die Chancen der Region insgesamt ging. Zurabischwili vertritt eine sehr pragmatische Position. Selbstverständlich ist sie Saakaschwili und seiner Regierung gegenüber extrem kritisch eingestellt. Sie ist heute einer der führenden Oppositionskräfte in Georgien. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie auf der Seite Russlands steht. Zurabischwili plädiert vor allem für ein stärkeres Engagement der Europäischen Union in dieser Region.

Europäische Interessen vertreten

Gegenüber unserer Idee einer Schwarzmeerunion hegt Zurabischwili eine Distanz, weil sie gegenüber neuen Institutionen generell kritisch ist – aber das bin ich auch. Meine KollegInnen und ich haben argumentiert, dass die europäische Nachbarschaftshilfe, die jeweils bilateral zwischen der EU und den einzelnen Ländern erfolgt, nicht der Aufgabe gerecht wird, in dieser Region für gemeinsame Infrastruktur, gemeinsame Energiepolitik oder gemeinsame Migrationspolitik zu sorgen und wir deshalb eine multilaterale Struktur brauchen. Es handelt sich aber ohnedies um eine Entscheidung, die nicht abstrakt getroffen werden, sondern nur in einem stufenweisen Prozess erfolgen kann, bis es zu einer Kooperation bzw. einer Union zwischen der EU und den Länder östlich der EU kommt.
Fest steht jedenfalls – und in diesem Punkt waren wir uns mit Zurabischwili einig – dass wir als Europäer unsere Interessen in dieser Region klar zum Ausdruck bringen sollten, was auch unser gutes Recht ist. Wir sollen und wollen gegenüber Russland signalisieren, dass es nicht allein eine russische bzw. amerikanische Einflusszone gibt, sondern dass eben auch europäische Interessen vertreten sein sollen – allerdings in Form einer Partnerschaft und nicht durch eine neokoloniale Herangehensweise, wie das manchmal bei Russland und Amerika der Fall ist. Gerade die Energieversorgung ist zum Teil von dieser Region abhängig – zumindest was den Transit betrifft – und daher sollten wir nicht zurückstecken.

Zwickmühle

Aus Zurabischwilis Sicht hat Europa durch die Präsenz europäischer Beobachter in Georgien bereits Fuß gefasst. Darüber hinaus sollte es aber auch eine sehr starke politische und wirtschaftliche Präsenz in dieser Region geben, um unsere Interessen entsprechend gut vertreten zu können. Natürlich müssen wir in diesem Kontext eine Kooperation mit der Türkei, aber vor allem mit Russland anstreben. Je mehr wir unsere klaren Interessen definieren, desto mehr ist eine solche Zusammenarbeit möglich – wenn die andere Seite das will. Und je mehr wir stark präsent sind, desto mehr wird sich die andere Seite nicht verdrängen lassen wollen, sondern zu einer Kooperation bereit sein.
Ich persönlich vertrete bekanntlich schon seit langem die Idee einer stärkeren Präsenz im Schwarzmeerraum, und ich meine, dass die EU in dieser Hinsicht bisher zu schwach vorgegangen ist. Es ging in diesem Zusammenhang allerdings immer auch um die Frage der Menschenrechte. Und das bringt uns natürlich in eine Art Zwickmühle: Zum einen möchten wir stärkere Verbindungen zu den verschiedenen Ländern aufnehmen und zum anderen wollen und können wir über Menschenrechtsverletzungen nicht einfach hinwegsehen. So steht beispielsweise das Bestreben, mit den zentralasiatischen Staaten Usbekistan und Turkmenistan intensive Beziehungen einzugehen in einem Widerspruch zu unserer eindeutigen Kritik zur Menschenrechtslage in diesen Ländern.

Wir können nicht überall alles erreichen

Wahrscheinlich wird uns nichts anderes übrig bleiben, als beides parallel zu verfolgen. Wir dürfen auch nicht glauben, wir könnten überall alles erreichen. Ich habe das in einer Diskussion im Zusammenhang mit dem Verhältnis Nato und EU festgehalten, bei der es in der weiteren Folge um Afghanistan ging. In Afghanistan schaut die Lage ja äußerst traurig aus. Kürzlich hat die afghanische Regierung selbst wieder versucht, Kontakt mit den Taliban aufzunehmen – und zwar mit der Spitze der Taliban in Saudi Arabien und unter Vermittlung Saudi Arabiens.
Das ist irgendwie grotesk. Zu Beginn des Konfliktes ging man mit einem UNO-Mandat gegen die Taliban vor und stürzte die Regierung. Und heute, nach vielen Jahren der Kämpfe,von Toten und Zerstörungen, sieht man keinen anderen Ausweg als erst wieder mit den Taliban zu reden und auszuverhandlen, dass die Taliban an der Regierung beteiligt werden und im Gegenzug dafür auf die Aufrechterhaltung der Kontakte zu Al-Kaida zu verzichten. Das stimmt natürlich traurig. Andererseits ruft es in Erinnerung, dass man sich darüber bewusst sein muss, dass manche Dinge nicht veränderbar sind – vor allem nicht militärisch. Ob Afghanistan in einigen Jahren letztendlich zur Gänze wieder in den Händen der Taliban sein wird, kann heute niemand sagen.

Internationale Strukturen schaffen

Die Entwicklung in Afghanistan erinnert mich ein bisschen an die Situation von Vietnam. Gestern lief auf ARTE eine Sendung mit einem ausführlichen Portrait des politischen Lebens von Henri Kissinger mit vielen Interviews. Eine Passage widmete sich Vietnam und zeigte die Steigerung der Kriegsaktivitäten der Amerikaner unter Nixon, die Bombardierung und den Einmarsch in Kambodscha, die Friedensverhandlungen und den erzielten Kompromiss, der letztendlich dazu geführt hat, dass ganz Vietnam in den Händen der Nordvietnamesen gelandet ist. Wenn man bedenkt wie viele Tote und wie viele Zerstörungen dem vorausgegangen sind und dass man das Ganze – salopp gesagt – auch billiger hätte haben können, dann ist das schon eine bedenkliche Situation.
Ich meine, dass viele Amerikaner diese Warnungen nicht verstanden haben. Das heißt nicht, dass man alles und jeden akzeptieren muss und soll. Die Überzeugung aber, man könne alles und jeden militärisch beeinflussen und verändern, ist absoluter Unsinn. Umso mehr muss man versuchen, internationale Strukturen zu schaffen. Und deshalb gilt es, auch mit Ländern, mit denen man inhaltlich oft nicht einverstanden ist, die aber generell eher an Frieden und Stabilität interessiert sind wie etwa Russland, zusammenzuarbeiten.

Brüssel, 14.10.2008