Postwar-Europe

Der große Historiker Tony Judt wurde für sein Buch über das Nachkriegseuropa „Postwar. A History of Europe Since 1945“ mit dem Bruno Kreisky-Preis für das politische Buch ausgezeichnet.
Gestern bin ich ausnahmsweise schon an einem Mittwochnachmittag nach Wien geflogen. Doch dafür gab es einen mehr als guten Grund: Am Abend wurde in der Diplomatischen Akademie der große Historiker Tony Judt für sein Buch über das Nachkriegseuropa „Postwar. A History of Europe Since 1945“ mit dem Bruno Kreisky-Preis für das politische Buch ausgezeichnet.

Preisträger Tony Judt

Ich konnte Judt als Vorsitzender der Jury, gemeinsam mit Alfred Gusenbauer, der die Laudatio gehalten hat, diese Auszeichnung überreichten und habe auch die Begründung der Jury vorgenommen. Tony Judt ist ein äußerst mutiger Mann, denn er hat die Tätigkeit der Israellobby in Amerika und damit auch die einseitige Einflussnahme der amerikanischen Politik scharf kritisiert.
Judt ist aber auch deshalb ein mutiger Mann, weil er ein sehr umfangreiches Werk über das Europa der Nachkriegszeit geschrieben hat. Ein Werk, das einerseits wissenschaftlich fundiert und andererseits gut lesbar ist und dabei immer spannend bleibt. Ein Werk also, das zugleich Literatur und Nachschlagwerk ist. Und ein Werk, das mit Judts persönlichen Einschätzungen, Interpretationen und Meinungen verknüpft ist und gar nicht erst versucht, objektiv zu sein.

Ein guter Platz, um über Europa nachzudenken

In meinen Ausführungen zur Einschätzung dieses Werkes habe ich verschiedene Punkte angeführt. Zunächst beginnt das Buch mit einem für einen Wiener bzw. einen Österreicher sehr interessanten Satz: „I first decided to write this book while changing trains at the Westbahnhof, Vienna´s main railterminal. Vienna in 1989 was a good place from which to think Europe.“ Ich bin der Meinung, dass das auch für Heute gilt und dass Wien nach wie vor ein sehr guter Platz ist, um über Europa nachzudenken, über Europa zu schreiben und auch europäische Politik zu betreiben.
1989 war zweifellos jenes Jahr, in dem ein neues Europa seinen Anfang nahm bzw. in dem eine unvollendete Aufgabe vollendet werden konnte, nämlich Ost und West zusammen zu bringen. Den armen Osten, für den Tony Judt den Ostbahnhof herangezogen hat und den reicheren und modernen Westen, für den gewissermaßen der Westbahnhof als Symbol dient. 1989 war also für Tony Judt der entscheidende Punkt, diese europäische Geschichte der Nachkriegszeit zu verfassen.

Selektives Vergessen

Natürlich hat der Einigungsprozess aber 1945 begonnen, und Judt stellt sich die Frage, wie damals ein neues Europa überhaupt denkbar oder realisierbar gewesen ist. Er meint dazu: „In the circumstances of 1945 in a continent covered with rubble there was much to be gain by behaving if all the past was indeed dead and buried and a new age about to begin.“ Es war notwendig, so Judt weiter, „a certain amount of selective collective forgetting“ herzustellen. Einige haben dieses selektive Vergessen und diese Notwendigkeit allerdings mit Amnesie, Verdrängung und dem Nicht-Auf- und Bearbeiten der eigenen Geschichte verwechselt. Auch dazu findet sich ein Zitat von Judt: „A nation has first to have remembered something before it can begin to forget it.“
Damit ist klar: Es braucht pragmatische Situationen und Menschen, die nicht permanent über die Wunden sprechen, die ihnen zugefügt wurden. Und es braucht wahrscheinlich auch Menschen, die Wunden zugefügt haben, und die bereit sind, etwas Neues zu schaffen. Mittel- und langfristig müssen diese Wunden auch bearbeitet werden, damit sie nicht immer wieder neu aufbrechen. Aber das sollte nicht verhindern, etwas Neues zu schaffen.

Geschichte von zwei verschiedenen Systemen

Die Geschichte nach 1945 war eine Geschichte von zwei verschiedenen Systemen – Ost und West. Und die Geschichte nach 1945 war damit auch eine Geschichte der Nachfolge des Hitlerschen Regimes und der Existenz und Nachfolge des Stalinschen Herrschaftssystems. Auch das ist nicht von heute auf morgen zu überwinden, und Tony Judt sagt dazu: „Europe might be united, but European memory remained deeply asymmetrical“.
Genau das zeigt sich heute täglich, gerade auch in der aktuellen Debatte über die Europäische Verfassung oder über die Einstellung der polnischen Regierung. Aber auch andere wohlmeinende Menschen weisen darauf hin, dass die Erfahrung, die viele nach 1945 gemacht haben, als sie einerseits befreit, aber andererseits doch wieder durch ein neues kommunistisches Regime besetzt worden sind, eine andere ist als die Erfahrung jener Länder, die nach 1945 durch den Sieg über das Naziregime wirkliche Freiheit genießen konnten. Tony Judt vergleicht die beiden Regime nicht miteinander, gibt aber vom Standpunkt der Opfer aus zu Verstehen, dass die Unterschiede der Motivation der Verbrecher, ob Stalin oder Hitler, doch nicht so entscheidend sind, wenn er schreibt: „Human suffering should not be celebrated according to the goals or the perpetrators“.

Sinnvolle Ergänzung

Eine Frage, die sich nach 1945 gestellt hat und die sich auch heute immer wieder stellt, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Europäischen Verfassung, lautet: Hat sich der Nationalstaat überlebt oder hat er nach wie vor eine Lebenschance? „What future was there for a separate European nation state, did they have a future?“ fragt auch Judt und gibt selbst die Antwort: „Keeping citizens safe is what they did do and there was no sign that Brussels, the European Union, would or could take on this responsibility in the foreseeable future.“
Nun, im Prinzip stimme ich Judt völlig zu. Die EU ersetzt den Nationalstaat nicht, sie ergänzt und verstärkt ihn und ermöglicht in manchen Fällen ein sinnvolles Handeln – insbesondere im Bereich der Sicherheit. Auch wenn die Sicherheitspolitik national geregelt ist, sobald es um die Abwehr von Terrorismus, um die Bekämpfung grenzüberschreitender verbrecherischer Organisationen – von Drogen- über Menschen- bis zu Waffenhandel – geht, kann man auf eine internationale und vor allem europäische Zusammenarbeit nicht verzichten, will man entsprechend funktionsfähig sein.

Offener Patriotismus

Natürlich stellt sich in jedem europäischen Zusammenhang auch die Frage der Grenzen Europas, und damit auch die Frage, ob das europäische Bewusstsein bzw. der europäische Patriotismus, ein enger, um nicht zu sagen engstirniger, oder ein offener, weiter sein soll. Tony Judt verweist auf Heinrich Heine, der seinerseits den deutschen vom französischen Patriotismus unterschieden hat. Der deutsche ist nach Heine eine sehr engstirnige Auffassung, eine Auffassung, wie er es formuliert, bei der „das Herz schrumpft wie das Leder in der Kälte“. Der französische Patriotismus ist für Heine hingegen weit und offen, eine Auffassung, die „die ganze zivilisierte Welt umarmt“.
Aus heutiger Zeit betrachtet würde ich den französischen Patriotismus nicht als sehr weit und weltumarmend bezeichnen, vor allem dann nicht, wenn ich an die Abstimmung der „Grande Nation“ zur Europäischen Verfassung denke. Und ich bin mir sicher, dass der deutsche Patriotismus heute offener ist als es früher der Fall war und auch offener ist als der französische Patriotismus. Und trotzdem: Diese beide stereotypischen Auffassungen vom Patriotismus stehen sich im Grundsatz in der EU gegenüber. Aus meiner Sicht ist allerdings nur jener Patriotismus, der Europa als ein offenes Konzept denkt – zwar nicht ohne Grenzen, aber mit einer gewissen Durchlässigkeit und einer abgestuften Kooperation mit den verschiedenen Ebenen der Nachbarschaft – fähig, in einer Welt der Globalisierung und der Internationalisierung standzuhalten.

Was hat Europa zu bieten?

Bleibt die Frage: Was hat Europa zu bieten? Das ist gar nicht so leicht zu beantworten, vor allem deshalb, weil Europa von innen oft anders gesehen wird als von außen. Der deutsch-amerikanische Filmschaffende Wim Wenders hat einmal darauf hingewiesen, dass er, wenn er selbst in Europa ist, oft über die Mängel dieses Europas verzweifelt ist und erst dann stolz auf Europas Leistungen ist, wenn er sich nicht hier aufhält. Ich stimme Tony Judt zu, dass dieses Europa nicht nur für sich selbst etwas zu geben hat, sondern auch der Welt rund um uns.
Judt meint in diesem Zusammenhang: „In spite of the horrors of the resent past and enlarged measures because of them it was Europeans who where now uniquely placed to offer the world some modest advice and how to avoid repeating their own mistakes. A few would have predicted it 60 years before. But the twenty-first century might yet belong to Europe.“ Ja, ich bin überzeugt, dass diese Möglichkeit besteht. Allerdings nur dann, wenn wir auch die Chancen wahrnehmen, aus diesem Europa gemeinsam ein politisch handlungsfähiges Europa zu machen. Das ist allerdings keinesfalls sichergestellt. Tony Judt hat in diesem Sinn Recht, wenn er kürzlich in einem Interview gemeint hat, dass Europa die große Kraft internationaler Realpolitik sein kann.

Entscheidende Fragen

Warum ist Europa so schwach? Warum so leise? Das sind Antworten, die wir uns selbst geben müssen, und es sind die entscheidenden Fragestellungen und Antworten, die wir finden müssen. Die Debatte über die Europäische Verfassung zeigt, wie unterschiedlich die Auffassungen in dieser Hinsicht sind. Wir müssen uns daher immer wieder fragen: „Warum ist Europa so schwach, warum so leise?“

Wien, 14.6.2007