Prag, die Perle Europas

Das Prag, das sich mir diesmal bot, ist ein Prag, das im Licht erstrahlt, das glänzt, das eine der schönsten europäischen Metropolen darstellt. 
Die Abstimmungen des Europäischen Parlaments nach der Miniplenarsitzung in Brüssel dauerten gestern nachmittags nicht lange. Es waren keine überwältigenden Anträge abzustimmen, zum Teil waren es Verkehrsangelegenheiten, wie ein Bericht zu den Transeuropäischen Netzen, zu dem ich am Vortag gesprochen hatte.
Aber immerhin standen auch die Verträge der Europäischen Union mit der Schweiz auf der Tagesordnung, über die positiv mit überwältigender Mehrheit abgestimmt wurde, was die Schweizer Medien und die Schweizer PolitikerInnen mit großer Genugtuung bemerkten.

Erweiterungsdiskussion

Nach den Abstimmungen fuhr ich gemeinsam mit einigen anderen Kolleginnen und Kollegen aus der Fraktion bzw. aus der Schar der MitarbeiterInnen nach Prag. In Brüssel war es schon den dritten Tag nebelig, bewölkt und kalt.
Als wir in Prag ankamen, erwartete uns ein schöner und warmer Frühsommertag auf dem neuen Flughafen von Prag. Mit dem Auto ging es, zum Teil sehr schleppend aufgrund eines Staus, zur Zentrale der Sozialdemokraten in Prag, wo gestern und heute eine Veranstaltung der europäischen Sozialdemokraten gemeinsam mit den tschechischen Freunden zur Erweiterung stattfand. Aus fast allen Erweiterungsländern sind Vertreter gekommen, und es gab durchaus eine spannende, wenn auch nicht neue Diskussion zur Erweiterung.
Die Vertreter der Erweiterungsstaaten wollten politische Bekenntnisse zur Erweiterung, wollten Zeitpunkte bzw. zumindest Zeitpläne über die nächsten Schritte bis zur tatsächlichen Erweiterung. Sie sind ein bisschen realistischer geworden und haben eingesehen, dass wir, die wir bereits Mitglieder sind, keinen definitiven Zeitpunkt für den Beitritt nennen können – denn das Beitrittsdatum hängt sowohl davon ab, wie rasch und gründlich wir uns in der EU auf neue Mitglieder vorbereiten – das zeigen die Diskussionen zur Regierungskonferenz, die wir in den vergangenen Monaten geführt haben -, als auch davon, wie sich die Beitrittskandidaten auf die EU-Mitgliedschaft vorbereiten. Und letztendlich hängt es auch von den konkreten Vereinbarungen ab, die dann ja auch finanzielle Konsequenzen mit sich tragen, beispielsweise die Agrarpolitik, die ja besonders kostenintensiv ist.

Leichtes Mißtrauen

Die Diskussion war also zwar nicht kontrovers, aber es gab doch ein gewisses Misstrauen seitens der Erweiterungsländer bzw. von deren Vertreter uns gegenüber. Wir forcierten in ihren Augen die Erweiterung vielleicht nicht genügend.
Wir selbst haben zuerst ein bisschen zaghaft, aber schließlich doch klar und deutlich gesagt, dass der Erweiterungsprozess als solches ein schwieriger, langwieriger Prozess ist. Es kommt auf die Fortschritte an, die wir alle gemeinsam in diesem Prozess machen und nicht auf Aussagen, wie sie Kohl und Chirac vor Jahren gemacht haben, als sie das Jahr 2002 als Beitrittsdatum für mehrere Länder Osteuropas genannt haben.
Ganz abgesehen von der Tatsache, dass natürlich die Erweiterungsstrategie hinsichtlich Zypern von den Fortschritten der politischen Lösung der Zypernfrage abhängt und dass Griechenland in diesem Zusammenhang sicher besonders darauf drängen wird, dass keine anderen Länder aufgenommen werden, solange nicht Zypern, das ja von der ökonomischen Lage, vor allem, was den griechischen Teil Zyperns betrifft, gut auf die Erweiterung vorbereitet ist.
Auf der anderen Seite gibt es sehr viele, die meinen, dass Polen – ein sehr großes Land, das in engen Beziehungen mit Deutschland steht – zumindest in der ersten Runde der Erweiterungsverhandlungen sein muss. In Polen ist aber nach wie vor fast ein Viertel der Bevölkerung von der Landwirtschaft abhängig, was zu großen finanziellen Problemen führt. Und selbst wenn man die finanziellen Probleme, die sich aus einer starken Subventionierung eines so großen Landwirtschaftssektors ergeben, beiseite lässt, würde umgekehrt eine starke Einkommenserhöhung in der Landwirtschaft die Gehalts- und Lohnstrukturen in Polen selbst verzerren, da die polnischen Bauern aufgrund der EU-Förderungen dann zu den reichsten Schichten der Bevölkerung zählen würden, was sicher auch soziale Spannungen herbeiführen würde.

Nicht fair, aber unvermeidlich

Wir betonen zwar immer wieder, dass jedes Land für sich individuell zu betrachten ist, aber natürlich wäre es irreal zu glauben, dass der Erweiterungsprozess nicht durch bestimmte Querverbindungen gekennzeichnet ist und eine Gruppe von Ländern, für die sich die Probleme gelöst haben, aufgenommen wird, und nicht jedes einzelne Land hinter einander in der Reihenfolge der Lösung seiner Probleme. Eine solche „Gruppenaufnahme“ bedingt natürlich, dass Einzelne warten werden müssen – das ist unfair, aber wahrscheinlich unvermeidlich. Die Institutionen können nicht nach jedem Beitritt neu strukturiert und organisiert werden, das würde eine totale Unübersichtlichkeit und ein großes Chaos ergeben.
Apropos Organisation der EU bzw. der EU-Kommission: diese hat gerade gestern verlautbart hat, dass der Generalsekretär der Kommission einen anderen Job bekommen hat – um es gelinde auszudrücken. Der Sprecher des Präsidenten wurde also von dieser Funktion entbunden, was hoffentlich dazu führen wird, dass die Organisation der Kommission straffer wird und auch die Kommission als Ganzes besser funktioniert und sich besser und transparenter – insbesondere auch dem Europäischen Parlament gegenüber – zeigt.

Damals, 1968

Nach den Gesprächen in der Zentrale der Sozialdemokraten ging es noch zu einem Arbeitsessen, das ich aber bald wieder verlassen habe, weil ich dann doch lieber die Stadt Prag besuchen wollte. Ich bin schon lange nicht in Prag gewesen, ich weiß nicht einmal, ob ich nach der Öffnung der Grenze, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, schon hier gewesen bin. Vorher war ich jedenfalls schon oft da, so auch einmal im Jahr 1968, um für Bekannte eines Freundes mit diesem Freund gemeinsam Bücher und andere wichtige Utensilien aus der Wohnung in Prag zu holen und sie der inzwischen nach Wien geflohenen Familie zu bringen.
Es war, soweit ich mich erinnern kann, unmittelbar vor dem Einmarsch der russischen Truppen, aber die Familie, die geflohen war, hatte schon vorher gespürt und gefühlt, was im Zuge der so genannten Normalisierung, die die Truppen der Brüderländer garantieren sollten, auf sie zukommen wird. Interessant war, dass ich erst vor wenigen Jahren bei einer Diskussion eine junge Frau kennen gelernt habe, die nach der Veranstaltung zu mir kam und sagte: „Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie. Sie haben mir und meiner Familie, meinen Eltern, damals unwahrscheinlich Wertvolles aus Prag nach Wien mitgebracht. Das wollen wir nicht vergessen, und dafür danken wir Ihnen.“
Ich hatte schon nicht mehr an diese Begebenheit gedacht und war so erst wieder daran erinnert worden.

Schönes, neues Prag

Das Prag, das sich mir gestern Abend und am heutigen Tag bot, ist ein ganz anderes Prag. Es ist ein Prag, das im Licht erstrahlt, das glänzt, das eine der schönsten europäischen Metropolen darstellt.
Auch früher war Prag spannend – aber es war dunkel, die Häuser waren grau, nur weniges war restauriert. Auf dieser Stadt lastete eine Diktatur im Inneren und eine imperiale Macht von außen, die nicht zu dieser Stadt gepasst hat – auf keinen Fall.
Das einzige, was einen Wermuthstropfen, nicht ökonomischer, aber ästhetischer Natur in diese wunderschöne Stadt gebracht hat, ist die große Zahl von Touristen, die durch die Stadt strömen, die Plätze füllen. Weniger am Abend, da ist vergleichsweise noch das eigene und eigentliche Leben zu spüren, aber heute Morgen ging es schon in stärkerem Ausmaß darum, sich durch die Touristenströme durchzuwinden, um zu dem Ort zu gelangen, zu dem man wollte.
Mittags hatte ich vereinbart, dass wir – Harald Ettl und ich – den österreichischen Botschafter trafen. Bei dieser Gelegenheit trafen wir auch den früheren Außenminister Pahr, der ebenfalls bei einer Tagung in Prag weilte. Der Botschafter hat außerdem zwei Kollegen aus dem Senat bzw. dem Abgeordnetenhaus der tschechischen Republik, die Deutsch sprechen, eingeladen. Sie waren wie wir Sozialdemokraten, und es ging um viele grundsätzlichen Fragen, wie die Erweiterung der EU, aber es ging vor allem auch um die bilateralen Fragen, die heute mehr denn je zwischen Österreich und der tschechischen Republik stehen. Es ist nicht nur Temelin, es ist die Frage der Vertriebenen in Zusammenhang mit den Beneschdekreten, und es ist die Frage des Ersatzes für Zwangsarbeiter aus der tschechischen Republik.
Wir kamen zum Schluss, dass wir mehr miteinander reden müssen, dass gerade weil es Probleme gibt, der Dialog zwischen Tschechen und Österreichern, natürlich vor allem zwischen Sozialdemokraten, ein wichtiges Element im Aufbau gemeinsamer europäischer Strukturen sein muss.

Schluß mit der Junktimierung

Um diese Themen ging es dann auch beim kurzen Gespräch, das ich am Rande der Tagung mit dem tschechischen Außenminister Kavan führte. Ich kenne ihn seit vielen Jahren, als die tschechische Sozialdemokratie noch in Opposition war und wir uns bei verschiedenen Tagungen in Europa, aber auch einmal bei der Sozialistischen Internationale in Dheli getroffen hatten.
Kavan sprach mich an und erklärte mir, dass es durchaus bereit ist, über alle anstehenden Fragen und Probleme zwischen den beiden Ländern zu diskutieren, dass es aber keine Junktimierung geben kann: tschechischen Zwangsarbeitern wird nur dann etwas zugestanden, wenn die Beneschdekrete aufgehoben werden, oderden Beitritt zur Europäischen Union kann es aus österreichischer Sicht nur dann geben, wenn die Beneschdekrete aufgehoben werden. Ich muss Kawan Recht geben. Das tut man heute auf europäischer Ebene einfach nicht mehr – junktimieren klingt nach Erpressung, es klingt nach Misstrauen, das man zueinander oder besser gegeneinander hat.
Deshalb wäre die österreichische Regierung gut beraten, wenn sie das Angebot der tschechischen Regierung aufgreifen würde, dass man über alle Fragen diskutieren kann. Und es muss auch möglich sein, eine Einigung zu erzielen – auch wenn diese nicht von heute auf morgen erfolgt. Die durch Haider immer wieder ins Spiel gebrachte Junktimierung, diese fatale Verquickung von Außenpolitik und innenpolitischem Kalkül, ja Hetze schadet Österreich heute mehr denn je.
Und die jetzige Regierung bekennt sich nicht mehr dazu, dass diese Hetze, diese innenpolitische Verwendung von außenpolitischen Themen abzulehnen ist. Im Gegenteil: Mit den neuen Überlegungen – wenngleich derzeit auch etwas zurückgestellt – eine Volksbefragung über die so genannten EU-Sanktionen in Österreich durchzuführen, ist man wieder einen Schritt in diese Richtung gegangen.

Gemeinsam an Europa weiterbauen

Wenn die Sanktionen nicht aufgehoben werden, dann gibt es eine Volksbefragung – als ob das eine unermessliche Drohung für den Europäischen Partner sei. Sie ist nicht wirksam, aber sie ist dumm, weil sie letztendlich das Gegenteil von dem bewirkt, was man erreichen will: eine Verhärtung der Fronten, eine Geringschätzung Österreichs, das nicht mehr als verlässlicher Partner gesehen wird, sondern als trotziger Zwerg. Das ist esletztendlich, was diese Regierung zustande bringt und woran man immer mehr sieht, dass die europapolitische Dekorierung dann zusammenfällt, wenn es um innenpolitische Macht geht. Das merkt man bei Schüssel, das merkte man aber auch bei Mock, der immer schon ein „Sozialistenfresser“ war und jetzt glaubt, nachdem wir in Europa sind, könne er das voll ausspielen, dabei aber die europäische Gesinnung, die ohnedies nicht nur in Österreich, aber hier besonders, prekär ist, in Mitleidenschaft zieht.
Genau das stimmt mich besonders traurig: wir haben in diesem Mitteleuropa nicht als solches eine starke Stellung, sondern graben zusätzliche Gräben und schütten Wälle auf, anstatt Schritt für Schritt Grenzen abzubauen. Und es ist gerade deshalb Ungarn, das den Schulterschluss mit Schlüssel betreibt, weil es selbst eine rechtsgerichtete Regierung hat. Aber dieser Schulterschluss mit gleichgerichteten Regierungen ist zu wenig. Es muss eine Verständigung, einen starken Dialog zwischen Menschen verschiedener Nationen geben. Das hat diese Regierung nicht nur nicht zustande gebracht, sondern verhindert.
Und auch wenn ich zugebe, dass auch frühere Regierungen nicht immer stark genug gewesen sind und immer wieder die Angst vor Haiderschen Ausbrüchen die österreichische Außenpolitik mitgeprägt hat, so ist doch in der jetzigen Regierung ein deutlicher Rückschritt in der Innen- und Außenpolitik unübersehbar. In einer demagogischen Art und Weise wird auf Machterhalt gedrängt statt an Europa weiterzubauen. 
Prag, 5.5.2000