Rote Linien

Für mich steht die Verbindung eines klaren politischen Bekenntnisses mit einem entsprechenden Pragmatismus bei der Suche nach politischen Lösungen im Interesse der Menschen im Mittelpunkt meiner Arbeit.
Heute Vormittag habe ich zunächst zu einem Pressegespräch eingeladen, an dem auch unser Fraktionsvorsitzender Martin Schulz teilgenommen hat.

Nukleus des wissnesorientierten Österreichs

Im Anschluss daran habe ich ihm einen Wunsch erfüllt, der auch meinen eigenen Wünschen sehr entgegengekommen ist: Wir haben die Österreichische Nationalbibliothek besucht. Es war für Martin Schulz, für meinen Kollegen Jan Marinus Wiersma, aber auch für mich selbst äußerst beeindruckend, jene ungeheuren historischen Schätze, die die Nationalbibliothek beherbergt, zu besichtigen.
An ihnen kann man nachvollziehen, wie weltumspannend – im Sinne der europäischen Welt – dieses Österreich mit Wien als seinem Zentrum in früheren Zeiten agiert hat, wie groß der Drang nach wissenschaftlichen Ergebnissen war und wie sehr die Bibliothek von den Habsburgern unterstützt worden ist, um entsprechende Ankäufe zu tätigen. Die Nationalbibliothek war in diesem Sinn der Nukleus einer wissensorientierten Gesellschaft und eines sehr starken öffentlichen Engagements – wobei zu damaligen Zeiten öffentlich und privat im Bereich der Herrschenden und im Sinne der Kultur und der Wissenschaft nicht wirklich getrennt gewesen sind.

Staat aus der Verantwortung gelassen

Die faszinierenden Gebäude und der Prunksaal, aber auch andere Säle der Nationalbibliothek, hinterlassen einen fulminanten Eindruck einer Gesellschaft, die nicht gerecht war, in der sowohl die Arbeit als auch das Einkommen noch wesentlich ungerechter verteilt gewesensind als das heute der Fall ist. Eine Gesellschaft, in der die Demokratie nicht entwickelt war und in der das öffentliche Sparen nicht so sehr an vorderster Stelle gestanden ist wie heute.
Auf der anderen Seite ist es immer wieder aufs Neue traurig zu erkennen, dass frühere Gesellschaften in einzelnen Bereichen hervorragende Leistungen erbracht haben, von denen wir heute nach wie vor leben. Wir unternehmen heute – Hand in Hand mit der Demokratisierung, der Privatisierung und der Liberalisierung – oft einen zu weiten Schritt, der dem Staat und der Öffentlichkeit Verantwortung entzieht bzw. entledigen sich der Staat und die Öffentlichkeit in vielen Bereichen selbst ihrer Verantwortung.

Keine Antworten

Diese Entwicklung zeigt sich heute in der Energiefrage und in vielen anderen Bereichen. Wir werden gefordert, haben aber keine Antworten. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an unsere vor kurzem in Berlin geführte Diskussion mit Bundeskanzlerin Merkel. Einige konservative Abgeordnete hatten hinsichtlich der Energiefrage gemeint, dass wir auf europäischer Ebene eine gemeinsame Energiepolitik betreiben und Solidarität üben sollten. Merkel antwortete darauf fast flehentlich und verzweifelt: „Wie soll ich eine europäische Energiepolitik formulieren, wenn alles privatisiert und liberalisiert wird? Ich habe gar keinen Einfluss darauf“
Dieses Argument ist richtig und darf nicht unterschätzt werden – wenn es vielleicht auch aus falschem Mund kommt, betrachtet man die Ideologie der politischen Rechten in Europa. Wir müssen jedenfalls herausfinden, was wir noch korrigieren können, wenn das überhaupt noch möglich ist.

Sinn für öffentliche Verantwortung

Um auf die Österreichische Nationalbibliothek zurückzukommen, so kann ich nur Jedem/r empfehlen, sich um eine Führung durch dieses faszinierende Gebäude zu bemühen. Man kann sich an diesem Ort von einem neuen Sinn für öffentliche Verantwortung inspirieren lassen. Ganz abgesehen vom emotionalen Genuss und dem Eindruck, welchen Wert akkumuliertes Wissen – damals in einer völlig anderen Form als heute – hat.
Im Anschluss an diesen Exkurs in Geschichte und Wissenschaft habe ich meine politischen WegbegleiterInnen von früher und von heute zu einem Geburtstagsmittagessen eingeladen. Ich war mehr als stolz und habe mich sehr gefreut, dass auch Bundespräsident Heinz Fischer und seine Frau Margit Fischer meiner Einladung gefolgt sind, ebenso wie der Wiener Bürgermeister, der Wiener Stadtsenat, frühere KollegInnen von Stadtsenat und Gemeinderat sowie VertreterInnen aus meinem politischen Heimatbezirk Meidling.

Politisches Bekenntnis und Pragmatismus

Ich wollte mit dieser Einladung deutlich machen, wie wichtig für mich die Verbindung von meinem Bezirk über die Stadt Wien und die österreichische Bundesebene bis hin zum Bundespräsidenten, der als früherer stellvertretender Vorsitzender der Europäischen Sozialdemokratie auch für meine eigene Integration in die Europäische Sozialdemokratie eine wichtige Rolle gespielt hat, und schließlich dem Europäischen Parlament ist.
Ich bin stolz darauf, dass ich auf der europäischen Ebene arbeiten kann. Ich möchte aber auch keine Sekunde von dem vermissen, was ich vor allem im Bereich der Stadt Wien tun konnte. Es handelt sich dabei um – im wahrsten Sinn des Wortes – rote Linien, die sich durch mein Leben ziehen. Dabei steht für mich die Verbindung eines klaren politischen Bekenntnisses mit einem entsprechenden Pragmatismus bei der Suche nach politischen Lösungen im Interesse der Menschen im Mittelpunkt.

Wie geht es mit Österreich weiter?

Alfred Gusenbauer konnte nicht an meiner Geburtstagsfeier teilnehmen. Er war in unmittelbarer Vorbereitung des Gesprächs mit Bundeskanzler Schüssel, und ich habe seine Entschuldigung selbstverständlich angenommen. Natürlich gab es auch am Rande dieses Festes Gespräche darüber, wie es mit Österreich weitergehen soll und was es bedeuten würde, eine Minderheitsregierung zu bilden – die unter anderem auch die Unterstützung der FPÖ-Abgeordneten benötigen würde.
Mir ist bewusst, dass es sich dabei um eine heikle Frage handelt. Leider hat die ÖVP bereits am Wahlsonntag dermaßen „sauer“ reagiert, dass sie uns geradezu in die Situation einer Minderheitsregierung drängt. Ob es klug gewesen ist, die Untersuchungsausschüsse einzusetzen, will ich von außen her nicht beurteilen. Gerade beim Banken-Untersuchungsausschuss ist allerdings aus meiner Sicht zumindest die Formulierung nicht besonders geschickt gewählt worden. Unabhängig davon ist die Weigerung der ÖVP, in konkrete Gespräche einzutreten und die Erklärung von Bundeskanzler Schüssel, es sei bereits ein besonderes Entgegenkommen der ÖVP, dass sie überhaupt mit der Sozialdemokratie redet, absolut unverständlich.

Minderheitsregierung mit Sensibilität

Ich habe dieses Verhalten auch bei meinem Besuch in Deutschland angesprochen. Dort hat man den Eindruck, dass jenes Verhalten, das Gerhard Schröder ein bis zwei Tage angenommen hat – nicht zur Kenntnis zur nehmen, dass er abgewählt worden ist – von Bundeskanzler Schüssel schon seit einigen Wochen zelebriert wird. Ich verstehe die Ungeduld. Und ich verstehe, dass Alfred Gusenbauer eine Regierung bilden möchte.
Ich hoffe allerdings, dass bei der Bildung dieser Regierung auf die Sensibilität – vor allem auf der europäischen Ebene – Bedacht genommen und sichergestellt wird, dass es keine Regierung sein wird, die auf die kontinuierliche Unterstützung von Blau aufbaut. Wir brauchen vielmehr eine Regierung, die sich, dort wo es notwendig ist, Mehrheiten sucht und die den Weg für Neuwahlen entsprechend vorbereitet – falls es zu keiner Mehrheitskoalition kommt. Diese werden hoffentlich zu einer klareren Entscheidung führen.

Grundvoraussetzung: sozialdemokratische und europäische Werte

Die Menschen sind von Neunwahlen nicht begeistert. Ich verstehe das, ich bin es auch nicht. Aus meiner Sicht ist es absolut grotesk, dass wir nach so kurzer Zeit erneut wählen müssten. Wenn sich die ÖVP allerdings verweigert und für sich selbst keine Chance sieht, mit der Sozialdemokratie eine gemeinsame Regierung zu bilden, dann muss sie dafür auch die Verantwortung tragen.
Trotzdem, es sei nochmals betont: Gerade vor der europäischen Perspektive darf es keine Regierung geben, die eine klare Unterstützung durch die FPÖ erhält. Es muss vielmehr eine Regierung gebildet werden, die versucht, für ganz konkrete Projekte auf der parlamentarischen Ebene Mehrheiten zu finden. Die klare Orientierung an den sozialdemokratischen und europäischen Werten ist für mich dabei eine der zentralen Grundvoraussetzungen.

Wien, 10.11.2006