Schreckgespenst „Kalter Krieg“

Es geht jetzt darum, die große Frage zu beantworten, wie die Machtgleichgewichte in der Welt neu verteilt werden sollen.
Nach der Sommerpause konnten wir im Europäischen Parlament eigentlich nicht mit unserer normalen Tagesordnung beginnen und uns den verschiedenen Gesetzgebungen, die wir in den nächsten Wochen und Monaten zu erledigen haben, widmen. Der Krieg in Ossetien und Georgien hat uns intensiv beschäftigt.

Unterschiedliche Positionen

In unserer Fraktion gab es unterschiedliche Anschauungen dazu. Einige meinten, sämtliche Auseinandersetzungen seien ausschließlich auf den russischen Neoimperialismus zurückzuführen und wir müssten sehr hart, entschieden und entschlossen mit Russland umgehen – wobei nie ganz klar war, was das im Einzelnen bedeuten sollte. Auf der anderen Seite gab es – zugegebenermaßen weniger – Mitglieder aus unserer Fraktion, die gemeint haben, Georgien sei ein Land, das nichts anderes zu tun wisse, als Russland herauszufordern und zu provozieren.
Der Großteil unserer Mitglieder schloss sich allerdings klar jener mittleren Linie an, die ich schon in den Debatten während des Sommers versucht habe vorzuschlagen und die ich in der Folge gemeinsam mit meinem Kollegen Jan Marinus Wiersma in eine Resolution gefasst habe. Wir haben darin sowohl das Vorgehen Georgiens als auch das Vorgehen Russlands kritisiert und deutlich gemacht, dass es diesen Konflikt schon seit längerer Zeit missbraucht. Letztendlich konnten wir uns im Großen und Ganzen auf eine gemeinsame Fraktionslinie einigen.

Keinen neuen Kalten Krieg

Es wäre mehr als katastrophal, jetzt mit einem neuen Kalten Krieg zu beginnen und Russland eine Auseinandersetzung aufzudrücken, obwohl einige Radikale und Extremisten in Russland ganz froh darüber wären, weil sie sich gerne an einem Kalten Krieg beteiligen würden. Im gesamten Kontext geht es jetzt darum, die große Frage zu beantworten, wie die Machtgleichgewichte in der Welt neu verteilt werden sollen. Russland hat durch den Zerfall der Sowjetunion massiv gelitten, vor allem auch psychologisch. Man darf allerdings nicht vergessen, dass es jedem anderen großen Reich bzw. Imperium ebenso gegangen wäre. Die Zeiten nach dem Zusammenbruch waren auch im Inneren chaotisch, die westlichen Ratgeber waren zudem nicht die Besten und zu unsensibel für die spezifischen Situationen in Russland.
Nach den Preissteigerungen bei Erdöl und Erdgas, aber auch bei anderen primären Ressourcen und Rohstoffen, gibt es eine – allerdings nicht nachhaltige – ökonomische Basis für das Erstarken Russlands. Putin war und ist in dieser Situation der "geeignete" Mann. Historisch gesehen handelt es aus meiner Sicht deshalb um eine relativ kurzzeitige Phase der ökonomischen Stärkung, weil Russland viel zu wenig unternimmt, um die finanziellen Mittel auch in die positive Entwicklung des Landes zu stecken. Das autoritäre Regime, das vielfach auf großen Monopolisten und Oligarchen beruht oder mit ihnen in Verbindung steht, sorgt nicht wirklich für eine Modernisierung des Landes.

Zwei Konzepte, die aufeinanderstoßen

Ein Wiederstarken Russlands kann trotzdem nicht geleugnet werden, auch wenn es auf tönernen Füßen steht. Solange die Energiepreise dermaßen hoch sind, solange kann die überhebliche, neoimperialistische Politik Russlands aber auch verfolgt werden. Demgegenüber stehen die Vereinigten Staaten von Amerika. Sie sind auf der einen Seite immer mehr geschwächt, haben sich aber auf der anderen Seite durch die Natoerweiterung immer mehr Verbündete geholt. Zuletzt wollten sie die gesamten Grenzen Russlands durch Natomitgliedschaften abgesichert sehen. Das wiederum hat zu einem großen Konflikt mit Russland geführt, der sich jetzt am Beispiel Georgiens entzündet hat.
Wenn man das Ganze etwas längerfristig und kühler betrachtet, wird man bemerken, dass es sich um keine zufällige Auseinandersetzung handelt oder auf einen „bösen Putin“ zurückzuführen ist. Vielmehr begegnet man zwei strategischen Konzepten bzw. zwei Imperien, die beide ihre Schwäche haben und nun aneinanderstoßen.

Die EU ist gefordert

In dieser Situation läge es an Europa, für eine vernünftige, klare und langfristige Strategie zu sorgen. Wenn wir uns Amerika bedingungslos anschließen, sind wir automatisch Teil des Konflikts – eines Konflikts, den wir, weil wir nicht bereit sind und auch nicht sein sollten, uns militärisch zu engagieren, nicht wirklich zu unseren Gunsten lösen können. Eine mittel- bis langfristige Strategie müsste im Gegenteil danach trachten, die Unabhängigkeit und Integrität unserer Nachbarn entsprechend zu bewahren und ihnen auch eine wirtschaftliche und Zug um Zug eine politische Verflechtung anzubieten, ohne dass wir heute schon von Mitgliedschaft in der EU sprechen könnten. Es gilt, die betreffenden Länder an die EU zu binden, ohne ihnen automatisch eine militärische Struktur, also die Mitgliedschaft in der Nato, anzubieten.
Ich habe durchaus Verständnis dafür, dass Länder, die zu Russland bzw. zur Sowjetunion gehört haben, die Nato-Mitgliedschaft gewissermaßen als Heil ansehen und durch sie die Verteidigung gegen einen russischen Drang nach außen manifestieren wollen. Auf der anderen Seite, und da kann man schon ein bisschen das Beispiel Österreich heranziehen, ist Russland wahrscheinlich ebenso wie damals die Sowjetunion bereit, in Ländern, in denen es jetzt ohnedies nicht mehr wirklich Fuß fassen kann, eine Politik der Akzeptanz und der Unabhängigkeit zu betreiben, wenn dadurch gewährleistet ist, dass es keine militärische Aufrüstung bis tief an seine Grenzen gibt.

Langfristige, überlegte Strategie ist notwendig

Man könnte dem entgegenhalten, dass ein Land, das ohnedies sehr stark ist und keine imperialistischen Absichten hat, sich auch nicht vor einer militärischen Aufrüstung an den Grenzen fürchten muss. Die Beispiele Amerika und China zeigen allerdings, dass gerade große Länder sehr große Angst davor haben, eingekreist zu werden bzw. ausschließlich feindlich gesinnte Länder und Bevölkerungen um sich zu haben, etc. Aus meiner Sicht müsste die EU müsste vor diesem Hintergrund eine Strategie konzipieren, bei der wir gemeinsam mit Russland eine Politik der Anerkennung, der Selbstständigkeit, der Integrität aller unserer Nachbarn und des Aufbaus guter wirtschaftlicher Beziehungen mit unseren Nachbarn entwickeln. Wenn Russland in der Folge im weitesten Sinne auch in die Natostrukturen eingebunden wäre, ergäbe sich die Möglichkeit, auch den Ländern von der Ukraine bis Georgien die Natomitgliedschaft anzubieten.
Sollte es nicht gelingen, eine längerfristige überlegte Strategie zu entwickeln, so fürchte ich, dass es zu einer permanenten Konfliktsituation mit Russland kommen wird, die letztendlich die Militärausgaben auf beiden Seiten in die Höhe treibt. Der Westen würde das eher aushalten als Russland. Aber ich glaube nicht, dass es das Ziel des Zusammenbruchs der Sowjetunion und unserer eigenen dahin ausgerichteten Politik war und ist, zu einem neuen Aufrüsten zu kommen – im Gegenteil. Es sollte zu einem Abrüsten kommen. Und es sollte zu einem Europa kommen, das sich auf die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit konzentriert und mithilft, die noch offenen Konflikte – nicht nur in Abchasien und Ossetien, sondern auch hinsichtlich Nagorno Karabach zwischen Armenien und Aserbeidschan oder bei Transnistrien im Bezug auf Moldawien – zu lösen.

Der bessere Weg

All diese Schritte können allerdings nur mittelfristig und mit viel Geduld umgesetzt werden. Außerdem gilt es, alle Beteiligten zu überzeugen, dass eine friedliche und schrittweise Lösung unter gleichzeitiger politischer und wirtschaftlicher Anbindung an die EU der bessere Weg ist. Es hat sich ja in der Vergangenheit gezeigt, dass der Erfolg der EU letztendlich der Erfolg eines politischen und wirtschaftlichen und nicht eines militärischen Konzepts ist. Dabei leugne ich gar nicht, dass die Existenz der Nato und damit auch die Allianz der Vereinigten Staaten von Amerika über viele Jahrzehnte dazu beigetragen haben, dass sich unter dem Schutz der Nato ein freies Europa entwickeln konnte, das eben auch wirtschaftlich und militärisch erfolgreicher war. Aber das hat nicht vorausgesetzt, dass jedes Land automatisch Mitglied der Nato war – das zeigen Schweden, Finnland und Österreich.
Verschiedene Experten haben darauf hingewiesen, dass nicht die militärische Auseinandersetzung die Sowjetunion bzw. den Kommunismus niedergerungen hat, sondern letztendlich der Wettbewerb der Konzepte und der Erfolg im Zusammenhang einer wirtschaftlichen Entwicklung sowie der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates. Wenn man also zur Lösung von den konkreten Problemen eine mittelfristige Strategie entwickelt, dann hat man aus meiner Sicht wesentlich mehr Erfolg als wenn man in übereiltes, emotionales Säbelrasseln einsteigt.

Eine Frage der Bewältigbarkeit

Zu einer solchen Vorgehensweise bedarf es allerdings auch jener Staatsmänner/frauen, die sich der Geschichte unseres Kontinents bewusst sind, die eine zukunftsorientierte moderne Politik im Auge haben und vorantreiben und die erkennen, dass es unzählige andere Konflikte gibt, etwa mit dem Iran, und dass wir zusätzlich zu den großen Auseinandersetzungen mit China oder mit dem Terrorismus und angesichts der entscheidenden Aufgaben hinsichtlich der Entwicklungsländer keinen zusätzlichen Konflikt mit Russland brauchen können. Das würde auch unsere Kapazität entsprechend überfordern.
Es handelt sich also nicht um eine moralische Frage, sondern um eine Frage der Bewältigbarkeit der Auseinandersetzungen – und deshalb muss es eine entsprechende Linie geben. Weder setzt das voraus, dass wir uns einfach zufrieden geben mit dem, was Russland nach außen tut noch, dass wir uns der Kritik über Entwicklungen in Russland enthalten.

Kein „Ende der Geschichte“

Einmal mehr hat sich erwiesen, dass das Konzept von Francis Fukujama hinsichtlich des Endes der Geschichte ein absolut überholtes bzw. ein eigentlich nie zutreffendes Konzept gewesen ist – so spannend sein Beitrag und vor allem sein diesbezügliches Buch auch war und ist. Alle, die das „Ende der Geschichte“ voraussagen – sei es aus der Theorie des Marxismus oder eines Francis Fukujama, der sich mehr auf Hegel beruft – machen den Fehler, dass sie aus der eigenen, oft sehr zutreffenden historischen Analyse den Schluss ziehen, mit einer bestimmten Entwicklung ginge die Geschichte zu Ende und es bestünde nur mehr ein im positiven oder negativen Sinn stabiles Gleichgewicht.
Das ist eine Illusion, die wir in Europa nicht predigen sollten. Wir sollten uns außerdem davor hüten zu glauben, mit dem Aufbau der EU und dem derzeitigen Status quo seien die Dinge gelöst. So ist es nicht. Man muss permanent daran arbeiten, dass neu entstehenden Konflikten möglichst rasch mit historischem Bewußtsein, aber auch mit Pragmatismus begegnet werden kann. Überdies sollte sich zeigen, dass gerade die EU fähig ist, zu einer gemeinsamen vernünftigen Linie zu kommen.

Nicht gegen Russland, sondern für die Nachbarn aktiv werden

Die Aufforderungen, die ich auch immer wieder in den Medien lese, man müsste doch jetzt etwas tun, man müsste handeln, man müsste aktiv sein, man dürfe sich das russische Verhalten nicht gefallen lassen, kann man eigentlich beiseite schieben. Es handelt sich um leere Worthülsen. Niemand von denen, die jetzt zu großen Aktionen aufrufen, beschreibt nämlich im Detail, was zu geschehen habe und was Russland gegenüber getan werden soll.
Es ist auch gar nicht entscheidend, dass wir jetzt etwas gegen Russland tun. Entscheidend ist vielmehr, dass wir etwas für jene Länder, die die Nachbarn Russlands sind und die sich bedrängt und bedroht fühlen, tun. Und das geht am besten, indem wir die Kontakte, die Verbindungen und die Kooperationen mit diesen Ländern entsprechend auf- und ausbauen. Den Vorschlag zu einer Union für das Schwarzmeer, den ich schon lange vor der aktuellen Krise gemacht habe, geht genau in diese Richtung!

Brüssel, 28.8.2008