Schwierige Zeiten

Ich kann mir für den Kosovo keinen anderen Weg als jenen in Richtung Unabhängigkeit vorstellen.
Am heutigen Samstag fanden im Kosovo Wahlen statt. Ich bin nicht überzeugt, dass das der beste Zeitpunkt ist – finden doch dieser Tage die Gespräche über den zukünftigen Status des Kosovo statt, und diese Gespräche sind in die heiße Phase getreten.

Wird der Kosovo unabhängig?

Dabei geht es um die Frage ob, wann und wie der Kosovo seine Unabhängigkeit erlangen sollte. Seine Unabhängigkeit, wie sie von der albanischen Mehrheit gewünscht wird und die, wenn man die Dinge genauer betrachtet, wahrscheinlich unvermeidlich ist. Der Kosovo wird nie zu Ruhe kommen, wenn er bei Serbien bleibt. Und auch Serbien wird langfristig nicht zur Ruhe kommen, wenn der Kosovo bei Serbien bleibt.
Kurz und mittelfristig ist das natürlich etwas anderes. Diese Frage wird von den Nationalisten immer hochgekocht und die Radikalen in Serbien machen sie zu Ihrem Kampfthema. Der konservative Premierminister Kostunica will da nicht nachstehen und macht es seinerseits ebenfalls zu seinem Kampfthema. Und selbst die Demokraten unter Präsident Tadic werden in die Nähe von radikaeln Positionen gedrängt, auch wenn sie immer wieder beruhigend und mäßigend auf Kostunica wirken, mit dem sie ja gemeinsam in der Regierung sitzen.

Am Tag vor den Wahlen

Am Tag vor den Wahlen haben die üblichen Gespräche mit den Vertretern der europäischen Mitgliedsländer im Kosovo stattgefunden. Es gibt zwar keine Botschaften, aber es sind doch hochrangige Vertretern vor Ort – wie zum Beispiel jene der Europäischen Kommission und vor allem jene, die mit dem Einsatz der zivilen Mission und der Mission zur Etablierung eines objektiven, gerechten Sicherheits- und Justizwesen betraut sind. Die EU bereitet sich auf eine Mission im Kosovo vor, ohne zu wissen, auf welcher rechtlichen Grundlage diese Mission tätig sein kann. Das ist auch für das Budget, das von der EU zu bestimmen ist und bei dem das Parlament ein gewichtiges Wort mitzureden hat, eine problematische Angelegenheit.
Dennoch ist es Priorität, dass wir seitens der EU eine stabilisierende Funktion im Kosovo sichergestellt sehen und dass wir uns auf schwierige Monate oder sogar Jahre vorbereiten, in denen wir die entweder vereinbarte oder die selbsternannte Souveränität bzw. Unabhängigkeit überwachen und, wo notwendig, auch entsprechend beeinflussen. Es gibt kaum jemanden, der in den nächsten Monaten bzw. Wochen nicht von wesentlichen Schritten in Richtung Unabhängigkeit ausgeht, und das ist sicher realistisch so.

Die Kosovo-Kontaktgruppe

Zu Mittag trafen wir die Kontaktgruppenvertreter im Kosovo aus den Vereinigten Staaten, aus Russland, aus dem Vereinigten Königreichs und aus Frankreich. Es war interessant und spannend, mit ihnen, die sich ja nicht einig, zu sprechen. Der russische Vertreter etwa sträubt sich gegen eine unmittelbar bevorstehende Unabhängigkeitserklärung. Alle waren sich allerdings einig, dass der jetzige Zustand unhaltbar ist. Rechtlich gehört der Kosovo zu Serbien, faktisch hat aber Serbien keinen Einfluss – der Kosovo wird von der Internationalen Gemeinschaft verwaltet. Das bringt vor allem für Investitionen große Schwierigkeiten mit sich, insbesondere weil die Eigentumsfrage nicht wirklich geklärt ist.
Insgesamt war das Dialogverhältniss zwischen den Vertretern sehr ausgewogen, die Unterschiede zwischen den USA und Russland konnten aber trotzdem nicht verborgen bleiben. Die USA argumentieren immer wieder, dass sie die Serben aus dem Land gebombt und im Interesse des Kosovo und der albanischen Mehrheit in Kosovo eingegriffen haben. Sie wollen den Prozess mit der Unabhängigkeit des Kosovo beendet sehen.

Reservierte Haltung Russlands

Im Gegensatz dazu nimmt Russland eine äußerst reservierte Haltung ein und möchte seine guten Beziehungen zu Serbien nicht durch eine Zustimmung der Unabhängigkeit des Kosovos in Frage stellen. Russland sieht sich außerdem in der schwierigen Lage, wie es in seinem unmittelbaren Nahbereich reagieren soll, wo es ebenfalls Konfliktsituationen gibt. Die Russen unterstützen gewisse Unabhängigkeitsbestrebungen in ihren Nachbarländern zwar, ohne allerdings die separatistischen Einheiten als eigene Staaten anzuerkennen.
Sie befürchten, dass es in ihren eigenen Grenzregionen zu Verstärkung separatistischer Bewegungen kommen würde. Eine Abtrennung von Tschetschenien und Dagistan, etc. könnten sie nicht ablehnen, wenn sie auf der Unabhängigkeit des Kosovo zustimmen würden. Das zeigt auch die verzwickte internationale Lage, die immer wieder besonders von der rechten Seit dahingehend simplifiziert wird, dass die Russen den Weg in die Unabhängigkeit blockieren.

Stichtag 10. Jänner

Aber auch einige europäische Länder haben große Probleme mit der Unabhängigkeit des Kosovo, weil sie einerseits eine Unterstützung der Bewegungen im eigenen Land befürchten wie beispeilsweise Rumänien und Spanien bzw. weil sie die Anerkennung einer Spaltung befürchten wie im Fall Zyperns. Dennoch, am 10. Jänner ist ein entscheidendes Datum, denn bis dahin muss die derzeit wirksame Kontaktgruppe, die aus einem Vertreter der USA, Russlands und der EU – dieser führt auch den Vorsitz – besteht, versuchen muss, Vorschläge zu machen und dem UN-Sicherheitsrat Bericht zu erstatten.
Besagter Vorsitzender der Kontaktgruppe Gruppe ist der deutsche Botschafter in London und frühere Botschafter in den Vereinigten Staaten, Wolfgang Ischinger. Ich kenne Ischinger persönlich, er ist zweifellos ein versierter und effizienter Diplomat. Ob es ihm allerdings gelingen wird, angesichts der schwierigen Lage vor Ort, aber auch im internationalen Kontext, eine Lösung zu finden, ist offen.

Der Wahltag

Den heutigen Wahltag haben wir in einem Wahllokal in Pristina verbacht. Wir, das sind Doris Pack, die Vorsitzende der Süd-Osteuropadelegation im Europäischen Parlament und ich als ihr Stellverterter. Begleitet wurden wir von einer Dolmetscherin, die uns während unseres Aufenthaltes geholfen hat, auch mit jenen zu kommunizieren, die nicht Englisch sprechen. Das Wahlmaterial traf etwas verspätet ein, sodass die Wahllokale erst eine halbe Stunde später als ursprünglich vorgesehen öffnen konnten. Das war aber kein Problem, da so früh ohnehin kein großer Andrang herrschte. Wie sich später herausstellen sollte, war die Wahlbeteilung insgesamt sehr gering.
Wir besuchten im Lauf des Tages mehrere Wahllokale in Pristina, und zwar vornehmlich in jenen Bezirken, in denen albanisch-sprachige Kosovaren leben. Anschließend fuhren wir nach Gracanica, wo sich auch der Sitz des serbisch-orthodoxen Bischofs befindet. Hier bot sich uns ein anderes Bild. Das Wahllokal befand sich in einem winzigen Raum in dem von der UNMIK, also der UN-Verwaltung eingerichteten Gemeindehaus. Die serbsiche Schule hatte sich geweigert, ein Wahllokal einzurichten. Die Serben haben diese Wahlen generell boykottiert. Aus ihrer Sicht sind sie ein Mosaikstein auf dem Weg zur Unabhängigkeit und daher wollte sie damit nichts zu tun haben.

Boykott der Serben

Es gab aber auch einige Serben, die sich als Mitarbeiter in den Wahllokalen zur Verfügung gestellt haben und die sich sehr bemühen mussten, einen geregelten Betrieb aufrechtzuerhalten. Das wurde besonders augenscheinlich in einem nahegelegenen Ort, wo ein Wahllokal im Veterinäramt untergebracht wurde. Es gab dort weder Tische noch Stühle, die Wahlurnen wurden auf dem Fußboden aufgestellt. Die Voraussetzungen für die Abhaltung von Wahlen waren also alles andere als gut.
Es haben auch nur sehr wenige von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Das hat sich auch in einem Wahllokal im serbischen Teil von Kosovo-Polje gezeigt. Ob die serbischen BürgerInnen in irgendeiner Form unter Druck gesetzt worden sind, ist schwer festzustellen. Klar ist jedenfalls, dass es Wahllokale für die serbischen Landesteile gegeben hat, der Boykottaufruf allerdings gefruchtet hat. Das hat der kleinen Gruppierung, die trotzdem kandidiert hat, entsprechend wenige Stimmen gebracht. Nicht einmal die Wahlzeugen und -mitarbeiterInnen in den einzelnen Wahllokalen haben sich eindeutig dazu bekannt, selbst zu wählen. Insgesamt bot sich uns ein Bild, bei dem es in den albanisch sprechenden Bezirken gut funktioniert hat, aber in den übrigen Bereichen, vor allem den serbisch sprechenden Teilen, schlecht. Einige MinderheitsvertreterInnen, insbesondere seitens der Roma, sind wählen gegangen. Man muss dazu sagen, dass ich selbst hauptsächlich in Pristina und einigen Orten in der näheren Umgebung, also im urbanen Einzugsbereich – soweit man in diesem Fall von Urbanität sprechen kann – gewesen bin.

Die Kandidaten

Bei den Wahlen selbst haben die traditionellen Parteien kandidiert, allen voran die große LDK des früheren Präsidenten Rugova, der sogar noch auf den Wahlplakaten zu sehen war, obwohl er bereits vor einiger Zeit gestorben ist. Interessant war auch, dass der Präsident des Landes ebenfalls auf den Wahllisten zu finden und auf Wahlplakaten zu sehen war, obwohl ich nicht glaube, dass er gleichzeitig als Abgeordneter tätig sein wird.
Spitzenkandidat der LDK ist der ehemalige UCK-Führers Hashim Thaci, den ich einigermaßen gut kenne und den ich bei einem Abendessen getroffen habe. Es kandidierte auch die Partei des Intellektuellen Veton Surroi, der auf den Wahlplakaten mit Bush zu sehen war, was eher eigenartig ist. Und schließlich die neue Partei eines reichen Kosovoalbaners, der seit langer Zeit seinen Wohn- und Firmensitz in der Schweiz hat und von dort aus auch seine Geschäfte tätigt, insbesondere mit Russland und Kasachstan. Wie er mir erzählt hat, besitzt er auch eine Wohnung am Graben in Wien. Dieser Albaner namens Piccoli verkörpert eine eigenartige, aber nicht unsymphatische Mischung. Er ist einer jener Selfmade-Männer, wie sie heute in vielen Ländern agieren und kandidieren. Einer, der nicht mit Fremdenhass und Nationalismus operiert, sondern dem im Gegenteil vorgeworfen wird, dass er nicht genug Kosovoalbaner und Nationalist sei, dass er Geschäfte mit Russland betreibe – was im Kosovo auch nicht so populär ist. Dennoch hofft er, mit einem gar nicht so schlechten Ergebnis in das kosovoalbanische Parlament zu kommen.

Keine falschen Versprechungen

Unsere Gespräche und Diskussionen hier haben gezeigt, dass die wirklichen Probleme erst nach den Wahlen und nach der wie auch immer stattfindenden Unabhängigkeitserklärung kommen werden. Katastrophale Wirtschaftsfaktoren, große soziale Probleme, eine endemische Korruption: Das sind jene Faktoren, die heute eine große Rolle spielen und sie zu überwinden, wird nicht leicht sein. Zwar werden rund um Pristina Firmen mittlerer Größe errichtet, inwieweit das in den nächsten Jahren durchgreifend wirkt, ist sehr schwer zu sagen.
Vor diesem Hintergund ist auch die immer wieder angestellte Vermutung, man könnte das Problem lösen, indem man Serbien und Kosovo eine nahe Zukunft in der EU verspricht, aus meiner Sicht nicht haltbar. Ich bin sicher jemand, der für die Erweiterung eintritt, der sich insbesondere für die Region Süd-Osteuropas engagiert und der immer wieder betont, dass wir seitens der EU versprochen und eindeutig durch Beschlüsse festgelegt haben, dass diese Region eine Zukunft in der EU hat, wenn die Kriterien erfüllt sind. Ich sehe aber auch, mehr natürlich noch im Kosovo als in Serbien, dass das nicht von heute auf morgen funktionieren kann und es wäre falsch, das auf kurze Sicht zu versprechen.

Zu wenig Druck

Interessant ist in diesem Zusammenhang ein amerikanisches Journal, das sich mit der Erweiterung und den neuen Demokratien in Europa beschäftigt. Dort wird relativ deutlich formuliert, dass die europäische Union – insbesondere die Kommission und das Parlament – einen großen Einfluss auf demokratische Entwicklungen, Stabilität und institutionelle Neuordnungen hat, solange die Länder nicht in der EU sind. Wenn die Länder Mitglied der EU seien, brechen dieseMechanismen oft zusammen oder würden zumindest sehr schwach.
Das zeigt sich in der Tat in einer Reihe von neuen Mitgliedsländern. Leider üben die Kommission und das Parlament zu wenig Druck aus, wobei das für das Parlament wesentlich schwieriger ist, weil ja die KollegInnen aus diesen Ländern in unseren Fraktionen im Parlament vertreten sind. Die Energie zur Korruptionsbekämpfung und zur weiteren Stabilisierung lässt unbestritten nach, und das führt in der Folge sehr oft zu Entwicklungen, die weder den betroffenen Ländern selbst, geschweige denn der Kohäsion innerhalb der EU helfen.

Klare Prioritäten für den Kosovo

Der Beitritt der einzelnen Länder Süd-Osteuropas kann also nicht von heute auf morgen funktionieren. Alle Beteiligten müssen sich Zeit nehmen und gründlich daran arbeiten, um diesen Prozess effizient und vor allem nachhaltig zu gestalten. Was den Kosovo betrifft, so gibt es ganz klare Prioritäten.
Erstens sollte versucht werden in den nächsten Tagen eine verhandelte Lösung zu finden, zumindest eine solche Lösung, die letztendlich von beiden Seiten – von Serbien und dem Kosovo – akzeptiert werden kann. Zweitens ist es ganz wichtig, dass es auch zu entsprechenden Beschlüssen der Vereinten Nationen kommt. Diese sollten eine rechtliche Grundlage für die Präsenz der EU im Kosovo bilden. Ohne eine solche rechtliche Grundlage ist es äußerst schwierig, diese Präsenz vorzunehmen. Ob das noch die bestehende Resolution 1244 ist oder eine neue, ist eine andere Frage, aber es hat absoluten Vorrang vor der Anerkennung des Kosovos. Drittens: Die Erklärung des Kosovo zur Unabhängigkeit sollte möglichst im Einvernehmen mit der EU erfolgen und sollte zumindest nicht den übrigen Beschlüssen vorauspreschen, etwa hinsichtlich der Frage der Präsenz der EU. Das wird noch ein schwieriger Prozess, der in den nächsten Wochen abzuwickeln sein wird.

Viele Fragen sind offen

Wir in der EU müssen nicht nur auf den Kosovo und auf die Entwicklung Serbiens Rücksicht nehmen, sondern wir müssen auch auf die möglichen regionalen Konsequenzen, beispielsweise in Bosniern-Herzegovina achten. Und wir müssen uns überlegen, welche Konsequenzen in anderen Regionen, etwa im Kaukasus, entstehen, wo es ähnliche, wenn auch momentan eingefrorene Konflikte gibt. Diese könnten eine neue Anfeuerung bekommen, wenn der Kosovo ohne großes Wenn und Aber die Unabhängigkeit bekommt und diese von der EU anerkannt wird.
Ich kann mir dennoch keinen anderen Weg als den Weg in Richtung Unabhängigkeit des Kosovos vorstellen. Unzählige Fragen sind dennoch zu klären, gerade im Verhältnis zu den Nachbarn und auch im Verhältnis zur EU. Klar ist, dass die Grundsätze des Athissaari-Plans hinsichtlich der inneren Situation umgesetzt werden müssen. Der Kosovo braucht eine weitgehende Dezentralisierung und damit einhergehend eine Stärkung des Einflusses insbesondere der serbischen Minderheiten sowie auf die zukünftige Verwaltung und die Politik des Kosovos.

Langfristiger Prozess

So gut der Athissaari-Plan bezüglich der innere Struktur des Kosovo ist, so wenig gibt er allerdings Antwort auf die Frage, wie der Prozess der Unabhängigkeit tatsächlich erfolgen kann und wie auch garantiert werden kann, dass die EU im Lande selbst verbleibt – mit all den Schwierigkeiten, die eine solche geteilte Souveränität und Macht hat. Es zeigt sich auch in Bosnien, wie schwierig es ist, zu klären, wer eigentlich wofür verantwortlich ist: das Land selbst, seine gewählten Politiker bzw. die EU und die in das Land entsandten Spitzenbeamten- und diplomaten, etc.
Da ich nicht davon ausgehe, dass es sich im Fall des Kosovo um einen äußerst langwierigen Prozess handelt, wird dieser ohne Begleitung und Einflussnahme seitens der EU gar nicht möglich sein. Ich gehe davon aus, dass dieser Prozess immer wieder Konflikte und Schwierigkeiten mit sich bringen wird. Zu hoffen ist, dass es sich dabei nicht um Konflikte handelt, die mit Gewalt gelöst werden. Die soeben neu gewählten PolitikerInnen sollten verantwortungsvoll genug sein zu erkennen, dass jetzt keine Phase des Widerstandskampfes begonnen hat, sondern eine Phase der verantwortungsvollen Umsetzung eines langgehegten Traumes: den Schritt in eine Unabhängigkeit des Kosovos. Was in 10 bis 20 Jahren daraus wird, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, dass jetzt schwierige Zeiten auf uns zukommen, die von allen Seiten mit großer Verantwortung gelöst werden müssen.

Pristina, 17.11.2007