Solidarität ist unverzichtbar

Gerade heute geht es darum, soziale Belange nicht unter den Tisch fallen zu lassen.
Die der SPD nahestehende Friedrich Ebert Stiftung, gewissermaßen das deutsche Pendant zum Renner-Institut, hat mich eingeladen, wie schon im vergangenen Jahr – damals am Ochridsee, diesmal in Bitola – an einem Seminar für PolitikerInnen der Region teilzunehmen.

Die soziale Dimension

Ich wollte Bitola, das frühere Monastir, immer schon sehen und habe diese Einladung gerne angenommen. Außerdem sind derartige Seminare stets eine gute Gelegenheit, KollegInnen aus Südosteuropa abseits von formellen Sitzungen zu treffen und mit ihnen verschiedenste Anliegen und gegenseitige Bedürfnisse zu diskutieren. Leider haben zwar einerseits einige politische MandatarInnen aus jeweils verständlichen nationalen politischen Gründen abgesagt. Andererseits nahmen aber kompetente und qualifizierte MitarbeiterInnen aus dem akademischen Bereich und den verschiedenen NGOs teil, und so verliefen unsere Diskussionen durchaus sehr angeregt.
Es ging bei diesem Seminar vor allem um die soziale Dimension der EU, über die ich selbst berichten sollte. Die deutsche Bundesabgeordnete Uta Zapf fokussierte aus der deutschen Perspektive die verschiedenen sozialen Anliegen der Sozialdemokratie. Der Ansatz meines Referates lag in meiner Überzeugung, dass es nach 1945 nicht nur darum ging, die nationalistischen und ethnischen Gegensätze in Europa zu überwinden, sondern vor allem auch darum, ein europäisches Sozialmodell zu entwickeln. Das war zwar keine spezifische und sehr konkrete Absicht der Gründungsväter der EU. Parallel zur EU hat sich allerdings immer mehr ein europäisches Sozialmodell, wenngleich in verschiedenen Ausprägungen und Differenzierungen, herausgebildet.

Wandel im Pensionsbereich

Gemeinsam ist den verschiedenen Formen innerhalb des europäischen Sozialmodells, dass sie zumindest gegenüber dem amerikanischen Modell auch die öffentliche Verantwortung für die Sozialentwicklung und für die Bekämpfung der Armut stärker unterstreichen. Diese öffentliche Verantwortung kommt heute nicht nur in öffentlichem oder gemeinwirtschaftlichem Eigentum zum Ausdruck, sondern durchaus auch in privatwirtschaftlicher Form. Der öffentliche Sektor trägt Verantwortung auch bei Leistungserbringung durch private Anbieter.
Das lässt sich an verschiedenen Beispielen zeigen – etwa im Pensionsbereich, wo es einen Wandel von der rein öffentlich beeinflussten Sozialversicherungspension im Sinne einer Ergänzung durch die zweite Säule, also Betriebspensionen und die dritte Säule bei privaten Pensionsfonds, gab. Es ist aber die Sozialdemokratie, die immer wieder die Bedeutung der ersten Säule betont. Wir wollen nicht, dass die verschiedenen Pensionsanwärter ihre Pension verlieren, wenn die zweite oder dritte Säule, also die eher privatwirtschaftlich orientierten Säulen, versagen. Es handelt sich dabei nicht um reine Theorie. Bei der letzten Plenarsitzung des Europäischen Parlaments haben wir den Bericht eines Sonderausschusses beschlossen, der sich mit den Konsequenzen des Ruins der sogenannten „Equitable Life“-Versicherung beschäftigt hat, bei der unzählige Menschen um ihr verdientes Geld gekommen sind.

Bildung und Gesundheit für alle

Ähnliches gilt für den Gesundheits- und Bildungsbereich. Auch hier gibt es zunehmend private Anbieter, auch bei den sozialen Diensten in Österreich und in Wien. Allerdings sorgt die öffentliche Hand dafür, dass gewisse Qualitätsstandards eingehalten werden. Ganz entscheidend ist zudem, dass auch sozial Schwachen eine entsprechende Ausbildung sowie Sozial- und Gesundheitsdienste offenstehen. Solidarität ist in diesem Zusammenhang ausschlaggebend, und diese Solidarität ist für die Sozialdemokratie unverzichtbar.
Selbst im Rahmen der Postdienste, die bekanntlich zunehmend liberalisiert werden, muss im Rahmen der EU und nicht zuletzt aufgrund der Sozialdemokratie ein Universaldienst hergestellt werden, der allen Menschen – unabhängig davon, wo sie wohnen – zur Verfügung steht – und zwar in einem angemessenen Ausmaß und nicht bloß als lückenhafte Versorgung.

Naive Amerikagläubigkeit

Es stellt sich die große Frage, ob es zu einer Amerikanisierung der EU kommt, indem amerikanische Konzepte, die man als neoliberalistische Konzepte bezeichnen kann, übernommen werden und Europa zunehmend beeinflussen. Das ist zweifellos der Fall. Europa hat sich allerdings in vielen Bereichen dagegen gewehrt. Gerade in dieser Region war es mir deshalb besonders wichtig darauf hinzuweisen, dass die verständliche und manchmal weniger verständliche Unterstützung der Vereinigten Staaten von Amerika als Hort der Freiheit nicht dazu führen sollte, den amerikanischen Freiheitsbegriff auch im Wirtschafts- und Sozialsystem zu übernehmen.
Die Länder, die kommunistisch regiert worden sind und in denen auch viele Funktionäre aus der Kommunistischen Partei kamen, haben sich oft um 180 Grad gedreht. Sie wollten wahrscheinlich beweisen, dass sie mit dem Sozialismus und dem Kommunismus nichts oder nichts mehr zu tun haben. Diese Einstellung führt allerdings zu einem naiven Amerikaglauben – von der Außenpolitik bis zur Wirtschafts- und Sozialpolitik. Es gibt einen naiven Antiamerikanismus, aber es gibt auch eine naive Amerikagläubigkeit. Und genau das kann Europa am wenigsten brauchen.

Spekulativer Kapitalismus

Dass es gerade heute darum geht, soziale Belange nicht unter den Tisch fallen zu lassen, hat kürzlich eine Studie der OSZE, die selbst eher neoliberal angehaucht ist, gezeigt. Die Studie belegt, dass im Zuge der Globalisierung wie des technischen Fortschritts sozial Schwächere und niedrigere Einkommensschichten eher in ihrer Einkommensentwicklung zurückfallen und dass reichere, vermögende, mobilere Schichten davon profitieren.
Ein weltweites Auseinanderklaffen zwischen Arm und Reich ist nicht mehr zu übersehen. Das heißt zwar nicht, dass alle Armen ärmer werden und dass alle Reichen reicher werden. Dennoch zeigt sich, dass insbesondere der Anteil der ArbeitnehmerInnen am Sozialprodukt zurückgeht und der Anteil der ArbeitgeberInnen, der Vermögenden eher zunimmt. Gerade auch durch die verschiedenen Investitionsfonds, ob es sich dabei um sogenannte Hedgefonds oder Equityfonds handelt, wird ein spekulativer Kapitalismus sichtbar.

Inakzeptable Entwicklung

Erst kürzlich hat Martin Wolf in der Financal Times – und weder Martin Wolf noch die Financal Times stehen der Linken sehr nahe – folgendes gemeint: „Wir haben einen Triumph des Globalen über dem Lokalen, des Spekulativen über das Managertum und des Finanziers über den Produzenten.“ Demnach ist das spekulative Kapital in der globalen Welt entscheidender als die Fähigkeiten der Manager und sind die Finanzströmungen entscheidender als das Produzieren von Waren oder Dienstleistungen.
Und genau in einer solchen Welt passiert es dann, dass die spekulativen Finanzkapitalisten die großen Gewinner sind und die produzierenden ArbeitnehmerInnen, insbesondere aus den unteren Einkommensschichten oder den unteren Qualifikationsbereichen, die relativen Verlierer. Diese Entwicklung ist inakzeptabel. Sozialdemokratische Politik auf nationaler, aber auch auf europäischer Ebene muss ihr entgegenwirken.

Konkrete Maßnahmen

Die EU hat in vielen Bereichen Solidarität und Hilfe für Ärmere in den Mittelpunkt verschiedener Programme gestellt. Bei der sogenannten Kohäsionspolitik geht es beispielsweise darum, die ärmeren Länder an das durchschnittliche Einkommen anzugleichen. In der Regionalpolitik sollen die ärmeren Regionen, unabhängig davon, ob die Länder ärmer oder reicher sind, an die entsprechenden Durchschnittseinkommen herangeführt werden. Und im Lissabonprozess wird immer wieder darauf hingewiesen, dass gegen den Ausschluss der Menschen aus dem normalen Wirtschafts- und Gesellschaftsleben zu kämpfen ist, dass in die Bildung zu investieren ist und dass die Menschen in dieser veränderten Welt einen Arbeitsplatz finden können müssen.
Abgesehen von der generellen EU-Politik in vielen dieser Bereiche haben wir gerade in jüngster Zeit eine Reihe von Gesetze bearbeitetet, bei denen es der Sozialdemokratie gelungen ist, die soziale Komponente stärker zu betonen als es der Kommissionsvorschlag vorgesehen hat. Sei es die Dienstleistungsrichtlinie, bei der wir verhindern konnten, dass das Ursprungslandprinzip dazu missbraucht wird, Dienstleistungen aus sehr armen Ländern unter neuen Standard zu setzen. Oder sei es im Arbeitszeitgesetz, das vom Europäischen Parlament sehr positiv gestaltet wurde, das allerdings immer noch blockiert ist, da der Rat sich nicht auf eine generelle Höchstarbeitszeit für Europa einigen konnte. Zuletzt haben wir gerade in der vergangenen Woche Regeln zur Mitnahmemöglichkeit von Pensionsrechten, die sogenannte Portabilität, festgelegt. Auch das war ein äußerst mühsamer Prozess. Ein Teil der Konservativen wollte unsere Bemühungen im Interesse der Industrie und der Wirtschaft drastisch einschränken. Es ist dennoch gelungen, eine einigermaßen ausgewogene Position zu finden.

Konservative am Vormarsch

Es ist eine Mähr, dass Europa keine Sozialpolitik betreibt. Es stimmt, dass die Sozialpolitik nicht in jenem Ausmaß vorrangig ist, wie wir uns das wünschen würden. Und es stimmt, dass wir gerade auch im Europäischen Parlament aufgrund der bestehenden Mehrheiten viele Punkte nicht so durchzusetzen können, wie das vom sozialdemokratischen Standpunkt aus wünschenswert wäre.
Das ist aber auch auf der nationalen Ebene der Fall. Hier gibt es vielleicht durch den Wechsel von konservativen und sozialdemokratischen Regierungen mehr Möglichkeiten für die einen, sozialpolitische Maßnahmen zu setzten und für die anderen, diese wieder abzubauen. In der EU ist es ein wenig ausgeglichener, weil keine der beiden Gruppen jeweils die Mehrheit hat. Trotzdem bleibt es ein Faktum, dass auf europäischer Ebene gerade in den letzten Jahren, wie die jeweiligen Wahlen gezeigt haben, in vielen Mitgliedsländern die Sozialdemokratie nicht gerade die führende Position einnimmt. Und diese Entwicklung bereitet uns große Sorge.

Unnötige Provokation

Das Seminar in Bitola war für mich auch Anlass, mich über die aktuelle Situation in Mazedonien selbst zu informieren. Auch hier hat die Sozialdemokratie bei den letzten Wahlen verloren und eine konservative Regierung, zum Teil mit neuen nationalistischen Tönen, ist im Amt. Das stört vor allem den Nachbarn Griechenland. Griechenland hat den Namen Mazedonien nie anerkannt, weil es Gebietsansprüche dieses Landes gegenüber dem Norden Griechenlands befürchtet. Ob man sich tatsächlich fürchten muss, ist eine andere Frage. Jedenfalls wird dieses Thema auch in Griechenland nationalistisch diskutiert.
Hinzu kommt die Tatsache, dass Mazedonien jüngst den Flughafen von Skopje, der eigentlich eher bescheiden ist, auf Alexander der Große-Flughafen umbenannt hat. Das hat zu heftigen Reaktionen geführt. Es war eine unnötige Provokation, und auch Alexander der Große selbst wäre wahrscheinlich nicht sehr erfreut darüber, wenn ein Flughafen, der von seiner Struktur nichts Großartiges zu bieten hat, seinen Namen trägt.

Unverständnis

Ich hatte in Bitola außerdem die Gelegenheit, mit einem Kollegen einer kosovo-albanischen Partei, mit der wir zusammenarbeiten möchten, zu sprechen. Er gab mir allerdings zu verstehen, dass seine Partei sich der Sozialdemokratie nur sehr schwer annähern könne, nachdem wir uns geweigert haben, in der Resolution des Europäischen Parlaments explizit die Unabhängigkeit des Kosovos zu fordern. Wir haben uns allerdings nicht geweigert, weil wir die Illusion haben, dass es nicht dazu kommen wird.
Wir wollten vielmehr, dass dieser Prozess etwas langsamer und ausgewogener erfolgt. Und wir wollten auch den Serben eine Chance geben, noch einmal in Gesprächen mit dem Kosovo und im Rahmen der Vereinten Nationen zu einer möglichst einvernehmlichen Lösung zu kommen. Nachdem die Mehrheit des Parlaments diesen Paragraphen so beschlossen hat, haben wir ebenfalls für die gesamte Resolution gestimmt. Dennoch, und das verstehe ich: Im Kosovo ist diese Vorgangsweise nicht gerade auf positive Resonanz gestoßen.

Europa bedeutet Verhandeln und Dialog

Insgesamt zeigt sich, dass man von Europa immer eine mehr oder weniger einseitige Parteinahme für seine eigenen Wünsche verlangt – das war auch bei Montenegro so. Europa bedeutet aber, zu verhandeln, Gespräche zu führen, zu versuchen, auch mit den Nachbarn einen Konsens zu bekommen und mit anderen ethnischen Gruppen im Land zu leben. Das hat sich aber leider noch nicht überall durchgesprochen.
Mazedonien ist ein Land, in dem das relativ gut funktioniert – auch wenn die neue konservative Regierung hinsichtlich der albanischen Minderheiten, insbesondere deren Vertretung durch die größte albanische Partei, nicht sehr geschickt agiert hat. Doch das dürfte sich jetzt ein wenig beruhigen. Die große albanische Partei DUI, die sich zuerst unverständlicherweise der parlamentarischen Mitarbeit entzogen hat, weil sie nicht mehr in der Regierung vertreten war, dürfte jetzt doch zum Einlenken bereit sein.

Historische Erinnerungen

Zum Abschluss meines Aufenthaltes in Bitola möchte ich auf ein interessantes Detail aufmerksam machen: Atatürk, der Gründer der neuen türkischen Republik, hat eine Zeit lang in dieser Stadt gelebt. Er war hier in der Kaserne als Militär tätig, und er hat hier eine Frau kennengelernt, in die er sich verliebt hat und mit der er kurzzeitig aus der Stadt geflohen ist. Die beiden sind wieder nach Bitola zurückgekehrt, es wurde aber keine dauerhafte Beziehung daraus.
Atatürk, der in Thessaloniki geboren ist, hat also damals noch in dieser gemeinsamen mazedonischen Region und in Bitola selbst gewirkt. Die Kaserne wurde inzwischen längst zu einem Museum umfunktioniert. Und heute steht vor allem eine historische Persönlichkeit im Mittelpunkt der Erinnerungen: Marschall Tito. Die Hauptstrasse von Bitola ist nach ihm benannt und es gibt ein Denkmal unmittelbar vor dem kroatischen Konsulat. Das zeigt, dass Jugoslawien gerade in Mazedonien nicht ganz vergessen ist.

Bitola, 23.6.2007