Strategien mit Hindernissen

Der Wohlfahrtsstaat braucht Anpassungen und Umstrukturierungen, aber diese müssen mit Augenmaß durchgeführt werden, um die Zustimmung zum Europäischen Projekt nicht insgesamt zu gefährden.

Während wir in Israel und Palästina unterwegs gewesen sind, hat sich in Brüssel einiges getan. Einerseits stellte die Kommission ihren Bericht zur Lissabon-Strategie vor, jene Strategie, die aus Europa den wettbewerbfährigsten Kontinent machen möchte. Die Kommission betitelte ihren Bericht: „Zusammenarbeit für Wachstum und Arbeitsplätze – ein neuer Start für die Lissabon Strategie“.
Andererseits gab es Meldungen, die Kommission hätte ihren Vorschlag für eine Dienstleistungsrichtlinie zurückgezogen, was allerdings nicht gestimmt hat. Sie hat sich lediglich bereit erklärt, diese Dienstleistungsrichtlinie auch von sich aus zu modifizieren, was sie nach der Behandlung der Richtlinie im Europäischen Parlament, wo diese voraussichtlich nicht in ihrer derzeitigen Form akzeptiert werden wird, ohnehin hätte tun müssen.

Die Lissabon-Strategie

Aber zurück zur Lissabon-Strategie. Wie schon erwähnt: Die Lissabon-Strategie ist eine Strategie, die die Europäische Union in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit stärken soll. Ihr ursprüngliches Ziel war, aus Europa den wettbewebfähigsten Kontinent überhaupt zu machen. Allerdings gibt es dabei zwei grundsätzliche Probleme: Erstens sind die Strategien, die von den verschiedenen Seiten dazu angedacht werden, nicht immer übereinstimmend.
Die konservative Strategie ist sehr stark in Richtung Lohndumping und hohe Flexibilität der Arbeitskräfte orientiert. Sie sieht in den den Arbeitnehmerschutz in den Vordergrund stellenden Bedingungen das Haupthindernis der Wettbewerbsfähigkeit. Eine andere Strategie konzentriert sich darauf, Spitzenleistungen zu erbringen, ohne deswegen den Wohlfahrtsstaat redikal abzubauen oder zunichte zu machen. Sie ist auf Erhöhung der Produktivität, auf mehr Wissenschaft und Forschung und eine bessere Infrastruktur fokussiert, zielt also eher auf die Leistungsfähigkeit der Gesellschaften und des Staates ab.

Zu wenig Einflussmöglichkeiten

Zwischen diesen beiden Strategien gibt es Zwischen- und Kompromisslösungen, aber es ist doch eine Frage, wo die jeweilige Betonung liegt. Darüberhinaus hat das offizielle Europa, also die zentralen Institutionen der Europäischen Kommission und des Europäische Parlaments, wenig Kompetenz und Einflussmöglichkeiten, wenn es um die Ausrichtung der Wirtschaft- und Sozialpolitik oder der Wissenschaft- und Forschungspolitik der einzelnen Staaten geht.
Angesichts der knappen Budgetmittel, die der Europäischen Union zur Verfügung stehen, gibt es eine verschwindend geringe Einflussmöglichkeit. Das macht den Lissbon-Prozess insgesamt zu einem sehr schwachen Prozess.

Geänderte Rahmenbedingungen

Zudem haben sich die Rahmenbedingungen für eine europäische Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik geändert. Auf internationaler Ebene ist Europa mit neuen Konkurrenten wie China, Indien und anderen Länder konfrontiert, die ihre Waren zu wesentlich günstigeren Preisen anbieten, weil sie durchaus qualifizierte Arbeit zu wesentlich günstigeren Bedingungen erbringen können. Selbst wenn man die Missachtung der Umwelt und der sozialen Forderungen und Belange in diesen Ländern in Rechnung stellt, ist auf Grund der geringen Einkommenssituation ein Wettbewerbsvorteil gegeben.
Parallel dazu bestehen in Europa interne Strukturen durch die Überalterung bzw. den Alterungsprozess in der Bevölkerung. Auf Grund des wachsenden Anteils alter Menschen hat die aktive Arbeitsbevölkerung eine höhere soziale „Last“ zu tragen hat bzw. besteht die Notwendigkeit, das Pensionsalter hinaufzuschieben, um die Sozial- bzw. Pensionsbelastung zu reduzieren.

Anpassungen nach dem nordischen Modell

Vor diesem Hintergrund müssen selbst Verfechter des Wohlfahrtsstaates, soweit sie für die Realitäten offen sind, anerkennen, dass Veränderungen notwendig sind. Allerdings zeigen gerade die nordischen Staaten Europas – Dänemark, Schweden und Finnland -, dass Anpassungen nicht unbedingt eine radikale Absenkung des Niveaus des Wohlfahrtsstaates bedeuten müssen, im Gegenteil: Möchte man eine erhöhte Mobilität der Arbeitskräfte erreichen, dann kann ein soziales Sicherheitsnetz durchaus von Vorteil sein.
Es motiviert die Menschen eher, einen Arbeitsplatzwechsel vorzunehmen bzw. Umstrukturierungsmaßnahmen zu akzeptieren, wenn sie wissen, dass sie sozial abgesichert sind und nicht ins Bodenlose fallen. Aus diesem Grund haben wir Sozialdemokraten das nordische Modell in den Vordergrund gestellt.

Zu wenig Nachdruck

Der Vorschlag der Europäischen Kommission ist hingegen nicht sehr ausdrucksstark. Er bekennt sich zwar ebenfalls zu einem sozialen Sicherheitsnetz, aber in einer extrem zurückhaltenden Form. Aus meiner Sicht wird nicht stark genug unterstrichen, dass die Mobilität der Arbeitskräfte sehr eng mit dem sozialen Sichheitsnetz verknüpft sein muß.
Die Kommission bekennt sich auch zu den positiven Maßnahmen wie Ausbau der Infrastruktur oder Erhöhung der Wissenschaft- und Forschungsausgaben, ohne allerdings auch klar zu sagen, dass, um dies zu erreichen, entsprechende Incentives aus dem europäischen Budget gegeben werden müssen. Das wiederum würde voraussetzen, dass das europäische Budget einigermaßen vernünftig finanziert wird und die Budgetpolitik der nächsten Jahre nicht durch die restriktive Haltung der nationalen Finanzminister bestimmt werden darf bzw. kann.

Schwachstelle

Mit Recht unterstreicht die Komission, dass die nationalen Regierungen gefordert sind, sich stärker nicht nur auf die Aufgabe des Lissabonprozesses zu konzentrieren, sondern auch in ihrer Berichterstattung gegenüber der Europäischen Kommission und damit indirekt auch dem Europäischen Parlament stärker ihre Ziele und ihre konkreten Maßnahmen darlegen sollten, um eine europaweite Prüfung ihrer Strategien möglich zu machen.
Das ist zugleich, wie bereits erwähnt, die Schwäche des Prozesses. Wir können nationale Anstrengungen beurteilen und überprüfen, aber letztendlich nicht wirklich beeinflussen. Es hängt letztendlich eben von den jeweiligen nationalen Anstrengungen ab, ob es wirklich zu einer Verwirklichung der Lissabon Ziele kommen wird. In diesem Kontext schlägt die Kommission vor, dass die einzelnen Länder eine Person als Hauptverantwortlichen – möglichst ein/e zuständige/r MinisterIn – für die Umsetzung des Lissabon Prozesses benennen sollen. Ob die Regierungen dieser Empfehlung folgen werden, ist noch offen.

Zu wenig „drive“

De facto sind die Vorschläge der Europäischen Kommission im Zusammenhang mit dem Lissabon Prozess in vielen Bereichen zu begrüßen, vor allem dort, wo es um stärkere Innovation und stärkere Forschungsinitiativen geht. Es wird sich zeigen, wie weit die Kommission selbst diese Schritte in der Folge umsetzen kann.
Unterm Strich ist für mich aber trotzdem – mit einem neudeutschen Wort formuliert – zu wenig „drive“ dahinter. Es gibt zu wenige klare Zielformulierungen, wie die einzelnen Regierungen zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie nicht genug für die Umsetzung der Lissabon Ziele machen. Und es ist nicht klar, wo die Kommission im eigenen Bereich Initiativen setzten möchte und wie die entsprechenden finanziellen und budgetären Voraussetzungen zu gestalten wären.

Die Dienstleistungrichtlinie

Die zweite Ankündigung, die in einigen Medien überinterpretiert worden ist , ist die eingangs erwähnte Bereitschaft der Kommission, bei der sogenannten Dienstleistungsrichtlinie doch einige grundsätzliche Überarbeitungen vorzunehmen. Die Dienstleistungsrichtlinie soll den Europäischen Markt für alle Dienstleistungsanbieter öffnen – eine im Prinzip logische Konsequenz des gemeinsamen Marktes. Allerdings ist in vielen Fällen das sogenannte Ursprungslandprinzip vorgesehen. Dieses Prinzip bedeutet sowohl für das Arbeitsrecht als auch für den Konsumentenschutz, also das Konsumentenrecht, dass nicht die Gesetze und Regelungen jene Landes gelten, in dem die Leistung angeboten wird, sondern jenes Landes, aus dem heraus der Dienstleister seine Leistung anbietet.
Wenn also beispielsweise in Österreich eine Dienstleistung aus der Slowakei, später vielleicht aus Rumänien, angeboten wird, dannwürden – bis auf ganz wenige, in der Regel sehr komplizierten Ausnahmen -, nicht nur die arbeitsrechtlichen Regeln des Ursprungslandes gelten, und auch konsumentenrechtliche Forderungen könnten nur zu den Bedingungen des Ursprungslandes eingeklagt werden, wenn das überhaupt gelingt.

Haarsträubend

Ich halte diese Regelung für äußerst problematisch, ja geradezu haarsträubend. Sie führt zu einem Unterlaufen bestehender besserer Regelungen im Sinne des Konsumenten- und Arbeitnehmerschutzniveaus. Freier Dienstleistungsverkehr, offener Markt heißt nicht und darf nicht heißen – vor allem so lange es große Unterschiede in den einzelnen Rechtsniveaus gibt – dass sich das für den Arbeitnehmer- und Konsumentschutz nachteiligere Recht gegenüber dem besseren Recht durchsetzt und es in vielen Fällen de facto zu einer Zurücknahme der fortgeschrittenen Gesetzgebung kommt bzw. diese in vielen Fällen ausgehöhlt wird.
Es handelt sich für mich um ein sehr dummes Prinzip. Zwar mag dies dem einen oder anderen Anbieter aus ärmeren, sozial schwächeren Ländern helfen, aber es widerspricht gänzlich dem euorpäisch fortschrittlichen Gedanken. Und je mehr die Menschen das Gefühl haben, dass der gemeinsame Markt mit einer Verschlechterung der Rechtssituation und der sozialen Stellung für den einzelnen Menschen verbunden ist, desto mehr werden sie dieses europäische Projekt ablehnen.

Überarbeitung ist notwendig

Es kommt nicht von ungefähr, dass dieser Vorschlag von einem extrem rechts gerichteten, mit dem Europagedanken keineswegs emotional verbundenen ehemaligen Kommissar, dem Niederländer Bolkestein, stammt. Viele von uns, mich eingeschlossen, haben in den Reden im Europäischen Parlament immer wieder an Kommissionspräsident Barroso appelliert, die vorliegende Dienstleistungsrichtlinie zu überarbeiten und neue Gedanken einzubringen.
Nun ist tatsächlich das Parlament am Wort, und wir werden in den nächsten Wochen – in der eigenen Fraktion, aber auch mit den Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen – beraten, wie wir wesentliche Veränderungen und Verbesserungen vornehmen können. Eine sozialdemokratische Kollegin aus Deutschland ist die zuständige Berichterstatterin.

Europäisches Projekt darf nicht gefährdet werden

Wir müssen mit aller Kraft dafür sorgen, dass diese auch von vielen NGOs und privaten Gruppen kritisierte Richtlinie nicht in ihrer jetzigen Form umgesetzt wird. Nochmals: Es geht nicht darum, dass es im Dienstleistungsbereich keinen gemeinsamen Markt geben darf – wir wollen nicht dem Protektionismus huldigen.
Aber es geht sehr wohl darum, dass wir eine vernünftige Regelung herbeiführen, die das in vielen Ländern erreichte hohe Konsumentenschutz- und Arbeitsrechtniveau gewährleistet. Der Wohlfahrtsstaat darf nicht zerstört werden. Was wir brauchen, sind Anpassungen und Umstrukturierungen. Und diese müssen mit Augenmaß durchgeführt werden, um die Zustimmung zum Europäischen Projekt nicht insgesamt zu gefährden.
Zweifellos müssen dabei auch die grundsätzlichen rechte unserer Nachbarn gewahrt werden. Ein Leitartikel in der franzöischen Zeitung „Le Monde“ hat es auf den Punkt gebracht: „Man kann nicht den osteuropäischen Mitgliedsländern einerseits untersagen, Kapital und Investitionen anzulocken und andererseits den Arbeitnehmern die Zuwanderung und den Unternehmern das Anbieten von Dienstleistungen untersagen.“ Und dann weigern sich die reichen Mitgliedsländer noch, das EU-Budget ausreichend zu finanzieren! Auch das würde das europäische Projekt gefährden.
Wien, 7.2.2005