Taller Caracas

Venezuela ist auf Grund des Erdölbooms kein armes Land und sollte seine Möglichkeiten, die Armut der einfachen Menschen zu bekämpfen, nützen.
Die vergangenen Tage verbrachte ich in Lateinamerika, konkret in Venezuela. Morgen werde ich in die USA weiterreisen.

Gespannte Beziehungen

Gerade zwischen diesen beiden Staaten herrschen große Spannungen. Hugo Chavez, der Präsident von Venezuela, beschuldigt die Amerikaner, gegen seine Regierung aufzutreten. Das entspräche durchaus der Logik der amerikanischen Politik, behandelt doch auch Chavez die Amerikaner aufgrund ihrer Unterstützung der Opposition bzw. der früheren Machthaber in Venezuela nicht sehr freundlich.
Dass die Beziehungen zwischen den USA und vielen lateinamerikanischen Staaten grundsätzlich sehr gespannt sind, hat sich dieser Tage auch beim Lateinamerikagipfel gezeigt. Amerika hat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten eher die rechten Oligarchien – bis hin zum Pinochet-Regime in Chile und der Militärdiktatur in Argentinien – unterstützt. Diese Politik rächt sich jetzt vielfach in einem Antiamerikanismus, den Bush deutlich zu spüren bekommt, und das nicht zu unrecht. Bush ist der Repräsentant dieser amerikanischen Richtung und hat Lateinamerika in seiner eigenen Politik vernachlässigt.

Stadtentwicklung

Der Grund meiner Reise nach Venezuela war eine Einladung der Stadtverwaltung und der österreichischen Botschaft in Caracas zu einem Stadtentwicklungsseminar. Initiiert wurde das Projekt von Hubert Klumpner, einem jungen österreichischen Architekten, den ich noch aus meiner Zeit als Planungsstadtrat kenne. Er hatte einige Fachexperten, insbesondere aus Südamerika sowie Architekten aus Österreich und mich eingeladen, mit Vertretern der Stadtplanungsverwaltung aus Caracas über die Entwicklung der Stadt zu diskutieren.
Am Beginn dieser Studientage stand zunächst eine Tour durch Caracas auf dem Programm, die unter anderem einen beeindruckenden Hubschrauberflug über das ausgedehnte Stadtgebiet beinhaltete. Caracas ist eine Stadt mit vielen Wolkenkratzern auf der einen Seite und unzähligen Elendsvierteln auf der anderen Seite. Diese so genannten „Barrios“ haben sich entlang von Bächen und Flüssen wie Finger in die Stadt hinein entwickelt.

Problematische „Barrios“

Das Durchwachsen der Stadt mit den Barrios schafft unzählige Probleme. Die großen Differenzen im Einkommen und die schlechten Lebensbedingungen in diesen Vierteln sorgen für zusätzliche Unsicherheit und haben der ehemals florierenden Stadt heute den Stempel einer negativen Rückentwicklung aufgedrückt. Es gibt zwar eine Reihe von interessanten Gebäuden und Strukturen.
Insgesamt hat sich allerdings eine Struktur entwickelt, die wahrscheinlich nur sehr schwer beherrschbar ist – insbesondere im Sozialbereich. Es wird nicht leicht sein, eine Umkehr dieser Entwicklung in Gang zu setzen und die Strukturen der Hauptstadt so zu verändern, dass es einerseits zu einer besseren baulichen Gestaltung kommt, und dass andererseits vor allem die soziale Entwicklung auf die ärmeren Schichten Rücksicht nimmt.

Gleichgewicht zwischen Erster und Dritter Welt

Caracas hat, wie gesagt, einiges zu bieten. So gibt es beispielsweise einen wunderschönen Park, der Erholungsflächen mit dem Botanischem Garten und dem Tierpark verbindet. Und es gibt eine gut funktionierende und sehr saubere, wenngleich ausbaubedürftige U-Bahn. Was die Stadt aber dringend braucht, ist ein besseres Gleichgewicht zwischen dem modernen Caracas mit den Elementen der Ersten Welt und dem Caracas der Dritten Welt.
Ich habe in diesem Zusammenhang empfohlen, auf die heute stärker fließenden Einnahmen aus der Erdölproduktion zurückzugreifen, um eine bessere Infrastruktur für den Verkehr und den sozialen Wohnen zu finanzieren. Und ich habe empfohlen, neue Arbeitsplätze in den Klein- und – meist illegalen – Mittelbetrieben zu schaffen. Man sollte die durchaus vorhandene Bereitschaft der vielen kleinen Straßenhändler, die den bestehenden Geschäften Konkurrenz machen, aufgreifen und sie in den legalen Produktionsprozess einbinden.

Erdölboom nutzen

Venezuela ist auf Grund des Erdölbooms kein armes Land und sollte seine Möglichkeiten, die Armut der einfachen Menschen zu bekämpfen, nützen. Präsident Chavez und seine Regierung haben beispielsweise eine Alphabethisierungskampagne gestartet. Diese Kampagne hat so manche Anleihen in Kuba genommen. Alphabetisierung ist eine weitere Voraussetzung, um mehr Menschen Arbeit zu geben. Diese Initiative ist daher sehr positiv zu bewerten.
Ich hatte bei meinem Aufenthalt in Caracas auch Gelegenheit, einige, Chavez nahe stehende Abgeordnete aus dem Parlament zu treffen und mit ihnen die angesprochenen Probleme zu diskutieren. Die Ideologisierung der Chavez´schen Politik in Richtung schwarz-weiß und die starke Anlehnung an Fidel Castro beunruhigen mich etwas. Auch die Versuche, aus Venezuela eine regionale Großmacht zu machen, die die amerikanische Hegemonie bekämpfen möchte, sind kein gutes Zeichen.

Worte statt Taten

Ich verstehe durchaus, dass Chavez mit den umliegenden Ländern ein gewisses Gegengewicht bilden und so die amerikanische Hegemonie durchbrechen will. Das birgt aber immer die Gefahr, dass es bloß bei leeren Worten bleibt, denen keine Taten folgen. Die unendlich langen Reden von Hugo Chavez erinnern ebenfalls an Castro – oft spricht er bei Versammlungen und auch im Fernsehen vier bis fünf Stunden. Konkrete Handlungen bleiben dagegen oft aus.
Es ist bekannt, dass Chavez stets unzufrieden mit der Durch- und Umsetzung der von ihm angeordneten Maßnahmen ist. So hat er etwa kürzlich den für sozialen Wohnbau zuständigen Minister entlassen, dem ein neuer Minister nachfolgte. Aber auch dieser hatte zu wenig getan, um die Verwaltung zu ändern und die Korruption im Kleinen zu bekämpfen, was einen erneuten Ministerwechsel zur Folge hat. Und dem amtierenden Oberbürgermeister von Caracas stellte Chavez beispielsweise einen General an seine Seite. Caracas besteht aus fünf verschiedenen Städten, die in unterschiedlichen Mitgliedsländern Venezuelas liegen. Besagter General soll nun zwischen zwei Städten, die nicht miteinander auskommen, vermitteln bzw. weitere Direktiven vorgeben. Der Oberbürgermeister wird dadurch natürlich entwertet.

Popularität nützen

Es ist nachvollziehbar, dass Chavez in dem ihn umgebenden lateinamerikanischen Ambiente populistisch auftritt und seine Popularität bei den ärmeren Schichten ausnützt, um die Menschen zu mobilisieren. Wenn sich aber diese Mobilisierung zum Teil gegen die Mittelklasse oder auch gegen Investoren wendet, die in der Folge das Land verlassen, wird es problematisch.
Stattdessen müsste seine Popularität für eine Mobilisierung der Massen genützt werden, um sie in die gesamte Gesellschaft zu integrieren. Und Chavez müsste jene, die bereit, sind Geld zu investieren, dazu animieren, im Land zu bleiben und tatsächlich zu investieren – ob sie ihm sympathisch sind oder nicht. Das muss geschehen, solange die Öleinnahmen fließen. Die Grundsteinlegung für eine spätere Entwicklung muss also jetzt erfolgen.

Nachhaltige Entwicklung in Gang setzen

Es ist grotesk, aber wahr, dass gerade die stark sprudelnden Einnahmen aus Grundstoffen, insbesondere von Öl, bisher nirgendwo, aber vor allem nicht in den Entwicklungsländern, dazu geführt haben, dass positive, langfristige und nachhaltige Entwicklungen in Gang gesetzt wurden. Das ist weder im Nahen Osten noch im Iran oder in Algerien der Fall, und schon gar nicht in Ländern wie Angola.
Öleinnahmen, Einnahmen aus Diamanten und anderen Ressourcen verleiten offensichtlich in der Regel dazu, den Aufbau einer nachhaltigen, vor allem auch mittelständigen Wirtschaft zu vernachlässigen. Und so kommt es zwar stets zu einem unmittelbaren Boom, zum Reichtum einiger Weniger, und in Verbindung damit zu Korruption – kurz, zu einer eigenartigen und schädlichen Verquickung von Politik und wirtschaftlicher Macht. Aber es kommt zu keiner nachhaltigen Entwicklung, die mit entsprechenden Mindestanstrengungen verbunden ist. Das ist äußerst problematisch.

Hoffnungen in Europa

In den Gesprächen, die ich in Caracas geführt habe, war das große Interesse an Europa, das im Sinne einer guten wirtschaftlichen Kooperation bis zu einem gewissen Grad ein Gegengewicht zu den USA bilden könnte, nicht zu überhören. Natürlich will man von Europa eine Öffnung der Märkte, vor allem für landwirtschaftliche Produkte. Das ist allerdings nicht ganz leicht, denn die jeweiligen Interessen verschiedener lateinamerikanischer Länder sind sehr unterschiedlich.
Die kleinen karibischen Länder, die von Bananen- und Zuckerexporten abhängig sind, die aber gewisse Präferenzen einen vorteilhaften Zugang zum europäischen Markt haben, denken anders als die großen Exporteure, wie etwa Brasilien, die diese Zugänge nicht haben.

Fairer Handel für alle

Diese Debatte betrifft uns auch im Inneren der Europäischen Union. Wenn wir derzeit darüber diskutieren, wie wir die anstehende Zuckerreform umsetzen sollen, dann gilt es, auf die Interessenslagen unserer Bauern, unserer Arbeitnehmer und unserer Wirtschaft Rücksicht zu nehmen. Aber es gilt auch auf jene kleinen Länder Rücksicht zu nehmen, denen wir Präferenzen eingeräumt haben, weil sie mehr oder weniger von den Exporten abhängig sind.
Aber auch die anderen Länder haben ein Anrecht auf fairen Handel. Wenn wir vom unfairen Handel anderer sprechen, vergessen wir leider allzu oft, dass wir selbst – insbesondere im landwirtschaftlichen Bereich – extrem unfaire Handelsbedingungen aufrecht erhalten, vor allem durch die Subvention von Exporten. Die mangelnde Fairness ist beiden Seiden, dem Norden und dem Süden, vorzuwerfen.

Caracas, 1.11.2005