The day after

Es wäre absolut unsinnig und kontraproduktiv, wenn man den Anschlag vom 11. September als einen Anschlag des Islam gegen die christliche Welt interpretieren würde. 
Die USA wurden schwer gedemütigt, und die Welt ist eine andere geworden. Der Terrorismus, die blindwütige Verfolgung von Ideen, die totale Gleichgültigkeit gegenüber Menschenleben – letztendlich auch gegenüber dem eigenen – haben Platz gegriffen. Hass und Selbsthass haben zu den unfassbaren Attentaten vom 11. September geführt.

Hass und Selbsthass

Niemand kann heute sagen, wie man etwas Derartiges grundsätzlich verhindern könnte. Es gibt wahrscheinlich kein probates Mittel gegen diesen Hass auf die moderne, kapitalistische Welt. Ich verstehe den Hass, der jetzt entstanden ist, und ich verstehe den Wunsch nach Rache. Trotzdem hoffe ich inständig, dass man mit kühlem Kopf reagieren wird.
Wir haben aufgrund der Ereignisse im außenpolitischen Ausschuss des Europäischen Parlaments eine Resolution verfasst. Der ursprüngliche Vorschlag war, die Attentate vom 11. September als eine Kriegserklärung zu bezeichnen. Ich habe im Verlauf der Diskussion wiederholt danach getrachtet, dass der Begriff Krieg nicht in die Resolution aufgenommen wird.

Keinen Krieg herbeireden

All zu leicht trägt auch diese Terminologie dazu bei, neue kriegerische Handlungen zu setzen, zu rechtfertigen und letztendlich tatsächlich einen Krieg herbeizureden. Das hat nichts mit Beschönigung und Verniedlichung des Geschehenen zu tun, sondern nur damit, dass wir trotz all des Schrecklichen und Grausamen dieser Tat und ihren Folgewirkungen keine Eskalation der Gewalt, keinen Krieg und keine Vernichtung entstehen lassen dürfen.
In den vergangenen Tagen haben mir Kolleginnen und Kollegen, aber auch Journalisten häufig die Frage gestellt, was jetzt zu tun sei. Sicherlich geht es in erster Linie einmal darum, kühlen Kopf zu bewahren. Und Europa muss die USA, bei aller Solidarität und allem Mitgefühl, doch dazu bewegen, keine ungezielten Strafaktionen und -sanktionen zu unternehmen, die genau diese Eskalation der Gewalt mit sich bringen.

Gemeinsam gegen den Terrorismus

Parallel dazu muss Europa unmissverständlich den Kampf gegen den Terrorismus auf allen Ebenen unterstützen und fortsetzen. Das wird nur nicht sehr viel nützen, weil es viele andere Orte gibt, die dem Terrorismus gleichgültig gegenüber stehen und ihn vielleicht sogar unterstützen, jedenfalls aber nicht entsprechend verfolgen. Umso wichtiger ist es, dass wir gerade jetzt versuchen, viele andere Länder – vor allem die großen Staaten wie Russland und China – einzuladen, den Kampf gegen den Terrorismus als eine gemeinsame Angelegenheit und nicht allein als eine Sache der Amerikaner oder der NATO zu sehen.
Der Kampf gegen den Terrorismus muss eine gemeinsame Sache sein, bei der alle Beteiligten das Interesse verfolgen, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln derartige Horrortaten zu verhindern und abseits aller Machtbestrebungen den gemeinsamen Feind zu schlagen.

Weltpolitische Haltung überdenken

Den Feind zu schlagen beinhaltet dabei nicht nur militärische Aktivitäten, sondern weltpolitische Überlegungen hinsichtlich Armut, Unterdrückung, Unfreiheit etc. Denn dass für Viele in dieser Welt der Reichtum, die Macht und der wirtschaftliche Vorsprung, die insbesondere durch das World Trade Center und das Pentagon repräsentiert werden, eine ungeheure Provokation darstellt, ist unbestritten.
Europa hat sich in dieser Hinsicht in den vergangen Jahrzehnten immer etwas moderater verhalten, seine Politik insgesamt differenzierter betrieben, war stets um Ausgleich bemüht und hat doch zumindest versucht, auch Verständnis für die Anliegen der anderen und wirtschaftlich rückständigen Staaten zu signalisieren. Diese dezentralere, differenziertere und sensiblere Haltung Europas hat bestimmt auch zu einer stärkeren Akzeptanz geführt – ob das den Bereich des Nahen Ostens oder andere Regionen dieser Welt betrifft.

Korrekturen vornehmen

Das heisst natürlich nicht, dass wir deswegen vor Terroranschlägen gefeit sind. Es bedeutet auch nicht, dass wir uns drücken oder neutral verhalten sollten, wenn es um den derzeit stattfindenden Kampf der Weltanschauungen oder um den Terror geht. Aber diese eher zurückhaltende, weniger überhebliche Herangehensweise hat uns bisher geholfen, und sie muss gerade jetzt massiv verstärkt werden.
Man wird nicht verbieten können, dass es militärische Gegenschläge gibt. Aber wir alle wissen, dass diese nur bedingt wirksam sind und den Terror nicht ein für alle Mal ausschalten können. Sie mögen vielmehr da und dort noch weitere Anschläge provozieren. Insgesamt geht es also darum zu zeigen, dass die einseitige Entwicklung der USA, die zum Teil dazu geführt hat, dass Arm und Reich auseinander gerissen wurden und bestimmte Veränderungsprozesse nicht mehr gestoppt werden konnten, korrigiert werden muss.

Keinen Denkfehler machen!

Es wäre jedenfalls absolut unsinnig und kontraproduktiv, wenn man den Anschlag vom 11. September als einen Anschlag des Islams gegen die christliche Welt interpretieren würde.
Ich habe in Algerien und anderen Ländern erlebt, wie viele aufrichtige und gläubige Moslems den Terror fürchten, vom Terror bedroht sind und unter dem Terror leiden. Die täglichen, neuerdings verstärkten Anschläge gegen Zivilisten, Unschuldige – Männer, Frauen und Kinder – in Algerien zeugen davon, dass es nicht der Islam ist, der den Terror begeht, sondern gerade viele Moslems vom Terror selbst am meisten bedroht sind.

Dialog mit dem Islam

Und dennoch wird man mit dem Islam einen Dialog führen müssen, um ihn in diesem gemeinsamen Kampf gegen den Terror einzubinden und auch verstärkt gegen den Fundamentalismus abgrenzen zu können. Der Fundamentalismus ist zwar noch kein Terrorismus, aber ein Nährboden für Irregeleitete, sich dem Extremismus anzuschließen. Hier ist der Islam aufgerufen, das zu tun, was sich auch in der katholischen und in vielen christlichen Religionen über Jahrhunderte entwickelt hat: die gewaltsame Durchsetzung von Ideen und Zielsetzungen zu kritisieren und zu verurteilen.
Bei aller Konzentration auf jene Ursachen, die den Nährboden für den Fundamentalismus, Radikalismus und Terrorismus hergestellt haben, gilt es aber auch, Selbstkritik zu üben: hinsichtlich unseres Unvermögens, im Nahen Osten den Weg zum Frieden zu bereiten oder unseres Unvermögens, zur Entwicklung der ärmsten Regionen beizutragen.

Extremisten wird es immer geben

Die Illusion, dass man durch eine geänderte Politik jeglichen terroristischen Anschlag verhindern kann, sollte man allerdings trotzdem nicht haben. Einige Extremisten, denen alles zu wenig ist, wird es immer wieder geben. Und genau sie werden immer mit Sturheit, Blindheit und Fanatismus ihre Interessen durchsetzen wollen.
Ich denke da etwa an die ETA im Baskenland , die mit Hass gegenüber den Spaniern versuchen, ihre Interessen durchzubomben. Von den unterschiedlichsten Methoden, die zum Beispiel auch gegenüber der ETA angewandt worden sind, von Versuchen mit ihnen ins Gespräch zu kommen bis fast zum Gegenterror hat letztendlich bisher noch keine einzige Massnahme gefruchtet.
Mag sein, dass gerade die Aktivitäten von Basta Ya, die ich selbst in Bilbao miterleben konnte, dazu beigetragen haben, dass jedenfalls die ETA-Anhänger bei den Wahlen weniger Zustimmung bekommen haben, wenngleich auch die ETA-Gegner nicht den Wahlsieg erringen konnten.

Eine neue Welt schaffen

Man wird den Terrorismus wohl nie hundertprozentig auslöschen können – leider. Das wird weder durch militärische Schläge noch durch die beste Spionageintelligenz oder eine geänderte Politik gelingen. Die einzige Chance besteht darin, zusammen und geschlossen zu agieren, Wachsamkeit gegenüber terroristischen Gruppierungen zu üben und sich ganz genau zu überlegen, wie man gerade der Dritten Welt konkret helfen kann.
Das sind die einzigen Antworten, die man finden kann. Es gilt, mit langem Atem und kühlem Kopf die Konsequenzen aus den Anschlägen in Washington und New York zu ziehen. Aus einem solchen Vorgehen könnte letztlich eine Welt entstehen, die den Extremisten weniger Chancen, weniger Möglichkeiten und weniger Unterstützung eröffnet, ihre unheilvollen Taten zu setzen. 
Wien, 14.9.2001