The final Countdown

Was soll dem Kandidaten Türkei in Kopenhagen gesagt werden?  
Die Bande zwischen den EU-Mitgliedern und den Kandidaten für die Erweiterung werden immer enger geschnürt. Bei der jüngsten Plenartagung des EU-Parlaments in Strassburg haben zum ersten Mal Parlamentarier aus den Erweiterungsländern das Wort ergriffen. Zwar nicht in der offiziellen Debatte, aber in einer eigens organisierten Diskussion im Plenarsaal, die unmittelbar vor der Debatte zum letzten Erweiterungsbericht vor dem Gipfel in Kopenhagen stattfand.

Am Montag darauf vertrat ich meine Fraktion bei einem Abendessen mit den Präsidenten der nationalen Parlamente der Erweiterungsstaaten. Sie fühlten sich in den Räumen des EU-Parlaments schon richtig zu Hause. Und auch wenn sich einige Beitrittskandidaten die Latte selbst sehr hoch legen, so zum Beispiel Polen hinsichtlich der „notwendigen“ Förderungsgelder für die Landwirtschaft, kann ich mir ein Scheitern des Gipfels in Kopenhagen kaum vorstellen.

Sonderfall Türkei

Inzwischen überschattet allerdings eine andere Frage die Beitrittsdebatte: Was soll dem Kandidaten Türkei in Kopenhagen gesagt werden? Bei der Abstimmung zum Erweiterungsbericht gab es zwei Abänderungsanträge zum Türkeikapitel. Einer – er stammte aus dem CSU-Lager – wollte den Kandidatenstatus der Türkei, also die mögliche Mitgliedschaft, durch ein Sonderverhältnis zwischen der EU und der Türkei ersetzen, und zwar sofort. Der andere – aus der liberalen Fraktion – wollte den Kandidatenstatus ausdrücklich unterstreichen.

Beim Ursprungstext bleiben

Ich plädierte dafür, beide Abänderungsanträge abzulehnen und beim Ursprungstext, wie er im Ausschuss angenommen worden war, zu bleiben. Dieser Text geht vom gegenwärtigen Kandidatenstatus aus, ohne explizit die zukünftige Mitgliedschaft zu erwähnen. Sowohl meine Fraktion als auch das Plenum insgesamt folgte meiner Empfehlung. Selbstverständlich weiss ich, dass damit noch keine Entscheidung gefällt ist, aber in der kritischen Phase der Gespräche über die Wiedervereinigung des griechischen und des türkischen Teils von Zypern die Türkei vor den Kopf zu stoßen, hielte ich für besonders dumm und verantwortungslos.

Unbeschadet davon gehen die Diskussionen weiter. In der gestrigen Debatte zur Vorbereitung des Gipfels von Kopenhagen meinten viele, dieser Gipfel sollte keinesfalls zu einem Türkei-Gipfel werden, um dann vorrangig über die Türkei zu sprechen. Insbesondere die Verteidiger des christlichen Abendlandes, die die Türkei aus religiösen Gründen ablehnen, waren dabei sehr aktiv.

Faszinierender Kemal Dervis

Vor wenigen Tagen führte ich ein ausführliches Gespräch mit Kemal Dervis, dem ehemaligen Superminister für Wirtschaftsfragen, der aber aus Protest gegen den früheren Premierminister Ecevit aus der Regierung ausgetreten ist, auf der Liste der „sozialdemokratischen“ CHP kandidiert hat und jetzt die „Oppositionsbank“ im türkischen Parlament drückt. Die Wahlen brachten infolge des Scheiterns der Regierung und einer Zehn-Prozent-Hürde bekanntlich nur zwei Parteien ins Parlament: die islamische bzw. islamistische AKP, die die Regierung stellt, und die CHP.

Das Gespräch mit Kemal Dervis war äußerst angenehm. Er ist ein blitzgescheiter, extrem sympathischer und zugleich sehr bescheidener Mann, der noch dazu ausgezeichnet Deutsch spricht. Würde er die Türkei insgesamt repräsentieren, hätten es Viele schwerer, ein Argument gegen deren Mitgliedschaft zu finden.

Pro & Contra

Wie sehen nun die Pros und Contras aus? Für die mittelfristige Aufnahme von Verhandlungen für einen Beitritt der Türkei spricht vor allem ein lange zurückliegendes (1963) und in jüngster Zeit bekräftigtes Versprechen, der Türkei bei Erfüllung aller Bedingungen den Beitritt zu ermöglichen. Auf der Grundlage dieses Versprechens hat die Türkei auch – und gerade in letzter Zeit – eine Reihe von Gesetzen beschlossen, die einen wesentlichen Schritt in Richtung Demokratisierung und Anerkennung der Minderheitenrechte bedeutet.

Überdies wäre es für das Verhältnis der „christlichen“ Gesellschaften zum Islam, und damit auch für unsere regionale Sicherheit, äußerst wichtig, dass das türkische Experiment Islam sowie Demokratie und Offenheit auf einen Nenner zu bringen gelingt. Eine Unterstützung der demokratischen, pro-europäischen Kräfte in der Türkei durch die in Aussicht gestellte Mitgliedschaft in der EU wäre dabei sehr hilfreich.

Auf der anderen Seite jedoch darf man nicht übersehen, dass gerade angesichts des Wahlerfolges der islamischen AKP der Laizismus, also die Trennung von Staat und Religion, auf wackeligen Beinen steht. Auch sind viele der beschlossenen Gesetze noch nicht umgesetzt, und die Kurdenfrage ist keineswegs gelöst – insbesondere auch angesichts der großen Kurdenbevölkerung jenseits der türkischen Grenze, vor allem im Irak.

Heikle Situation

Die inneren Spannungen wirtschaftlicher, politischer und sozialer Natur und so manche Differenzen mit den Nachbarn, verbunden mit der Größe der Türkei, machen aus diesem Land einen Kandidaten, der weitaus schwieriger zu behandeln ist, als etwa Slowenien und Ungarn, ja selbst als das momentan größte Beitrittsland Polen.

Hinzu kommt, dass angesichts der unmittelbar bevorstehenden Erweiterung und der damit verbundenen Integrationsprobleme sowie der Ungewissheiten über die institutionelle Zukunft Europas eine Entscheidung über eine Mitgliedschaft heute und auf mittlere Sicht eigentlich verunmöglichen. Da hilft auch der Druck Amerikas gar nichts. Für mich erhöht das Drängen der US-Regierung nur die Skepsis und die Vorsicht.

Moratorium anstreben

Am sinnvollsten wäre ob dieser Faktenlage wohl ein Moratorium, um auf beiden Seiten – im Idealfall gemeinsam – die nächsten Schritte der Partnerschaft EU-Türkei zu überlegen. Eine EU, die einen inneren, stark integrationistischen Kern und einen äußeren lockeren Ring um sich hat, kann die Türkei eher annehmen als eine homogene, immer stärker werdende politische Union. Man darf außerdem nicht vergessen, dass eine zukünftige Mitgliedschaft der Türkei Anfang der sechziger Jahre versprochen wurde, als die wirtschaftliche Integration eindeutig im Vordergrund gestanden ist.

Zugegeben: Das Nennen eines Datums für den Beginn von Verhandlungen ist noch keine endgültige Entscheidung über den Beitritt. Verhandlungen können sich hinziehen oder sie können scheitern. Sinnvoller wäre es aber trotzdem, ehrlich mit der Türkei zu sein und heute – unbeschadet einer späteren möglichen Mitgliedschaft – für beide Seiten sinnvolle Felder der Zusammenarbeit anzustreben.

Rückkehr auf die politische Ebene

Inzwischen ist mir im Feuilleton der gestrigen FAZ ein Beitrag von Mark Siemons in die Hände gefallen, der sich für die deutsche konservative Presse ungemein differenziert mit der Frage einer Mitgliedschaft der Türkei in der EU auseinandersetzt.

Dort kann man lesen: „Die universalistischen Ideen des Westens sind nun einmal aus antiker Philosophie und Christentum, diversen Religionskriegen und Aufklärung erwachsen, wie sie in dieser Kombination nur Europa erlebt hat. Doch die Frage ist, was daraus für die gegenwärtige Politik und deren Definition folgt. Wenn die historisch gewachsene Kultur zum Richtmaß des europäischen Selbstverständnisses erklärt wird und nicht die politischen Prinzipien von Demokratie, Menschenrecht und Laizität, dann droht sich Europa in seiner Vergangenheit einzuschließen, während es sich in der Gegenwart ein möglicherweise immer bedrohliches Außen schafft.“

Eine solche Orientierung führt nun nicht direkt und unmittelbar in die Mitgliedschaft der Türkei, aber sie führt die Diskussion auf die politische Ebene – wo sie hingehört – und weg von der religiös-kulturellen Ebene, wo es nur zu Missverständnissen und neuen Ausgrenzungen kommen kann. 
Brüssel, 8.12.2002