Türkische „Altlasten“

Im aussenpolitischen Ausschuss beschäftigten wir uns diesmal unter anderem mit der Frage, ob sich die Türkei zum Massaker in Armenien zu Beginn dieses Jahrhunderts bekennt, klar davon distanziert und dafür entschuldigt. 
Am gestrigen Tag wurde im außenpolitischen Ausschuss sehr ausführlich über die Frage der Türkei diskutiert. Kollege Moriot, Exgeneral und bekannt geworden durch seinen Einsatz und sein Kommando in Bosnien-Herzegowina, hatte einen Bericht zur Erweiterung bezüglich der Türkei eingebracht.
Dieser Bericht ist bewusst nicht im Zusammenhang mit den übrigen Erweiterungskandidaten diskutiert worden, und zwar mit dem Argument, dass in diesem Fall mit der Türkei ja keine Verhandlungen geführt werden. Was für die anderen Kandidaten nicht gilt, denn mit allen anderen wird ja bereits über den Beitritt verhandelt.

Stolperstein Armenien?

Plötzlich bekam eine Frage eine große politische Relevanz, die für die heutige Situation und für die Zukunft als solches nicht dieses Gewicht hat, nämlich die Frage, ob sich die Türkei zum Massaker des ottomanischen Reiches an den Armeniern zu Beginn dieses Jahrhunderts bekennt und ob sie sich klar davon distanziert und dafür entschuldigt. Wie bei allen Nationalisten ist in der Türkei diese Frage besonders sensibel und heikel. Ich habe bei meinem Besuch in der Türkei bereits gemeint, dass eine Historikerkommission die Bewertung der Ereignisse im Zusammenhang mit den Massakern an den Armeniern besser beurteilen und besser vornehmen könnte als Beschlüsse der Parlamentarier über das Genozid, wie es im amerikanischen Kongress passieren soll und im französischen Parlament und auch im Rahmen einer Resolution im Europäischen Parlament anno 1987 geschehen ist.
Die Abänderungsanträge, die die verschiedenen Personen mit ihren Mitgliedern des Europäischen Parlaments eingebracht haben, haben natürlich auf türkischer Seite große Unruhe erzeugt. In diesem Zusammenhang bekam ich nicht nur Anrufe des türkischen Botschafters bei der EU, sondern auch der Vertreter der EU-Kommission in Ankara, die ich ja erst kürzlich in der türkischen Hauptstadt getroffen habe, als auch von Kommissar Verheugen. Sie alle plädierten dafür, dass man doch diese Frage aussparen sollte. Auch ich war der Meinung, dass zumindest in dieser Form Armenien nicht in einem Bericht über die Erweiterung – die zukünftige, eventuelle Erweiterung der Türkei – Eingang finden sollte, jedenfalls nicht in dieser von außen einseitig strukturierten Form, sondern wenn, dann in der Aufforderung zu einem Dialog zwischen der Türkei und Armenien über die Geschichte und über die Ereignisse vor der Gründung der heutigen Türkei.

Konsensfindung

Es kam im Außenpolitischen Ausschuss zu sehr intensiven Diskussionen über diese Frage und natürlich zu völlig unterschiedlichen Meinungen. Dabei haben vor allem die Griechen, je linker umso mehr, sich im besonderen Ausmaße der armenischen Frage angenommen. Ich verstehe das schon aus taktischen Gründen nicht, denn gerade als griechischer Vertreter wird man in dieser Frage keine sehr hohe Objektivität haben und deshalb nicht sehr glaubwürdig sein, zumindest nicht in der Türkei. Und gerade für die Griechen sind doch andere Fragen – Zypern, das Verhältnis von Türkei und Griechenland insgesamt, insbesondere auch Grenzfragen in der Ägäis – viel entscheidender und wichtiger und sollten nicht durch die Betonung des Genozids oder des Massakers an den Armeniern belastet werden.
Von der grundsätzlich politischen Frage bis hin zur Frage, ob man hier wirklich von einem Genozid sprechen kann und ob tatsächlich die Ausrottung eines ganzen Volkes beabsichtigt war, haben wir über die vielen Fragen diskutiert. Wir haben schließlich einen Konsens gefunden, jedenfalls im Ausschuss, um diese Frage möglichst auf eine sehr niederschwelligen Art und Weise zu erwähnen und die Herausnahme von Kritik, von Angriffen auf Grund der Armenienfrage aus dem Text und aus den Abänderungsanträgen zu erwirken. Das wurde dann auch mit großer Mehrheit beschlossen, sodass ein sehr guter und keineswegs unkritischer Text über die Türkei beschlossen wird.

Kandidatennominierung für den Sarachow-Preis

Im Außenpolitischen Ausschuss haben wir diese Woche natürlich auch eine Reihe von anderen Fragen zum Thema gehabt, unter anderem die Frage der Zusammenarbeit mit Albanien hinsichtlich illegaler Migration oder die Frage, wieweit geheime Dokumente, die im Rahmen der Europäischen Union, nicht zuletzt auf Grund von Informationen aus der NATO, behandelt werden, wieweit hier Geheimhaltung gegeben ist bzw. wieweit hier auch die Kontrolle durch parlamentarische Gremien gegeben sein kann.
Auch eine Vorentscheidung über den Verleih des Sacharow-Preises bzw. die Konferenz der Präsidenten zu nominierenden Kandidaten. Nach verschiedenen Vorentscheidungen innerhalb der Fraktion haben wir uns schließlich einem Vorschlag angeschlossen, der von den spanischen Kollegen aus der Volkspartei gekommen ist: Wir wollen mit großer Mehrheit Bastaya, die Friedensbewegung, die sich gegen den baskischen Terrorismus wendet, vorschlagen. Auch eine unserer Abgeordneten, nämlich die Delegationsleiterin der spanischen Sozialisten, ist Mitbegründerin dieser Bewegung und diese Entscheidung für Toleranz und gegen den Nationalismus, vor allem gegen den gewalttätigen Extremismus und Nationalismus, scheint mir ein wichtiges Signal zu sein, dass wir auch in Europa selbst solche terroristischen, nationalistischen Bewegungen bekämpfen wollen.

Vermittlungsverfahren zu den Eisenbahnen

Am Abend schließlich begann das Vermittlungsverfahren hinsichtlich der Eisenbahnberichte, die Kollege Jarzembowski und ich behandelt haben. Vor der formellen Eröffnung des Vermittlungsverfahrens, an dem viele der Abgeordneten, der Vertreter aller Mitgliedsländer, die Präsidentschaft und die Kommission in Form der Kommissarin Palacio teilnahmen, gab es einen so genannten Trilog im kleinen Rahmen. Zu diesem Trilog berichtete der Vertreter der Präsidentschaft, der französische Verkehrsminister, jene Punkte, in denen er zustimmen könne, dasselbe tat die Kommission. Daher ergab sich nicht sehr viel Konsens im Europäischen Parlament, weil die Zustimmung jedenfalls des Rates in eher unwichtigen und nebensächlichen Fragen gegeben war und die Kommission nur in einer wichtigen Frage dem Parlament zustimmte, aber ohne dass der Rat zugestimmt hat.
Der Trilog und auch die nachfolgende erste offizielle Sitzung des Vermittlungsausschusses brachte wenig Neues, kaum einen Dialog, geschweige denn eine wirkliche ernsthafte Diskussion. Ich war eigentlich enttäuscht, dass wir nicht schon tiefer in die Materie eingegangen sind. Und es ist sicherlich eine der vielen Sitzungen gewesen, die in dieser Form kaum notwendig sind, weil sie uns nicht wirklich weiterhelfen, rechtzeitig, d.h. bis Anfang Dezember, zu einer Lösung zu kommen. So haben wir vereinbart, Ende Oktober einen neuen Trilog zu führen, für den wir uns auch Zeit nehmen sollten, und auch am 22. November in Brüssel, wenn geht bis spät in die Nacht hinein, ein Vermittlungsverfahren zu führen.

Schwierige Kompromissfindung

Ich hätte mir gedacht, dass das schneller und intensiver geht, aber ich hoffe dennoch, dass wir manches von unseren Vorstellungen retten können. Die Alternative ist, dass es überhaupt keine Regelung gibt, wenn wir bis Dezember nicht auf Kompromissangebote von Rat und Kommission eingehen. Damit stehen wir vor der schwierigen Situation, einen Kompromiss zu erzielen, von dem wir wissen, dass er aus unserer Sicht zu wenig Fortschritt bringt.
Ich für meinen Teil kann heute noch nicht sagen, was besser ist. Denn nicht jeder Kompromiss ist annehmbar und schon aus dem parlamentarischen Selbstbewusstsein heraus müssen wir davon ausgehen, dass ein Minimum an Forderungen, auch an substantiellen Forderungen, von unserem Mitgesetzgeber, dem Rat, akzeptiert wird. 
Brüssel, 11.10.2000