Ukrainische Turbulenzen

Die ukrainischen Interessensgruppen müssen einen Kompromiss suchen und das politische System ausbalancieren.
Gestern Vormittag sind wir von Straßburg aus in die Ukraine geflogen.

Große Auseinandersetzungen

Ich habe den gestrigen Plenartag im Parlament nur ungern „geschwänzt“. Ich hatte allerdings für heute eine Einladung, ein Referat über die Schwarzmeerregion und die diesbezüglichen Herausforderungen für die EU in Kiew zu halten und soll morgen schon wieder in Brüssel sein, um bei einem europäisch-amerikanischen Forum zu referieren. So blieb nur der gestrige Donnerstagnachmittag, um politische Gespräche über die derzeitige turbulente politische Situation in der Ukraine führen zu können.
Es ist in diesem Land erneut zu großen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Lagern gekommen. Europa muss sich dieser Situation annehmen und versuchen zu helfen, ohne sich allzu tief in die ukrainischen Zwistigkeiten einzulassen.

Demonstrations-Tourismus

Unmittelbar nach unserer Ankunft trafen wir den EU-Kommissionsvertreter in der Ukraine, der uns einen generellen Überblick über die aktuelle Situation gab. Danach führte uns der Chef der Friedrich Ebert-Stiftung, einer deutschen Stiftung, die mit dem österreichischen Renner-Institut vergleichbar ist, wenngleich sie wesentlich größer und finanzstärker ist, zu den verschiedenen Schauplätzen der Demonstrationen.
Die DemonstrantInnen sind zum überwiegenden Teil dem Regierungslager von Premierminister Janukowitsch zuzurechnen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass alle DemonstrantInnen finanziert werden. Ihnen werden die Busreisen nach Kiew bezahlt, sie übernachten zum Teil in diesen Bussen oder werden täglich hin- und herchauffiert. Zudem erhalten sie ein kleines Taggeld. Es handelt sich nicht um radikale, fanatische DemonstrantInnen.

Abenteuer Politik

Der Leiter der Ebert-Stiftung beherrscht die Landessprache so gut, dass er sich in unserer Anwesenheit mit verschiedenen DemonstrantInnen unterhalten konnte. Sie waren zum Teil sehr fröhlich und zeigten sich überzeugt, dass sie für die Gerechtigkeit kämpfen müssen – ohne dabei allerdings immer genau zu wissen, was eigentlich gerecht ist. Manche verstehen ihre Tätigkeit auch als Abenteuer und Teilnahme an einem politischen Event, das sich noch dazu in der Hauptstadt abspielt. Einige Jugendliche gaben zu, dass sie noch nie in Kiew gewesen sind und diese Chance nun genützt hätten und noch dazu ein Gemeinschaftsgefühl erleben würden.
Wie gesagt: Es gab keinerlei radikale oder aggressive Stimmung, und das hat mich positiv beeindruckt. Dennoch ist es aus meiner Sicht problematisch, wenn insbesondere vor dem Verfassungsgerichtshof massive Demonstrationen stattfinden. Das übt einen gewissen Druck aus. Jene Institutionen, die in besonderem Maß für die Verfassungsmäßigkeit und Legalität eintreten, sollten auch in entsprechender Ruhe ihre jeweiligen Entscheidungen treffen können.

Im Hauptquartier Timoschenkos

Wir besuchten im Anschluss das Hauptquartier von Timoschenko. Julia Timoschenko hat früher das Amt der Premierministerin bekleidet und ist eine anti-russische Kämpferin der Orangen Revolution. Wir haben sie persönlich nur kurz getroffen, das eigentliche Gespräch führten wir mit ihrem außenpolitischen Berater und einem äußerst aktiven Abgeordneten, der die Partei Timoschenkos ein wenig in Richtung Sozialdemokratie lenken möchte.
Ich habe ihn bei anderer Gelegenheit zusammen mit Timoschenko bereits in Brüssel getroffen. Er hat versucht, die Positionen seiner Gruppierung darzustellen und sein Interesse an Neuwahlen sehr deutlich zum Ausdruck gebracht hat – auch wenn Timoschenko keine rasenden Zugewinne verzeichnen würde.

Politiker vom alten Schlag

Am Abend fand ein sehr ausführliches Gespräch mit Parlamentspräsident Moroz statt, der uns zu einem Arbeitsessen eingeladen hatte. Moroz ist ein sehr anständiger Politiker, der mitgeholfen hat, das System des früheren Präsidenten Kutschmar zum Verschwinden zu bringen und damit auch die Orange Revolution unterstützt hat.
Und trotzdem: Er ist ein Politiker alten Schlages, der noch aus dem alten System stammt, auch wenn er dort keine politische Funktion ausgeübt hat, sondern stets in Opposition gestanden ist. Das Auftreten in der Öffentlichkeit, der Populismus, der Appell an die Bevölkerung, wie er von Präsident Juschtschenko ebenso wie von Timoschenko vorgebracht wird – all das liegt Moroz absolut nicht. Er hat zu diesen politischen Kräften und charismatischen Persönlichkeiten einfach keinen Zugang.

Wankelmut?

Moroz wird – nicht ganz zu Unrecht – vorgeworfen, dass er nach den letzten Wahlen zwar an der Koalition, unter anderem mit Timoschenko und der Partei von Juschtschenko, beteiligt gewesen ist, sich aber letztendlich auf die Seite von Janukowitsch geschlagen und ihn bei der Regierungsbildung unterstützt hat – wofür er mit dem Amt des Parlamentspräsidenten belohnt worden ist.
Ob diese persönliche Geschichte eine große Rolle spielt, kann ich nicht beurteilen. Moroz hat uns gegenüber schon bei anderen Gelegenheiten argumentiert, dass Timoschenko selbst nicht genau gewusst hat, welchen Weg sie einschlagen soll und was sie eigentlich will und dass die beiden Vertretergruppen der Orangen Revolution miteinander zerstritten gewesen sind. Moroz hat unter diesen Umständen keine Chance gesehen, eine stabile Regierung zustandezubringen und sich aus diesem Grund an Janukowitsch orientiert.

Veränderung zum Positiven

Ich habe Moroz zu verstehen gegeben, dass ich diesen Schritt – so kritisch man ihn gesehen hat und sehen kann – letztendlich doch als eine Beitrag zur Stabilisierung des Landes sehe. Janukowitsch ist dadurch aus seiner früheren Position der völligen Abhängigkeit zu den Oligarchen des Ostens und der Quasi-Funktion der russischen Marionette herausgewachsen und hat sich zu einem Premierminister à la Ukraine entwickelt.
Er hat sich in hohem Ausmaß an die Europäische Union angenähert und hegt zu Recht eine gewisse Skepsis gegen den Nato-Beitritt. Trotzdem vertritt er nicht die simple transatlantische Linie von Juschtschenko, sondern tritt mit größerer Zurückhaltung auf. Janukowitsch hat sich also zweifellos gewandelt – offen bleibt nur die Frage, wie stark. Wahrscheinlich nicht so stark, dass er ein lupenreiner Demokrat ist. Trotzdem hat sich einiges bewegt.

Politischer Kompromiss

Wir haben Janukowitsch am nächsten Tag auch persönlich gesehen. Für mich entstand daraus die etwas peinliche Situation, dass ich nur sehr kurz bei jener Tagung sein konnte, auf der ich mein Referat gehalten habe und die Konferenz unmittelbar danach verlassen musste. Das Treffen hat zudem mit großer Verzögerung stattgefunden. Trotzdem hat sich Janukowitsch für uns Zeit genommen und hat mich noch mehr beeindruckt als bei unserem letzten Zusammentreffen. Er hat sich zu einem äußerst selbstsicheren und souveränen Premierminister gemausert. Amerikanische Berater haben ihn außerdem von der Kleidung bis zur Frisur durchgestylt.
Auch wenn Janukowitsch ein politischer Kompromiss ist, müssen dennoch die Gesetze eingehalten werden. Ob sich allerdings das Abziehen von Abgeordneten aus der Opposition zum Regierungslager auch mit dem Einhalten der Gesetze deckt, steht auf einem anderen Blatt. Trotzdem: Mein Bild über die Situation in der Ukraine ist nicht negativ, die vorhandenen Konflikte sind lösbar. Es hat zudem keinen Sinn, wie jetzt von Präsident Juschtschenko erneut angekündigt, Neuwahlen durchzuführen – wenn auch erst im Juni. Es wird ein ähnliches Resultat geben, und dann beginnt der Streit über die grundsätzlichen Fragen von Neuem.

Den Kompromiss suchen

Juschtschenko ist aus meiner Sicht eine herbe Enttäuschung. Ich spreche ihm gar nicht den guten Willen ab, und ich behaupte auch nicht, dass Janukowitsch der Held und Juschtschenko der Versager ist. Hinzu kommt, dass wahrscheinlich alle politischen Kräfte in keiner derart hervorragenden Position sind wie sie es in einem Land mit der Größe der Ukraine verdienen würde.
In deutschen Medien wird diese Situation zum Teil gut wiedergegeben. So meinte dieser Tage „Die Zeit“ unter dem Titel „Stahlbarone und Gasprinzessin“: „Wenn die ukrainischen Interessensgruppen verstehen, dass sie den Kompromiss suchen und das politische System ausbalancieren müssen, hat die Demokratie eine Chance. `Angesichts unserer autoritären Geschichte ist es vor allem wichtig, die Reform zur parlamentarischen Republik weiterzuschreiben´ sagt ein gewisser ukrainischer Experte Malenkowitsch. `Wir sollten besser keinen starken Mann im Staate haben wie in Russland. Wenn sich in Zukunft richtige Parteien herausbilden, wird das Parlament zum besten Ort des Interessensausgleichs´.“

Zwei Lager

Auch die bekanntermaßen konservative „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hat in einem Beitrag unter dem Titel „Der ukrainische Knoten“ folgendes gemeint: „Im Ergebnis sind die Feinde im ukrainischen Machtkampf einander ähnlicher geworden. Die bisher schon unscharfe Unterscheidung zwischen Demokraten und Oligarchen hat weiter an Sinn verloren. Darin könnte freilich auch eine Chance liegen. Denn jenseits des ideologisch aufgeladenen Kampfes zwischen Demokraten und Oligarchen haben die Konfusionen der Ukraine immer mit dem Ringen jener zwei Großmilieus zu tun gehabt, die dazu verurteilt sind, das gleiche Land zu bewohnen, des russisch empfindenden Ostens und des ukrainisch sprechenden Westens. Keines der beiden Lager ist dem anderen a priori überlegen. Beide wurzeln in Tradition und dem Gefühl spezifischer Zusammengehörigkeit. Frieden können sie nur finden, wenn sie ohne Überheblichkeit Mechanismen des Auskommens miteinander entwickeln, mit denen die Kette der permanenten Krisen durchbrochen werden kann.“ Dieser Beitrag kommt selbst auch zur Meinung: „Ohne eine solche Gesamtreparatur würden auch neue Wahlen nur alte Konflikte verlängern.“

Oligarchen nach wie vor präsent

Während die FAZ von den zwei Lagern spricht, spricht der Autor des davor erwähnten Zeit-Artikels „Stahlbarone und Gasprinzessin“ von drei Lagern, nämlich von Janukowitsch, Juschtschenko und Timoschenko, die allesamt ihre Oligarchen haben. Ich habe den Vertreter von Timoschenko offen auf diese Tatsache angesprochen. Er gab mir Recht, dass es noch einige große Oligarchen gibt, allerdings seien ihre Oligarchen besser als die anderen Oligarchen. Sie würden zudem versuchen, nach und nach jüngere und neue Leute zu bekommen, verstärkt die sozialen Interessen zu vertreten und so die Rolle der Oligarchen etwas zurückzudrängen.
Ich kann diese Aussage nicht beurteilen. Neben den individuellen Versuchen kommt es jedenfalls darauf an, dass es in der Ukraine zu grundsätzlichen Reformen und zu einem Grundkonsens kommt. Genau das habe ich auch Premierminister Janukowitsch gegenüber zum Ausdruck gebracht. Und ich habe ihm versichert, dass wir seine Entwicklung zu einem Premier der gesamten Ukraine anerkennen und ihn gerne bei der Suche nach einer politischen Lösung unterstützen.

Politische Lösung muss her

Janukowitsch hat dieses Angebot angenommen, aber immer wieder den Rechtsstandpunkt betont. Nun, selbstverständlich müssen die Veränderungen im Rahmen der Verfassung erfolgen. Letztendlich muss es aber eine politische Lösung geben. Und eine solche Lösung braucht Zeit. Die Vertreter von Timoschenko wie von Juschtschenko drängen hingegen auf rasche Lösungen. Rasche Lösungen führen allerdings lediglich zu jenen zweifelhaften Rechts- und Verfassungsregelungen, die beim nächsten Mal erst Recht wieder Anlass zu Streit und Auseinandersetzungen sind.
Nach unseren Gesprächen ging es nahtlos zum Flughafen. Der Verkehr war erfreulicherweise nicht so stark wie sonst. Nur einige Brautpaare, die nach alter Tradition bei einem Denkmal Blumen niederlegen, haben uns auf unserem Weg aufgehalten. So haben wir rechtzeitig die Maschine nach Wien erreicht. Leider konnte ich aber nicht in Wien bleiben, sondern musste in die Maschine nach Brüssel umsteigen. Dort findet morgen eine Tagung der sogenannten German Marshall Stiftung statt, wo ich über die Türkei und ihr Verhältnis zur Eu referieren werde.

Kiew, 27.4.2007