Vorwort

Der neue EU-Kommissionspräsident Romano Prodi wird an seinen Taten zu messen sein.
Der stärkere Schmerz verdrängt den schwächeren, die heutige Krise die von gestern. Vor wenigen Wochen noch waren die inneren Probleme der Europäischen Union das vorherrschende europaweite Thema gewesen. Der Bericht des „Weisenrates“ und der Rücktritt der EU-Kommission waren die Krise Europas schlechthin.
Der Rat hat reagiert und sich schnell auf einen neuen Kommissionspräsidenten geeinigt: Romano Prodi. Vieles von dem, was in Interviews mit ihm erschienen ist, ist vernünftig und eine gute Basis für eine neue gestärkte EU-Kommission. Unter anderem meinte der vorgeschlagene Kommissionspräsident in einem Gespräch mit „Le Monde“: „Wir wollen weder das Europa der Bankiers, noch das Europa der Technokraten. Wir wollen das Europa der Bürger und der Selbständigkeit, das der Herzen und das der Menschen.“
Prodi möchte ein starkes Europa, ein vollständig transparentes und bürgerfreundliches Europa. Grundsätzlich habe ich von Prodi einige positive Antworten auf jene fünf Fragen bekommen, die ich zur Grundlage meiner Wahlentscheidung formuliert habe:

1. Wie hält es Romano Prodi mit der Reformbereitschaft der EU-Kommission, insbeosndere mit der Offenheit und Transparenz gegenüber dem EU-Parlament?

2. Inwieweit ist Romano Prodi bereit, darauf zu drängen, daß vornehmlich neue Gesichter in der EU-Kommission auftauchen, um auch einer breiten Öffentlichkeit den Neubeginn zu signalisieren?

3. Inwieweit ist der Kandidat für den EU-Kommissionspräsidenten bereit, die Arbeit der Kommission mehr auf die Grundsatz- und Richtungsentscheidungen zu konzentrieren und weniger auf kaum kontrollierbare Detailregelungen?

4. Ist Romano Prodi bereit, den Weg von der Wirtschaftsunion zur Wirtschafts- und Sozialunion konsequent weiterzugehen und nach der Herstellung des gemeinsamen Marktes und der Währungsunion nun auch die soziale Ausgestaltung der Union, insbesondere auch durch ergänzende gemeinsame Beschäftigungspolitik, zu betreiben?

5. Ist Romano Prodi bereit, auch die politische Union zu forcieren und durch eine überzeugendere und straffere Gliederung in der EU-Kommission auch die Herausbildung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu fördern?

In einem Interview mit der „Weltwoche“ meinte der Kandidat für den Kommissionspräsidenten: „Kein Zweifel, Europa ist für die Einheit angelegt. Aber das wird auf andere Weise geschehen, als wir uns das bisher vorgestellt haben. Ich sehe ein mächtiges Brüssel und eine hohe Fähigkeit zur Koordination. Aber ich sehe auch eine von vielen marginalen Aufgaben befreite Union. Es gibt keinen Grund, warum Brüssel etwa die Herstellung von hausgemachtem Käse regulieren sollte. Es gab da einen Exzeß an Regulationen. Gemeinsam müssen wir zu mehr Verantwortung und gleichzeitig schlankeren Regeln voranschreiten.“
Ich sehe in diesem Statements Prodis eine klare Antwort auf meine Frage 3. Dennoch war Prodis Auftritt vor der Fraktion knapp nach Ostern und jener im Europäischen Parlament Mitte April insgesamt unbefriedigend. Er blieb allzu stark im Allgemeinen und hat sich überdies noch nicht klar von seinen innenpolitischen Ambitionen in Italien gelöst. Vielleicht wollte er vor seinen Gesprächen mit den Regierungschefs Mitte April noch nicht allzuviel Eindeutiges und Bestimmtes von seinen Zielen und Vorhaben vermitteln. Aber genau das wird Prodi tun müssen, möchte er für sich und die von ihm geführte Kommission eine starke Zustimmung im Europäischen Parlament. Vor allem zu dem für mich wichtigen Thema Sozial- und Beschäftigungspolitik äußerte sich Romano Prodi nur sehr oberflächlich. Das bedaure ich in besonderem Maße.

In der breiten Öffentlichkeit ist allerdings ein anderes Thema in den Vordergrund gerückt, und zwar mit Recht: der Krieg im Kosovo. Dabei „bewundere“ ich all diejenigen, die ohne Wenn und Aber, ohne Zweifel und Bedenken für oder gegen die Luftschläge der Nato eintreten. Ich persönlich kann es hier nur mit dem deutschen Sozialdemokraten und Friedenskämpfer Erhard Eppler halten, der angesichts des Krieges im Kosovo meinte: „Er gibt in der Politik Entscheidungen, wo man heulen möchte, ganz egal, wie man sich entscheidet“.
Ich weiß sehr wohl, daß man sich in der Politik entscheiden muß und ich möchte für mich keineswegs das Privileg des Nicht-Entscheidenmüssens in Anspruch nehmen. Trotz der Fehler, insbesondere der Passivität des Westens in der Vergangenheit, siehe meine Mahnungen im EU-Parlament angesichts der nicht erfolgten serbischen Aktionen und Aktivitäten zum Frieden bzw. zum Waffenstillstand, war ein militärischen Eingreifen berechtigt und notwendig. Das macht mich nicht glücklich, aber das Zuschauen bei den Massakern hat mich auch nicht glücklich gemacht – keineswegs.
Dennoch möchte ich von einer Militarisierung der Balkanpolitik warnen. Denn dadurch übersieht man die verheerende Wirkung der Bomben auf die serbische Bevölkerung, insbesondere auf die Reste der oppositionellen Kräfte. Und dann übersieht man auch die Gefahren für die gesamteuropäische Sicherheit, die aus einer Isolierung und Demütigung Rußlands heraus entstehen können. Nicht die Strategien der Militärs, sondern die Friedensorientierung der Politik, nicht die Amerikaner, sondern die Europäer in ihrer Gesamtheit müssen den Ausschlag geben. Auch während der Militäraktionen muß an den Frieden, an eine Neuordnung am Balkan und an die Integration in ein nicht nationalistisches Europa gedacht werden!
Man kann es auch umgekehrt sehen, wie es der albanische Dichter und Romancier Ismail Kadaré formulierte: „Man muß den Balkan europäisieren“. Wobei er selber fragt: „Kann man die Balkanhalbinsel europäisieren?“ Die einzige mögliche Antwort lautet: Man kann nicht nur, man muß es tun. Denn erstens stellt der Balkan den Hof des europäischen Hauses dar und in keinem Haus kann man Frieden haben, wenn man sich in dessen Hof schlägt und gegenseitig umbringt. Und zweitens kann und muß die ungeheure menschliche Energie, oft ins negative gerichtet, im Interesse des Lebens in dieser Region und der Welt verwendet werden.
Daher müssen sich alle Europäer einschließlich Rußlands bemühen, diese Europäisierung zu bewerkstelligen – ein sicher schwieriges Unterfangen. Ob das durch eine neue Balkankonferenz geschieht oder auf anderem Wege, ist unklar. Klar aber ist: Schon in Zeiten des Krieges muß am Frieden gearbeitet werden!

Brüssel, 13. April 1999