Warschauer Impressionen

Polen verhandelt bereits seit November 1998 mit der Europäischen Union über einen Beitritt. Ein Zwischenbericht aus Warschau.
Diesmal hat es geklappt. Beim ersten Versuch, Anfang dieses Jahres nach Warschau zu fliegen, hatte langanhaltender, dichter Nebel in Polens Hauptstadt meine Abreise von Brüssel verhindert.
Vielleicht war das gut so. Denn während ich vergebens auf eine Startfreigabe am Flughafen von Brüssel wartete, stiegen das Fieber und mit ihm die Grippe in mir hoch. Aber Polen war für den Erweiterungsprozeß zu interessant und zu wichtig, als daß ich es von meinen Besuchen und Begegnungen auslassen hätte wollen.

Die Gespräche, die mir der Österreichische Botschafter in Polen vermittelte, haben meine Entscheidung bestätigt. Allein die Biographien meiner Gesprächspartner spiegeln die wechselhafte und bis vor kurzem tragische Geschichte dieses Landes wieder, eines Landes – so mein heutiger Eindruck -, das, einmal Mitglied der EU, eine bedeutende Rolle spielen wird. Nicht nur auf Grund seiner Größe, sondern auch wegen seines Selbstbewußtseins, seines Freiheitswillens, seiner Kultur etc.

Mein erster Gesprächspartner gestern war Wladyslaw Bartoszewski, der von 1990-1995 Botschafter in Österreich und 1995 Außenminister war. Heute ist Bartoszewski Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses des Senats. 1922 in Warschau geboren, wurde er 1940 nach Auschwitz deportiert. Nach seiner Entlassung wurde Bartoszewski Widerstandskämpfer und beteiligte sich 1944 am Warschauer Aufstand gegen die deutsche Besatzung. In der Zeit nach 1946 verbrachte er ungefähr sieben Jahre im Gefängnis. Bartoszewski steckt nach wie vor voller Energie, sprüht vor Witz und Geist und es ist ein intellektuelles Vergnügen, ihm zuzuhören.
Mein letzter Gesprächspartner heute war der erste Premierminister des freien Polens, Tadeusz Mazowiecki. Jetzt ist er Vorsitzender des Integrationsausschusses des polnischen Parlaments. Er wurde 1927 geboren. Bereits 1961 war er Mitglied im polnischen Parlament – als Vertreter der oppositionellen katholischen Gruppe „Znak“. Viele Jahre hindurch organisierte er oppositionelle Aktionen und wurde „natürlich“ auch interniert. Er war Aktivist der „Solidarität“ – so wie auch Bartoszewski – und einer der Hauptorganisatoren der Runden Tische Ende der achtziger Jahre für die Oppositionsseite.
Selbst der „nicht-politische“ Chefverhandler für Polen, Jan Kulakowski, war am Warschauer Aufstand 1944 beteiligt, lebte dann allerdings ab 1946 in Belgien, wo er nicht zuletzt für die Christlichen Gewerkschaften tätig war bevor er sich in „Solidarnose“ betätigte.

Natürlich traf ich in Polen auch Politiker, die die Nazi-Zeit nicht mehr erlebt haben. Einerseits Vertreter der heutigen Sozialdemokratie SLD, deren politische Geschichte weniger turbulent verlief. Sie hatten Wurzeln in der KP – allerdings ohne kompromitierende Aktivitäten – und an ihrer aufrechten demokratischen Gesinnung ist nicht zu zweifeln. Andererseits hatte ich Gespräche mit jüngeren Vertretern der sich aus der Solidarnosc entwickelten Sammelbewegung AWS.
Einer von ihnen, Czeslaw Bielecki, war schon in jungen Jahren Aktivist der Solidarität und bereits mit 20 Jahren das erstemal im Gefängnis. Mit Stolz überreichte er mir auch einen Beitrag aus dem Jahre 1986, der im „Conflict Quarterly“ der Universität New Brunswick erschien und den Titel trägt: „Wie man konspiriert“.
Seine These: Eine Untergrundorganisation ist wie ein Unternehmen: „Der Untergrund kann nur effizient und mit Solidarität arbeiten, wenn er sich gut organisiert. Er sollte aus der Basis heraus in Form kleiner individueller Unternehmen wachsen und sich in unabhängige, selbst regierende soziale Institutionen, vielleicht durch politische Ideologien getrennt, aber mit dem gemeinsamen Ziel eines unabhängigen und feien Polens transformieren“. Bielecki bedauerte in seinem Beitrag die Zerstörung der Arbeitsethik durch die Kommunisten und meinte, auch im Untergrund müßte gute Leistung entsprechend belohnt werden.
In meinem Gespräch mit Bielecki, der heute Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses des polnischen Parlaments ist, wurde mir klar, daß die jahrzehntelange Auseinandersetzung zwischen den Kommunisten und einer gut organisierten, teils im Untergrund und teils sichtbar tätigen Opposition dem heutigen Polen eine ungemeine Stärke verliehen hat.

Diese lange dauernden und zum Teil sehr tiefen Auseinandersetzungen – denken wir an die Verhängung des Kriegsrechts durch Jaruselski – haben allerdings nicht verhindert, daß man sich heute über zwei Ziele völlig einig ist: dem Beitritt zur NATO, der soeben vollzogen wird und dem Beitritt zur EU, den jedenfalls die polnische politische Klasse nicht erwarten kann.
Beobachtet man die Geschichte Polens, die oftmaligen Teilungen und Besetzungen und auch die heutige geopolitische Lage, dann versteht man den politischen Grundkonsens in Polen, der sowohl vom sozialdemokratischen Präsidenten als auch von der konservativ-liberalen Mehrheit im Parlament und damit der Regierung getragen wird. Nur der ehemalige Führer der Solidarität und frühere Präsident Polens kann sich mit dieser „Kohalitation“ nicht abfinden. Für ihn ist sein Nachfolger Kwasniewski auch heute noch „ein treuer Sohn des Kommunismus, ein Lakai der Sowjets“. Aber selbst viel Freunde und Mitstreiter Walesas haben sich mit ihm zerstritten und gehen eigene Wege.

Heute früh hatte ich ein wenig Zeit, die historischen Stätten Warschaus zu sehen, den Kulturpalast aus Stalins Zeit, das nach der völligen Zerstörung durch die Nazis nach Bildern von Canolletto wieder aufgebaute Zentrum sowie die Mahnmäler für die Partisanen, den Aufstand im Ghetto 1943, den Warschauer Aufstand 1944 und die Verschleppung vieler Polen durch die Sowjetunion ab 1939.
In kaum einer anderen Großstadt Europas wird einem die Tragik und der Horror der jüngsten Geschichte so deutlich wie in Warschau. Bei meinen Besuchen bei diesen Denkmälern, nicht zuletzt eingedenk des historischen Kniefalls von Willy Brandt am Mahnmal für den Aufstand im Ghetto, erinnerte ich mich der Sätze, die ich gestern abend in „Allerseelen“ von Cees Nooteboom gelesen habe: „Noch nie, so schien es, war so viel gemetzelt, gemordet, ausgerottet worden wie in diesem Jahrhundert. Man braucht auch mit niemanden darüber zu sprechen, es war jedem bekannt. Vielleicht aber waren die Anschläge, die Genickschüsse, die Vergewaltigungen und Enthauptungen, das Abschlachten Zehntausender noch nicht einmal das Schlimmste – am schlimmsten war das Vergessen…“ Hier in Warschau wird einem das Vergessen schwer gemacht – und das ist gut so.

Angesichts des Schicksals der Polen über viele Jahrhunderte hinweg und ihrer Sehnsucht nach Europa fällt einem das Argumentieren nach Pragmatismus, Augenmaß und Geduld schwer. Ein bißchen ist man auch im heutigen Polen schon realistischer, aber man hätte noch immer gern ein Datum für den Beitritt zur EU genannt bekommen – auch wenn die Polen wissen, daß insbesondere die Landwirtschaft einer gründlichen Reform unterzogen werden muß. Aber noch niemand hat sich bisher darüber getraut und angesichts des neuen „Bauernführers“ Andrzej Lepper ist das auch kein leichtes Unterfangen.
Lepper war Arbeiter in einer staatlichen Produktionsgenossenschaft, hat sich dann selbständig gemacht und sich dabei hoch verschuldet. 1992 hat er den Vorsitz der von ihm gegründeten „Bauernselbstverteidigung“ übernommen und war in der Wahl seiner Protestmittel nie zimperlich. Die soziale Lage der Bauern ist natürlich ein guter Nährboden für seine Aktionen. Preiserhöhungen zu Gunsten der Bauern erhöhen allerdings auch die Lebenshaltungskosten und damit das Lohn- und Preisniveau in Polen insgesamt.
Allerdings: auch Polen bleibt der mühsame Weg von Reformen und sozialen Abstützungen nicht erspart. Sogar der ehemalige Premierminister Mazowiecki, der heute für die von ihm mitbegründeten sehr, sehr liberale Freiheitsunion im Parlament sitzt, meinte zum Abschluß seines Gesprächs mit mir: „Wir müssen heute eine soziale Politik betreiben, wollen wir größere gesellschaftliche Konflikte vermeiden“. Ich konnte ihm nur zustimmen.
Warschau, 5. März 1999