Was sind die nächsten Schritte?

Wir müssen unseren BürgerInnen vermitteln, dass differenzierte und abgestufte Formen der Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn in unserem vitalen Interesse liegen.
Die Erweiterung der EU um die „osteuropäischen“, ehemals kommunistischen Staaten sowie um Malta und Zypern sind mit Ausnahme des „türkischen“ Teils von Zypern formell abgeschlossen.

Erweiterungspause?

In etlichen Ländern gibt es allerdings nach wie vor gravierende Transformationsprozesse, die sich auch auf die Handlungsfähigkeit der EU auswirken, wie beispielsweise das Verhalten der polnischen Regierung auf die Verfassungsdebatte. Zum Teil gibt es bilaterale Spannungen, wie derzeit zwischen der Slowakei und Ungarn, etc.
Keines dieser Probleme scheint jedoch unüberwindbar und auch bei langjährigen Mitgliedsländern gab und gibt es Verhaltensweisen und Einstellungen, die nicht immer den europäischen Standards und Erwartungen entsprechen. Dennoch stellt sich die Frage, ob und in welcher Form es eine Erweiterungspause geben soll, um die letzten Erweiterungen zu „verdauen“ und die faktische Integration vorantreiben zu können.

Balkan und Türkei bereits „Teile“ der Union

Was den „Balkan“ betrifft, so gibt es ein klares Versprechen von Rat und Parlament – bei Erfüllung der Kriterien – die Länder dieser Region schrittweise in die EU aufzunehmen. Was aber noch schwerer wiegt: Diese Länder stehen bereits weitgehend in einem engen Verbindungsprozess mit der EU. Wir tragen die Hauptverantwortung für die Entwicklung dieser Region. Die entsprechenden Länder sind in vielen Programmen der Union, nicht zuletzt in finanzielle, eingebunden. In diesem Sinn sind sie bereits „Teil“ der Union, ohne allerdings die Rechte eines Mitgliedslandes zu besitzen. Dieser Prozess sollte im Interesse unserer eigenen Stabilität mit aller Sorgfalt fortgesetzt werden, bis die einzelnen Länder „Beitrittsreife“ erlangen.
Was die Türkei betrifft, gilt ähnliches, wenngleich die Größe des Landes sowie manche kulturelle und religiöse Unterschiede noch viel Überzeugungsarbeit notwendig machen, um auch in unserer eigenen Bevölkerung für diese Unterfangen die notwendige Zustimmung zu erlangen. Inzwischen gilt dasselbe auch für die türkische Bevölkerung selbst. Aber der Verhandlungsprozess sollte nach Möglichkeit nicht unterbrochen werden, man muss sich nur bewusst sein, dass er viele schwierige Phasen durchmachen und dementsprechend lange dauern wird.

„Ring von Freunden“

Damit ist allerdings die Erweiterungsfrage noch nicht erledigt. Es stellt sich die Frage, wie wir mit unserer Nachbarschaft in Europa bzw. an unseren Grenzen im Osten und Süden umgehen. Welche Perspektive geben wir uns selbst bzw. unseren Nachbarn? Wie gestalten wir den „Ring von Freunden“ um uns, von denen der frühere Kommissionspräsident Romano Prodi gesprochen hat, als er die Grundsätze der Europäischen Nachbarschaftspolitik vorgestellt hat? Inzwischen wurden auch etliche Instrumente dieser Politik entwickelt und kommen zwar bereits zur Anwendung. Aber deshalb haben wir noch keine Antwort auf die Perspektivenfrage.
Einerseits haben wir Nachbarn, die entweder geographisch und/oder politisch (Mitgliedschaft im Europarat) zu Europa gehören. Sie sind unsere Nachbarn, aber auch die Nachbarn Russlands. Und damit bekommen sie strategisch bzw. geopolitisch eine besondere Bedeutung. Sie erwarten sich mit Recht eine Unterstützung ihrer Unabhängigkeit, nicht zuletzt durch eine Beitrittsperspektive. Diese langfristige Perspektive sollten wir auch entwickeln, aber eine konkrete, vor allem zeitliche Antwort ist derzeit seriöserweise nicht zu geben. Weder für die Ukraine, Weißrussland oder Moldawien noch für die Südkaukasusländer Georgien, Armenien und Aserbaidschan.

EU-Schwarzmeerregion

Hinzu kommt, dass es vernünftiger wäre, auch mit den anderen Ländern dieser Region – nämlich Russland und der Türkei – eine gemeinsame Nachbarschaftspolitik zu entwickeln, etwa im Rahmen einer EU-Schwarzmeerunion. Natürlich stehen einer solchen Form der intensiven Kooperation heute noch viele, unter anderem historisch begründete Hindernisse im Wege. Vor allem müssen alle Länder, ob groß oder klein, gleichberechtigt in diese Partnerschaft einbezogen werden. Nichts darf über deren Köpfe hinweg entschieden werden. Dazu ist auch die Bestätigung der Beitrittsperspektive notwendig, gegen die niemand ein Vetorecht haben darf. Russland müsste dies voll anerkennen, sowie wir Russland als Dialogpartner in der Ausgestaltung der gemeinsamen Region anerkennen sollten. Dabei geht es um Energiefragen genauso wie um Umweltprobleme, die illegalen Migrationsströme, etc.
Auf diese Weise könnte mittel- bis langfristig die Erweiterung der EU um unsere Nachbarn, so beide Seiten dies wüschen, angepeilt werden und ein neues kooperatives Verhältnis zu unserem großen Nachbarn Russland entwickelt werden. Die Vorraussetzung dafür wäre, dass Russland bereit ist, die souveränen Entscheidungen unserer gemeinsamen Nachbarn anzuerkennen.

Enge Kooperation mit Russland und Türkei

Es geht also nicht um eine Erweiterungsstrategie gegen Russland (wie bei der NATO-Erweiterung?), sondern einerseits um eine enge Kooperation mit unseren Nachbarn, die in eine Erweiterung münden kann und andererseits um eine Kooperation mit Russland ohne Erweiterungsperspektive.
Bei der Entwicklung dieser Strategie müsste die Türkei unabhängig von den Beitrittsverhandlungen voll einbezogen werden. Im Übrigen nimmt sie auch für die Entwicklung der Mittelmeerstrategie eine Schlüsselrolle ein.

Mittelmeer-Union

Bei unseren südlichen Nachbarn läuft die Diskussion naturgegeben etwas anders. Hier handelt es sich eindeutig um Nachbarn außerhalb unseres Kontinents. Die Probleme dieser Region sind noch vielfältiger und komplexer als bei unseren östlichen Nachbarn. Auch die Beziehungen zwischen den betreffenden Ländern selbst, insbesondere im Rahmen des Nah-Ostkonflikts, sind von gravierendem Charakter.
Aber auch dies soll uns nicht hindern, die Idee einer Mittelmeerunion aufzugreifen und mit konkreten Inhalten zu füllen. Um diesem Ziel näher zu kommen, bedarf es allerdings noch vieler Formen der bilateralen, aber vor allem sektoralen Zusammenarbeit auf den Gebieten der Migration, der Energie, der Terrorismusbekämpfung, etc.

Automatismen vermeiden

Aus dieser zugegebenermaßen sehr kurzen Analyse lässt sich folgendes zusammenfassen: Es gibt zwei Erweiterungsprozesse, die derzeit im Laufen sind: mit den Ländern Südosteuropas und der Türkei. Bei den Ländern des Balkans ist dies ein schrittweiser Prozess, wobei jedes Land für sich zu beurteilen ist. Bei der Türkei bleibt dies – auf beiden Seiten – ein mühsamer Prozess, dessen Ausgang offen ist. Nichts spricht für eine Unterbrechung der Verhandlungen und Vorbereitungen dieser zwei Erweiterungsprozesse.
Für unsere östlichen Nachbarn ist die grundsätzliche Bestätigung der Beitrittsperspektive wichtig, wir sollten allerdings keine vorzeitigen und unkontrollierbaren Zusagen machen. Jeglicher Automatismus ist zu vermeiden. Wichtiger ist es, diese Länder in den nächsten Jahren an die EU so anzubinden, dass sie als Partner ernst genommen werden und sich im Dialog mit uns nachhaltig an die europäischen Standards und einen hoffentlich zunehmenden Gard an Integration anpassen können.

Keine Erweiterungsabenteuer

Multilaterale Formen der Kooperation, z.B. in Form einer EU-Schwarzmeerunion, könnten einen wichtigen Beitrag dazu leisten. Gemeinsam mit ihnen sollten auch neue Formen der Kooperation mit Russland bzw. auch mit Zentralasien entwickelt werden. Für den Mittelmeerraum sind ebenfalls neue Initiativen zu entwickeln, um dem Barcelonaprozess einen neuen Anstoß zu geben.
Entscheidend wird sein, unseren BürgerInnen zu vermitteln, dass wir nicht blindlings in neue „Erweiterungsabenteuer“ stürzen, aber ebenso klarzumachen, dass differenzierte und abgestufte Formen der Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn in unserem vitalen Interesse liegen.

Straßburg, 26.9.2007