Weiße Nächte in St. Petersburg

Den Nachbarn Russland als Partner zu haben – am Balkan, im Nahen Osten, im Übergangsbereich zwischen Europa und Asien – erscheint mir sehr wichtig.
Diesen Sommer verschlug es mich nicht wie üblicherweise in den Süden, sondern in den Norden. Zu sechst (drei befreundete Paare) entschieden wir uns, mit dem Schiff von Moskau nach St. Petersburg zu reisen. Über den Moskau-Wolga-Kanal und die Uglitscher Stauseen ging es zur Wolga nach Jaroslawl und Rybinsk, weiter über den Rybinsker Stausee und die Schecksna zum Weißen See, über Kowska und viele Schleusen zum Onega See und zur Insel Kishi, schließlich zurück über den Onega See und die Swir zum Ladoga See und zuletzt über die Newra nach St. Petersburg.

St. Petersburg, die alte und neue Hauptstadt Russlands

Ausgangs- und Zielpunkt unserer Reise waren die noch heute konkurrierenden Städte Moskau, die alte und neue Hauptstadt und St. Petersburg, das von 1712 bis 1918 die Hauptstadt Russlands war. Heuer feierte man ja ausgiebig den 300. Jahrestag der Gründung von St. Petersburg durch Peter den Großen. Die Stadt – zumindest die großen und meist großartigen Gebäude – erstrahlen deshalb in ganz besonderem Licht. Vor allem, wenn man das Glück hat, sie bei schönem Wetter und noch dazu in den „weißen Nächten“ zu sehen!
Die Gründung der Stadt zeugt aber auch von einem großen Sendungsbewusstsein, gepaart mit ungeheurem Machtwillen und schonungsloser Brutalität. Nur so konnte in einem nicht zum Bauen einladenden Sumpfgebiet die Schaffung einer neuen Stadt erzwungen werden, einer Stadt nach europäischem Muster, von europäischen, vor allem italienischen Baumeistern entworfen, um Russland als europäische Macht zu verankern.
Nicht alle hatten eine so positive Einstellung wie der St. Petersburger Dichter Alexander Puschkin, der in seinem Werk „der eherne Reiter“ schrieb: „Aus finsterem Wald/Ist prachtvoll-stolz die Stadt entstanden. Wo einst als Stiefsohn der Natur/Am flachen Ufer ganz alleine/Der arme Finnen-Fischer nur/In unerforschte Fluten seine/Zerschlissenen Netze warf, drängt heut/An Uferstraßen aufgereiht/Großmächtig in belebter Enge/Palast und Turm sich…/Und vor der jüngsten Hauptstadt bleichet/Die alte – Moskau – und ihr Ruhm…“
Liest man Alexander Puschkins Hymne und sieht man heute St. Petersburg und die Paläste in der Umgebung der Stadt – inklusive dem neu hergestellten Bernsteinzimmer im Katharinenpalast – dann vergisst man leicht die Schattenseiten der Geschichte dieser Stadt. Angefangen bei den ungeheuren Opfern bei der Gründung der Stadt bis zu den ca. eine Million Toten, bedingt durch die 900 Tage dauernde Belagerung der Stadt durch die Deutsche Wehrmacht während des zweiten Weltkrieges.

Potemkische Dörfer

Aber auch heute sehen manche in St. Petersburg und vor allem in den 300-Jahrfeiern ein Symbol für die russische Tradition der Schaffung Potemkischer Dörfer. So meinte kürzlich der St. Petersburger Schriftsteller Arkadij Bartow: „St. Petersburg als architektonische Einheit weist die Eigenschaft der Übertreibung in jedem einzelnen der vorhandenen Stile auf. Europäische Baumeister arbeiten hier fern von jeder Realität, wo diese Stile historisch gewachsen waren. Und da diese Stile bereits ihren eigenen Ort, ihre Zeit besaßen, entwickelten sie in Petersburg jene Verschärfung und Verdeutlichung, die die architektonische Größe der Hauptstadt des Nordens zu einer Art edlen Kopie gemacht hat, einer Parodie, besonders vor dem Hintergrund der sumpfigen Landschaft, in die man Empire und Barock aus Westeuropa versetzte. Petersburg ist ein wunderbares Beispiel für postmodernen Eklektizismus.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 177, 2. August 2003, S. 33)
Und weiters meinte er: „Unter dem Kommunismus gab es den Plan, nach dem Kommunismus – die Präsentation. Sie ist eine Simulation nicht der Zukunft, sondern der Gegenwart. Unübersehbar demonstrierte dies die Jubiläumsfeier, genauer: die Präsentation dieser Feierlichkeiten in vergoldeten, lackglänzenden Palästen, während die vernachlässigten, vermüllten, halbverfallenen Straßen, Höfe und Hauseingänge des größten Teils der Stadt außerhalb des Blickfangs blieben.“ (ebenda) Für den heutigen „Zaren“ im Moskauer Kreml, Wladimir Putin, hingegen waren die Feierlichkeiten in St. Petersburg von besonderer Bedeutung. Hat er doch seine politische Karriere in dieser Stadt begonnen und konnte mit den 300-Jahrfeiern an die europäische Tradition Russlands anknüpfen.

Michail Chodorkowskij, Oligarch und Ölmagnat

Dieser Tage jedoch beschäftigt Russland ein anderes Ereignis: das Vorgehen der Polizei und der Justiz gegen einige Ölmagnaten bzw. Oligarchen, die im Zuge der Privatisierung ungeheuren Reichtum angehäuft haben und nun auch über die Politik mitmischen wollen. Es gehört zur Undurchsichtigkeit des heutigen Russlands, dass man nur schwer die verschiedenen Ursachen und Absichten hinter dem Vorgehen der Sicherheitskräfte eruieren kann. Im Mittelpunkt der Aktionen steht der Oligarch Michail Chodorkowskij und seine Firma Yukos. Nach dem amerikanischen Wirtschaftsmogul Forbes steht er auf Nummer 26 der Weltrangliste der Milliardäre. Er war kommunistischer Jugendfunktionär, hat sich rechtzeitig gewendet und im Privatisierungskarussell groß „verdient“.
Erst jüngst konnte er eine Fusion mit der Firma Sibneft herbeiführen und damit mit dem neuen Unternehmen zum viertgrößten Ölkonzern der Welt aufsteigen. Aber Chodorkowskij begnügte sich nicht mit wirtschaftlichen Erfolgen, sondern zeigte zunehmend politische Ambitionen, und dies im Gegensatz zu Präsident Putin. Die deutsche „Zeit“ meinte kürzlich dazu: „Die staatsanwaltschaftliche Attacke trifft den modernsten unter Russlands Oligarchen. Sie stellt jene Abmachung mit Putin aus dem Jahr 2000 infrage, nach der aller Besitz der Wirtschaftsbosse unangetastet bleibt, solange sie sich nicht in grundlegende politische Entscheidungen einmischen. Der Applaus der Öffentlichkeit ist den Ermittlern sicher: Mehr als 70 Prozent der Russen plädieren für eine Neuvereilung des Besitzes, den die Oligarchen in der Plünderzeit Russlands den Staat entrissen haben.“

Den Machenschaften auf der Spur

Einstweilen wanderten nur einige Mitarbeiter und Kollegen von Chodorkowskij ins Gefängnis, so der Milliardär Platon Lebeder, aber die Signale dürften verstanden worden sein. Allerdings, auch die Investoren aus dem Ausland empfingen negative Signale. Denn sie wissen nun nicht, mit wem sie ungestört Geschäfte betreiben können und wo sie sich mit Sicherheit beteiligen können. So wäre jedenfalls mehr Transparenz in der Auseinandersetzung mit den Machenschaften während der Privatisierungsphase und bei der Abschöpfung ungerechtfertigter Spekulationsgewinne für Russlands wirtschaftliche Zukunft angebracht.
Vielleicht ist es nur Zufall, dass Chodorkowskij ein ausgeprägter Atlantiker ist und vor allem auf die USA setzt, im Gegensatz zu Putin, der ein mehr ausbalanciertes Verhältnis zu den USA und zu Europa anstrebt. Kann sich Putin mit seinen Vorstellungen auch auf die Dauer durchsetzen, so wie er es im Fall des Irakkrieges getan hat?

Putinscher Richtungswechsel in der Außenpolitik

Präsident Putin hat, insbesondere nach dem 11. September 2001, der russischen Außenpolitik zweifellos eine neue Richtung gegeben. Einerseits schloss er sich der antiterroristischen Koalition unter der Führung der USA an, schon aus dem Interesse heraus, auch das russische Engagement im fürchterlichen Tschetschenien-Krieg unter diesem Aspekt zu rechtfertigen. Er wusste überdies, dass eine Annäherung an die atlantische Allianz Russland eher stärken als schwächen würde – für einen Alleingang war und ist Russland ohnedies zu schwach.
Die Annäherung an Washington machte aber auch Russland wertvoller bzw. teurer für die EU. Wollte die EU nicht einer festen USA-Russland-Allianz gegenüberstehen, musste sie sich mehr um Russland bemühen und die russische Intervention in Tschetschenien zumindest nicht als Hindernisgrund für die guten Beziehungen zu Russland betrachten. Und die Dämpfung der Kritik an diesem Engagement ist Russland sehr wichtig.
Die Beziehungen zur EU sind auch für Russland bedeutend. Die EU ist der größte Handelspartner, sie liefert ca. 25% der Importe Russlands und kauft ca. 35% der russischen Exporte. Dabei ist die Zusammenarbeit auf dem Sektor der Energieversorgung für beide Seiten sehr wichtig, auch wenn die EU sinnvollerweise keine allzu große Abhängigkeit von den russischen Energiequellen herstellen möchte.

Dreiklang Paris-Berlin-Moskau

Das Interesse Russlands an guten Beziehungen zu Europa haben Bundeskanzler Schröder und Präsident Chirac in Zusammenhang mit dem Irakkrieg gut ausgenützt und einen Dreiklang Paris-Berlin-Moskau hergestellt. Dies hat weder den USA noch den ehemals von Moskau abhängigen EU-Beitrittsländern gefallen. Aber die USA wollen und können sich keine durchgehende Verärgerung mit Russland leisten und Russland selbst hat trotz der demonstrativen Übereinstimmung mit Deutschland und Frankreich auf gute Beziehungen zu den USA Wert gelegt.
Die Verärgerung der Beitrittsländer ist verständlich, aber ihre Desavouierung der gemeinsamen EU-Institutionen und vor allem des Nettozahlers Deutschland, ohne den ein Beitritt zur EU unmöglich wäre, war ja auch nicht gerade taktvoll. Und überdies: Für Frieden und Stabilität in Europa und für eine starke Rolle der EU in der Welt ist ein gutes Verhältnis zu Russland durchaus wichtig.
Unbeschadet unserer Kritik, hinsichtlich des Vorgehens Russlands gegen die tschetschenischen Rebellen bzw. Freiheitskämpfer (?) – die Haltung Putins, der mit den USA und der EU die Beziehungen ausbauen möchte, sollte von der EU honoriert werden. Den Nachbarn Russland als Partner zu haben – am Balkan, im Nahen Osten, im Übergangsbereich zwischen Europa und Asien – erscheint mir sehr wichtig. Die Kontakte zwischen beiden Seiten sollten intensiviert und institutionalisiert werden. Dann könnten auch unsere Kritikpunkte besser und kontinuierlicher vorgetragen werden.
St. Petersburg, 19.7.2003