Wie geht es weiter?

Die EU braucht eine neue Philosophie, die die Nachkriegszeit überwindet und sich auf eine globalisierte Welt einstellt.
Die Ablehnung des Reformvertrags durch Irland im Rahmen eines Referendums wird uns noch eine Weile beschäftigen. Ich meine nicht einmal so sehr die juristischen Fragen und ob und wann wir Irland überzeugen können, ein zweites Referendum durchzuführen. In diesem Beitrag geht es mir mehr um die generelle EU-Müdigkeit, die sich auch im irischen Referendum manifestierte. Und vor allem in Österreich ist die Zustimmung zur EU auf einem Tiefpunkt angelangt.

Negative Stimmung

Nun kann man sich mit Fug und Recht fragen, ob der europäische Einigungsprozess überhaupt durch Referenden zustande gekommen wäre. Hätten die Franzosen und die Holländer, die Belgier etc. einem Zusammenschluss mit den Deutschen wenige Jahre nach Krieg und Besatzung etc. zugestimmt? Und wie steht es um die jüngsten Erweiterungen der EU? Das Problem, insbesondere mit dem Prinzip der Einstimmigkeit bei der gegenwärtigen Art der Vertragsreformen ist, dass man ja nicht nur für sich selbst abstimmt, sondern immer auch für die anderen und das ist ja nicht gerade sehr demokratisch.
Aber natürlich ist mir klar, dass die Stimmung in der Bevölkerung gegenüber dem Projekt Europa nicht gerade positiv ist. Die Nationalisten nützen dies aus, insbesondere angesichts des mangelnden Enthusiasmus und des geringen Engagements der Befürworter des europäischen Einigungsprozesses.

Widerstand

Der französische Wissenschaftler Olivier Rozenberg hat vier Arten des Widerstands gegen das Projekt Europa definiert. Erstens erleben wir den Widerstand der Vertreter der „geschlossenen Nation“, insbesondere der extremen Rechten. Zweitens gibt es die Souveränisten, die die Demokratie nur auf nationaler Ebene verwirklichbar sehen. Dann gibt es die Anhänger der kleinen, vor allem ländlichen Gemeinschaften. Und zuletzt findet man den Widerstand der Anti- oder Alternativglobalisierer.
Den letzteren, die sich vor allem auf der „linken“ Seite befinden, muss man deutlich machen, dass der Reformvertrag die institutionellen Bedingungen dafür schafft, dass Europa besser und verstärkt auf die internationalen, globalen Verhältnisse Einfluss nahmen kann. Und von all den Kontinenten und großen Reichen (USA, Russland, China etc.) betreibt die EU von den Menschenrechten bis zu den Umweltfragen noch immer die fortschrittlichste Politik. Vieles ist zu verbessern, aber mit dem Lissabonner Vertrag könnte man die so verbesserte Politik auch wirksamer umsetzen.

Ängste ernst nehmen

Um den anderen Kritikern – soweit sie überhaupt in einen ernsthaften Dialog treten wollen – entgegenzukommen, muss sich europäische Politik deutlicher ändern. Viele BürgerInnen fühlen sich vielmals durch die Politik den Veränderungen, die sie oft mit Bedrohungen und Gefahren in Verbindung bringen, preisgegeben. Und Europa erfahren sie oftmals nicht als Schutz, sondern als zusätzliche Bedrohung.
Nun wäre es verfehlt, den BürgerInnen den Eindruck zu vermitteln, als wäre es möglich, alle Unbill von Europa fernhalten zu können. Die Demagogen dieser Welt versprechen dies, können es aber nie halten. Und dennoch müssen wir in Wort und Tat den Schutzcharakter der Europäischen Union stärker zum Ausdruck bringen.

Einige Beispiele

Europa ist auf Grund seines Reichtums und Wohlstands ein Einwanderungskontinent. Aber wir müssen in einer umfassenden, glaubwürdigen Strategie die Zuwanderungsströme kontrollieren und die Integrationsbemühungen verstärken.
Wir müssen die Rechte der Zuwanderer wahren, aber auch die Pflichten einfordern. Die Zuwanderung muss auch für die sozial schwächeren Schichten überschaubar und verkraftbar sein. Lohn- und Sozialdruck ist möglichst zu vermeiden.

Globale Umweltpolitik

Europa ist umweltpolitisch der fortschrittlichste Kontinent. Und dennoch sind die CO2 Emissionen viel zu hoch angesichts der bedrohlichen Klimaveränderungen. Kommission, Parlament und Rat beraten derzeit ein umfangreiches Klimapaket. Die Beschlussfassung und Umsetzung eines solchen Paketes macht aber nur Sinn, wenn auch die anderen Kontinente und vor allem die großen Länder mitmachen. Sonst vertreiben wir nur unsere Unternehmungen mitsamt der Umweltverschmutzung und den Arbeitsplätzen. Das macht keinen Sinn.
Um die Mitarbeit der übrigen Welt zu erreichen, müssen wir aber entsprechend stark auftreten. Unser ohnedies geringer Anteil an der Weltbevölkerung sinkt aber, auf den können wir uns immer weniger verlassen. Wir müssen schon vereint und geschlossen auftreten und die noch vorhandene wirtschaftliche Stärke in die Waagschale werfen, um die anderen zu Partnern in der globalen Umweltpolitik zu machen.

Lokales nicht dem Marktprinzip unterwerfen

Ein gemeinsames Wirtschaftsgebiet, wie es die EU im Begriffe zu werden ist, ist immer mit einem gemeinsamen Markt verbunden. Und dennoch ist dabei auf nationale und regionale Besonderheiten Rücksicht zu nehmen. Mann kann diese, wie es die Vertreter der reinen Lehre tun, immerzu als zu beseitigende Markthemnisse betrachten oder aber anderseits als in der Bevölkerung verankerte Traditionen, die es zu wahren gilt.
Vor allem sollten dabei auch die lokalen und regionalen, demokratisch gewählten Institutionen beachtet werden. Dies gilt insbesondere für die gemeinwirtschaftlichen Dienstleistungen, die auf lokaler Ebene gestaltet und durch die Bevölkerung kontrolliert werden. Der Respekt vor solchen Besonderheiten und vor der lokalen und regionalen Demokratie darf nicht dem Marktprinzip geopfert werden. Auch der gemeinsame Markt in den USA kennt solche Rücksichtnahmen.

Maßnahmen gegen wachsende Ungleichheit

Die Globalisierung drückt sich nicht nur in verstärktem Handel, mehr Tourismus und kulturellem Austausch aus, sondern auch in sehr unangenehmen, spekulativen Aktivitäten. Gerade jetzt sind sie im Zusammenhang mit den Preissteigerungen bei Erdöl und Erdgas, aber auch bei den Lebensmitteln zu bemerken. Sie sind sicher nicht die Hauptursachen, aber sie sind die moralisch am meisten zu verurteilenden Ursachen.
Hier darf die EU genauso wenig schweigen, wie angesichts manch horrender Managergehälter, die oftmals von den Managern selbst künstlich hinaufgeschraubt werden. Die EU und ihre Institutionen müssen auch als moralische Instanzen auftreten und versuchen, Veränderungen einzufordern, auch wenn dies nicht immer gleich gelingt. Generell sollte gerade die EU-Kommission die Mitgliedsländer auffordern, konkrete Maßnahmen gegen die wachsende Ungleichheit zu unternehmen. Erst jüngst hat der Handelskommissar Peter Mandelson, allerdings in einem Zeitungskommentar, auf den Zusammenhang zwischen Protektionismus im Handel und der wachsenden Ungleichheit hingewiesen.

Aufs Detail achten

Selbstverständlich müssen Vertragsverletzungen durch Mitgliedsstaaten geahndet werden. Aber es kommt auch darauf an, ob Gemeinschaftsinteressen verletzt werden oder ob spezifische Umstände für Sonderregelungen bestehen. Wenn z.B. das Mittelmeer unter Verletzung von Gemeinschaftsregeln so „leergefischt" wird, dass der Thunfischbestand gefährdet wird -ein aktuelles Thema – ist es etwas anderes, als wenn Österreich angesichts des Numerus clausus in Deutschland eine Beschränkung für deutsche StudentInnen vornimmt.
Im ersteren Fall wird ganz klar gegen ein Interesse der überwiegenden Mehrheit der europäischen Bevölkerung nach nachhaltigem Fischbestand verstoßen. Im zweiten Fall haben Detailauswirkungen aus einem Nachbarstaat problematische Auswirkungen auf den Nachbarstaat mit der gleichen Sprache. Kein europäisches Interesse wird durch die Wahrung der Interessen der österreichischen Bevölkerung verletzt.

Mehr Selbstkritik

Das oftmals sture, bürokratische Vorgehen insbesondere der EU Kommission verärgert mehr einzelne Mitgliedsstaaten oder Bevölkerungsgruppen als es den Gemeinschaftsinteressen dient. Dabei muss man zugeben, dass bürokratisches Verhalten nicht der EU eigen ist, sondern genauso auf nationaler, regionaler und kommunalre Ebene zu finden ist. Allerdings sind die Verantwortlichen in diesen Fällen leichter ortbar und ein entsprechendes Verhalten -zumindest theoretisch – ist bei Wahlen leichter korrigierbar.
In diesem Zusammenhang stellt die Kritik des Kommissionspräsidenten Barroso am mangelnden nationalen Engagement für die EU nur die halbe Wahrheit dar. Da wäre auch Selbstkritik gefragt und ein Hinterfragen verschiedener Aktionen der EU Kommissionen.

Emotionale Bindung aufbauen

Der Nationalismus ist der Feind der europäischen Einigung. Aber diese ist durchaus vereinbar mit dem Stolz auf die eigene Nationszugehörigkeit, also mit einem aufgeklärten Patriotismus, wie wir ihn immer wieder im Sport, z.B. bei Europa- oder Weltmeisterschaften erleben. Europa darf nicht den Eindruck erwecken, dass es diesen Patriotismus ersetzen möchte. Es muss sich vielmehr um eine zusätzliche Zugehörigkeit und Heimat handeln. Wir müssen daran arbeiten, zu den lokalen, regionalen und nationalen Heimatgefühlen eine emotionale, europäische Zugehörigkeit zu entwickeln.

Sensibilität …

Europa muss seinen BürgerInnen gegenüber also seinen speziellen Mehrwert beweisen. Wir kennen die historischen Hintergründe der Gründung Europas. Vor allem für junge Menschen ist dies heute nicht mehr von Relevanz. Für heute und morgen ist entscheidend, ob wir auf Grund und mittels der EU mehr tun können als ohne. Und zwar nicht ,indem wir die BürgerInnen mit immer neuen und mehr Vorschriften „drangsalieren“, sondern indem wir die nach langen internen und externen Kämpfen erzielten Lebensbedingungen und Lebensweisen möglichst erhalten können.
Natürlich gibt es kein Einfrieren des Status quo und schon gar keine Rückkehr zu alten „sicheren“ Zeiten. Diese Illusion sollten wir nicht verbreiten. Änderungen sind absolut notwendig, aber wo immer es möglich ist, sollten diese überzeugend vermittelt und letztendlich als Bereicherung unserer Lebensform erlebt und nicht als Zerstörung und Katastrophe gesehen werden müssen. Deshalb hat die EU mit entsprechender Sensibilität in ihrem Reformprogramm vorzugehen und eine breite soziale Kompetenz zum Ausdruck zu bringen.

… auf allen Ebenen

Eine solche Sensibilität allerdings ist nur einforderbar, wenn auch die Nationalstaaten, die ja auch oft genug ihre BürgerInnen mit unverständlichen Vorschriften bedenken, die gleiche Grundeinstellung teilen. Sie überlassen ja oftmals die unangenehmen Aufgaben den europäischen Institutionen und distanzieren sich dann noch davon.
Kritik an „Europa“ muss sich damit oft auch an die nationalen Regierungen wenden, die nicht den Mut haben, entsprechend klar auf der europäischen Bühne aufzutreten. Die Schutzfunktion, die von der EU einzufordern ist, kann letztendlich nur mit und nicht gegen die nationalen Regierungen erfüllt werden.

Soziale Interesssen berücksichtigen

Die Forderung nach einem „sozialen Europa“ bezieht sich dabei nicht primär auf die klassische Sozialpolitik, die ja nach wie vor vornehmlich in nationaler Kompetenz bleibt. Es geht vielmehr darum, dass der Mensch auch von den europäischen Institutionen als soziales, gesellschaftliches Wesen mit seinen kulturellen Lebensinteressen verstanden wird.
In diesem Zusammenhang möchte ich an den richtungweisenden Ausspruch des ehemaligen französischen Premierministers Lionel Jospin erinnern, der meinte, wir brauchen durchaus eine Marktwirtschaft, aber wir wollen keine Marktgesellschaft. Das sollte auch das Programm der EU sein, das heißt bei der Durchsetzung der Marktwirtschaft sind die sozialen Interessen der europäischen BürgerInnen in ihren lokalen, regionalen und nationalen Zusammenhängen zu berücksichtigen.

Diskurs mit der Bevölkerung

Sicher macht diese hier geforderte Sensibilität den Einigungsprozess noch schwieriger, aber vielleicht wird er dadurch besser in unserer Bevölkerung verankert. Vor allem muss er Teil eines Diskurses in und mit der Bevölkerung sein und nicht nur ein Teil der Expertendiskussion.
Weder ersetzt der Reformvertrag diese notwendige Diskussion, noch macht diese den Reformvertrag hinfällig. Am stärksten wird den Interessen der EuropäerInnen gedient, wenn wir beides bekommen.

Kein „Europa der Vaterländer“

Ein solches Europa, das den täglichen Interessen der BürgerInnen verpflichtet ist, braucht auch gemeinsame Institutionen. Das jüngst wieder hervorgeholte Konzept des „Europa der Vaterländer“, also eines losen Verbundes der Nationalstaaten, ist dafür völlig ungeeignet. Erstens werden dann erst recht dir großen Vaterländer den Ton angeben und zweitens kann es so bei 27 Mitgliedsländern nicht zu einer wirksamen Durchsetzung der gemeinsamen Interessen kommen.
Die Abstimmung zwischen den einzelnen Ländern wäre dermaßen kompliziert, dass kaum ein gemeinsames Auftreten möglich wäre. Und das würde erst recht wieder die großen Länder stärken und auf den Plan rufen, einfach ihre Interessen durchzusetzen und die kleinen unberücksichtigt zu lassen. Das war ja auch der Hintergedanke des Erfinders des „Europa der Vaterländer“, nämlich des früheren Präsidenten De Gaulle. Ihn hat immer das „Hineinspucken“ der Kleinen gestört.

Eine neue Philosphie entwickeln

Dieses Konzept hilft daher nicht, die Malaise der EU zu überwinden. Wir müssen schon an den drei bestehenden Institutionen arbeiten, sie reformieren, vor allem aber herausarbeiten, in welchen Bereichen wir harmonisieren wollen und wo die Einzigartigkeit Europas auch die Einzigartigkeiten der Nationalstaaten erfordert.
In diesem Sinn braucht die EU eine neue Philosophie, die die Nachkriegszeit überwindet und sich auf eine globalisierte Welt einstellt, ohne sie allerdings über alle Besonderheiten „drüberzulegen“.

Wien, 28.6.2008