Wien 2010

Schritte zu einer innovation und mutigen Stadtentwicklungspolitik. 
Als amtsführender Stadtrat für Stadtentwicklung, Stadtplanung und Personal gab ich Ende der achtziger Jahre den Auftrag, die Entwicklungstendenzen bei wachsender Bevölkerung und offenen Grenzen zu erstellen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Grenzen noch nicht offen, aber eine gewisse Durchlässigkeit hat sich bereits abgezeichnet.

Wien 2010

Die Arbeiten wurden im März 1990 abgeschlossen, also vor ziemlich genau 10 Jahren. Die Studie mit dem Titel „Wien 2010“ hat verschiedene Szenarien für eine wachsende Stadt aufgezeigt. Die Szenarien haben sich im Wesentlichen an der Bevölkerungsentwicklung orientiert, wobei hier wieder die Zuwanderung maßgeblich für die Charakteristik der einzelnen Szenarien war. Das Szenario „Stabilisierung“, das Szenario „Dauerkrise“, gemeint waren jeweils die Nachbarländer Osteuropas, das Szenario „Weißbuch der offenen Europäischen Gemeinschaften“ und zuletzt das Szenario „Sao Paulo“, also einer fast unbegrenzten, jedenfalls ungesteuerten Zuwanderung, wurden entwickelt.
Die einzelnen Szenarien haben die unterschiedliche Zuwanderung und die unterschiedliche Dynamik aus dieser Zuwanderung analysiert. Wie immer ist keines der erwähnten, errechneten und bewerteten Szenarien Wirklichkeit geworden. Aber Szenarien haben ja auch nicht den Sinn, exakte Prognosen darzustellen, sondern mögliche Entwicklungen und deren Elemente zu beschrieben, zu analysieren und daraus Konsequenzen abzuleiten.

Das Szenario „Europäische Gemeinschaft“

Ich möchte im Folgenden auf das Szenario „Offene europäische Gemeinschaften“ eingehen, denn es entspricht in etwa jener Entwicklung, die sich zumindest vom Grundsatz her in den vergangenen 10 Jahren abgezeichnet hat. Und die auch der Absicht nach für die kommenden 10 Jahre dem Grundgedanken und dem Ziel der Europäischen Union entspricht.
Damals meinten wir: „Die EG erklärt sich bereit, ihre ökonomischen Möglichkeiten in den Dienst des gleichgewichtigen ökonomischen Aufbaus von ganz Europa zu stellen. Die Anforderungen sind angesichts des Umfangs der Probleme nicht eben gering. Doch nachdem die ersten Schritte getan sind und positive Wirkungen zeigen, gibt es auch das Interesse Japans und der Vereinigten Staaten, in Europa massiv zu investieren. Die Reformländern nehmen erstaunlich rasch eine positive Entwicklung, im Europa der Regionen entfalten sich vielfältige Austauschbeziehungen und es kommt zu einem lang anhaltenden, selbst tragenden wirtschaftlichen Aufschwung.
Wiens geographische Lage, lange Jahre hindurch als Nachteil empfunden, erweist sich nun als großer Vorteil. An den Schnittlinien wichtiger Verkehrswege zu aufstrebenden Volkswirtschaften gelegen, übernimmt Wien gegenüber dem Osten Europas die Rolle eines dispositiven Zentrums, die es auch stets in Bezug auf Österreich innehatte. Finanzkraft und in hohem Maße technische und anderweitig spezialisierte Intelligenz erzeugen ein stark innovatives Klima. Es setzt eine Zuwanderung ein, die in hohem Maße von qualifizierten Personen getragen ist und sich nicht auf bestimmte Herkunftsländer beschränkt.“

Unerfüllt gebliebener Optimismus

Allerdings befürchteten wir damals auch eine Abwanderung mit dem Argument, dass einerseits den sozial Schwächeren die Stadt zu teuer ist, dass andererseits aber auch ökonomisch starke Haushalte keine Möglichkeit vorfänden, ihre hohen Erwartungen eingelöst zu sehen. Jedenfalls haben wir eine höhere und kontinuierliche Zuwanderung bei Ausländern angenommen, einen leichten Rückgang bei den Inländern, und in diesem Sinn eine Stabilisierung der Bevölkerung auf einem leicht erhöhten Niveau.
Mag es im Grunde genommen auch zu dieser Stabilisierung auf einem etwas erhöhten Niveau – zumindest bisher – gekommen sein, so sind doch die getroffenen Annahmen zu positiv bzw. zu stark gewesen. Das ökonomische System und die wirtschaftliche Produktion in unseren Nachbarländern hat sich zu einem großen Teil stabilisiert, aber keines unserer Nachbarländer ist wirklich zu einem Wachstumspol geworden. Die Euphorie und der Optimismus Anfang der 90er Jahre haben sich nicht bewahrheitet – selbst wenn die Entwicklung insgesamt durchaus als positiv zu bezeichnen ist.
Jedenfalls war der Beitrag der osteuropäischen Länder zum Wachstum der angrenzenden Regionen mäßig. Und mäßig war sicherlich auch der Zuwanderungsdruck der angrenzenden Regionen – dieser ist nämlich aus weiter entfernten Regionen gekommen und hat eher mit dem Krieg in Bosnien oder im Kosovo zu tun bzw. mit jenen Ländern und Regionen, in denen der Transformationsprozess überaus schwierig war und ist, zum Beispiel in Rumänien.

Begrenzte Dynamik

Es mag sein, dass die Bereitschaft der EU, durch finanzielle Unterstützung die wirtschaftliche Entwicklung in Osteuropa voranzutreiben, begrenzt ist. Begrenzt ist aber auch die in den osteuropäischen Nachbarländern sich abzeichnende interne Dynamik der Reformen und wirtschaftlichen Investitionen – letztendlich ist die Aufnahmefähigkeit sehr limitiert. Diese Entwicklungen – wobei ich persönlich stärker die internen Entwicklungen betonen möchte – haben dazu geführt, dass der Pull-Effekt – also die Anziehung von Investitionen und die Förderung der Dynamik eines gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraumes – relativ gering ausgefallen ist.

Wiener Stadtentwicklungspolitik

Wie hat sich nun Wien in diesen 10 Jahren verhalten? Und wie hat sich Wien auf das Jahr 2010 – also die kommenden 10 Jahre – vorbereitet? Grundsätzlich kann sich Politik – auch Städtepolitik, auch Stadtentwicklungspolitik – am Status quo orientieren, an relativen sicheren und konservativen Annahmen der zukünftigen Entwicklung. Oder sie kann gewünschte Entwicklungen vorwegnehmen und sie vielleicht zumindest indizieren, animieren, motivieren.
Wien hat in den 90er Jahren, vor allem in der ersten Hälfte, den zweiten Weg gewählt. Es wurden Angebote, insbesondere im Wohnbereich, aber auch im Arbeitsbereich und in der Infrastruktur geschaffen, die an einer stärkeren wirtschaftlichen Dynamik und an einer zumindest anhaltenden Zuwanderung orientiert waren.

Investitionen in Wohnungen, Arbeitsplätze und Forschung

Wir haben jedenfalls die Voraussetzungen geschaffen, um bis zu 10.000 Wohnungen im Jahr zu errichten, und zwar im Rahmen des sozialen Wohnbaus. Und es wurden Arbeitsplatz-, Forschungs-, Wissenschafts- und Bürostandorte ausgewiesen, für die eine hohe Leerstehungsrate vorausgesagt wurde. Mit diesen Planungen und Investitionen wurde eine bestimmte Dynamik entwickelt, die allerdings aufgrund der mangelnden Dynamik in der Nachbarschaft Wiens nie zu jenem Erfolg führen konnte, den wir uns gewünscht haben. So musste der Wohnbau etwas zurückgenommen werden, aber obwohl der Flächenbedarf pro Arbeitsplatz unter anderem aufgrund des Kostendrucks im Bürobereich nicht wie erwartet weiter gestiegen, sondern gesunken ist, wurden doch – zum Teil mit Verzögerungen – immerhin die meisten Projekte in den letzten Jahren realisiert, und vor allem die sehr guten Standorte, die ausgewiesen waren, wurden und werden für Forschung, Entwicklung, Administration und Dienstleistung etc. gebaut und es kommt kaum zu nennenswerten Leerstehungen.
Das zeigt also typisch, dass eine Stadtentwicklung durchaus dynamischer sein muss als die konservativen Annahmen der verschiedenen Nachfragekomponenten und dass das Angebot bis zu einem gewissen Grad auch Nachfrage schaffen und anziehen kann.
Natürlich muss eine Stadt genügend Flexibilität entwickeln, wenn die Region – und ich meine hier Mittel- und Zentraleuropa – nicht jene Dynamik entwickelt, die man sich gewünscht und erwartet hat.

Versäumnisse

Wenn man Wien betrachtet, muss man allerdings auch festhalten, dass es bestimmte eigene Schwächen gibt, die die Dynamik in dieser Stadt behindert haben. Wien hat sich im Interesse seiner Bewohner in den letzten Jahren auf das Wohnen konzentriert, die Grünraumschaffung, eine starke Expansion von Freizeiteinrichtungen und kulturellen Einrichtungen unterschiedlichster Natur bis in den Bereich der Alternativkultur und den weiteren Ausbau des stadtinternen und zum Teil regional öffentlichen Verkehrssystems.
Auf der Strecke geblieben sind Teile der übergeordneten Struktur sowohl im Bahn- als auch im Straßensektor. Erst nachvollzogen wurden Investitionen für moderne insbesondere Kommunikationstechnologien sowie in die Schaffung der Wissensbasis des Qualifikationserwerbs der Aus- und Weiterbildung. Im Bereich der Verwaltung gab es zumindest auf der gesetzlichen Ebene wichtige Schritte der Deregulierung – aber in der Praxis ist diese Deregulierung und die Konzentration von Verwaltungsschritten und Genehmigungsentscheidungen zu wenig fortgeschritten.

Mangel an Risikofreudigkeit und Modernität

Das hängt auch mit einem anderen Mangel zusammen, der uns in Europa insgesamt, aber ganz besonders in den Städten, Schwierigkeiten macht – die Innovationsbereitschaft, die Motivation zur Investition, der Unternehmungsgeist, die Risikofreudigkeit, die Offensivität bei neuen Markterschließungen, die Modernität – sie alle sind Elemente, die aus meiner Sicht, und das hat auch der Gipfel in Lissabon bestätigt, in unserer Kultur und in unseren Städten zu gering entwickelt ist und zu wenig unser Verhalten charakterisiert.
Stadtpolitik und Stadtentwicklungspolitik hat daher ganz entscheidend diese Faktoren zu fördern, wobei die Förderung dieser Elemente gerade in den Städten mit der Suche der Bevölkerung nach Geborgenheit, nach Schutz, nach Nähe, nach Nachbarschaft in Einklang gebracht werden muss.
Natürlich stellen sich viele Bewohner die Frage: Wem gehört eigentlich die Stadt? Gehört sie den Bewohnern, hier vor allem den lang Eingesessenen oder eher den Zuwanderern? Gehört sie den Investoren, und auch hier wieder den Klein- und Mittelbetrieben oder eher den Großunternehmen, den mobilen, flexiblen internationalen Investoren? Und diesbezüglich gibt es den Konflikt zwischen Beharren, Erhalten und Erneuern.

Mut zum Kompromiss

Aus diesem Dilemma gibt es keinen einfachen Ausweg. Kompromisse müssen geschlossen werden. Aber im Interesse der Bewohner selbst und ihrer Arbeitsplätze und der Erhaltung der wirtschaftlichen und damit letztendlich auch der sozialen Basis muss sich die Stadt klar und deutlich für Innovation, Erneuerung und Risikofreudigkeit entscheiden.
Einer der bekanntesten deutschen Stadttheoretiker, Dieter Hoffmann-Axtheim, meinte vor kurzem: „Die älteste Bestimmung der Stadt ist, dass sie ein Vertrag ist. Ein Vertrag zwischen Nutzern, die sagen: Wir haben gemeinsame Zwecke, dafür legen wir uns auch gemeinsame Pflichten auf. Dieses Wechselverhältnis konstituiert in einer ganz bestimmten Dichte die Stadt. Das heißt, dass man die unterschiedlichen Interessen tolerieren muss: Produktion und Handel, Wohnen und Arbeiten, man muss mit sozialen Unterschieden umgehen, mit Leuten, die Geld haben und mit Leuten, die kein Geld haben, mit großen Geldflüssen, mit schnellen Veränderungen und so weiter. Diese ganzen Unterschiede machen die Stadt ja aus.“

Geänderte Rahmenbedingungen

Ich glaube, dass wir in unserer Städtepolitik zu wenig auf dieses Vertragsverhältnis, das immer wieder neu hergestellt und definiert werden muss, Rücksicht nehmen. Die Kommunikation mit dem Bürger muss auch immer wieder darauf hinweisen, dass sich die Rahmenbedingungen und die Umstände in diesem Vertragsverhältnis verändern.
Die Globalisierung bewirkt – ob man es will oder nicht – neue Bedingungen, neuen Wettbewerb, neue Konkurrenzverhältnisse. Die Tatsache, dass es in unserer Nachbarschaft Arbeitnehmer gibt, die mit guter Qualifikation, niedrigen Löhnen, attraktive Voraussetzungen für die Produktion schaffen, führt natürlich dazu, dass insbesondere lohnintensive Unternehmen abwandern. Aber die Alternative wäre nur, dass gesamte Betriebe nicht nur Teile davon, abwandern. Oder dass sie nicht nur einen Sprung über die Grenze machen und so zumindest einen Beitrag zur gesamten Union schaffen, sondern in noch entferntere Regionen abwandern.
Auch die Liberalisierung und Marktöffnungspolitik der Europäischen Union führt zu anderen Rahmenbedingungen. Einerseits werden Produktionsbedingungen erleichtert, die Kosten der Produktion gesenkt und der Wettbewerb angekurbelt. Andererseits wird den Städten ihre Einflussmöglichkeit und zum Teil auch ihr Einkommen gemindert oder geraubt – wenn Stadtwerke, Elektrizitätswerke, Wasserwerke, Verkehrsbetriebe nicht mehr das sie sind, was sie einmal waren und zum Teil noch sind, nämlich städtische Monopolbetriebe.

Herausforderungen

Das heißt: Die Bedingungen, unter denen Städte heute agieren müssen, insbesondere jene Städte im Nahbereich zu den Beitrittskandidaten, sind anders geworden. Und damit sind die Rahmenbedingungen, unter denen der Vertrag zwischen Stadtpolitik und Stadtverwaltung einerseits und Bürgern anderseits neu zu definieren und neu zu schließen ist, anders geworden.
Wir müssen dabei leider der Tatsache ins Auge sehen, dass sich die Wettbewerbsbedingungen verschärft haben, aber die Dynamik der mittel- und zentraleuropäischen Region sich nicht gleichermaßen positiv entwickelt hat. Die Gefährdung der Einkommensstruktur der Städte, der Wettbewerb auf globaler Ebene, soziale Spannungen, die nicht zuletzt mit diesen beiden Elementen zusammenhängt, bei gleichzeitig geringer externer und interner wirtschaftlicher Dynamik stellen für Städte und Stadtpolitik eine große Herausforderung dar.
Daher muss alles unternommen werden, um die externe und interne Dynamik zu fördern, was zwar nicht als solches den städtischen Stress und die städtischen Probleme löst, was aber dazu führt, dass die herausfordernden Probleme in größerem Ausmaß als solches akzeptiert werden, dass die Bereitschaft der Bürger, ihren Beitrag zur Lösung dieser Probleme zu leisten, erhöht und letztendlich auch über erhöhtes Einkommen der Stadt eine bessere Basis bietet, gemeinsam mit erhöhten Arbeitsplatzchancen, die sozialen Spannungen zu reduzieren.