Wien soll nicht Chicago werden

Chicago ist eine der interessantesten und architektonisch reizvollsten Städte der Vereinigten Staaten von Amerika. Nicht einmal die unterschwellige Behauptung der FPÖ, dass Chicago besonders unsicher ist, stimmt.
Einige Jahre, bevor von der FPÖ der besonders dumme Ausspruch „Wien soll nicht Istanbul werden“ plakatiert worden ist, gab es bereits den ebenfalls von der FPÖ propagierten Spruch „Wien soll nicht Chicago werden“.
Keine Stadt soll eine andere werden. Überdies ist Chicago durchaus eine der interessantesten und architektonisch eine der reizvollsten Städte der Vereinigten Staaten von Amerika. Nicht einmal die unterschwellige Behauptung der FPÖ, dass Chicago besonders unsicher ist, stimmt.

Chicagoer Investitionen

Auf dem Weg zu einem Treffen mit amerikanischen Abgeordneten zum Senat bzw. zum Repräsentantenhaus nach Salt Lake City unterbrach ich meine Reise für einen Tag in Chicago. Chicago hat über viele Jahrzehnte hinweg und gerade in letzter Zeit viel in seine Infrastruktur investiert. So hat die Stadt ein durchaus ansehnliches öffentliches Verkehrsnetz – Schnellbahnen, U-Bahnen, Hochbahnen – und zuletzt auch einen neuen Park im Zentrum erhalten. Es ist heute keine Selbstverständlichkeit, dass neue Parks errichtet werden – vieles fällt eher dem Rotstift bzw. den ökonomischen Überlegungen zum Opfer. Chicago dagegen hat in seine öffentliche Struktur investiert.
Bemerkenswert ist außerdem, dass in vielen amerikanischen Städten, so auch in Chicago, viel für die Universitäten getan wird. Allerdings nicht nur aus der öffentlichen Hand, sondern auch durch private Sponsoren. Wissenschaft und Forschung – nicht bloß naturwissenschaftlichen Sinn – werden sehr hoch geschrieben. So besuchte ich etwa in Chicago ein Museum des Orientalistik-Institutes, das hervorragende antike Kunstwerke aus Ägypten, Syrien und Anatolien zeigt.

Stadt der Zuwanderung

Zweifellos ist Chicago eine sehr vielfältige Stadt mit reicheren, mittleren und ärmeren, zum Teil sehr armen Vierteln. Chicago ist zudem immer schon eine Stadt der Zuwanderung gewesen. Nicht nur unzählige Burgenländer, sondern auch viele Polen und Ukrainer haben sich hier angesiedelt. Es gibt heute noch einen ukrainischen Bezirk, das so genannte „Ukrainien Village“, und es gibt sehr aktive polnische Organisationen sowie ein eigenes polnisches Museum, das sich vor allem mit der polnischen Einwanderung beschäftigt.
Es besteht kein Zweifel, dass dieses polnische Museum mit polnischem Kulturzentrum in erster Linie ein katholisch-polnisches Museum ist. Das Museum selbst ist an den polnischen Traditionen und an der Einwanderungsgeschichte orientiert – zwar nicht aggressiv politisch, aber dennoch unverkennbar stark katholisch geprägt. Auch Papst Johannes Paul II hat Chicago und, wie ich annehme, dieses Museum besucht.

Aktive Diaspora

Klar wird jedenfalls, dass die Amerikaner die Zuwanderung, die Diaspora etwa aus den verschiedenen europäischen Städten und Staaten bis in den Kaukasus, beispielsweise Armenien, Aserbeidschan, Georgien, dazu nutzen, die Beziehungen zwischen Amerika und diesen Staaten und Regionen intensiv zu pflegen.
Umgekehrt ist auch die Diaspora aus diesen Ländern äußerst aktiv, um ihrerseits die amerikanische Politik und die amerikanische Regierung zu bewegen, die eigenen Länder und Staaten zu unterstützen bzw. die eigenen Regierungen zu stürzen, wenn diese im Widerspruch zu den Interessen dieser Diaspora stehen.

Stärkung des amerikanischen Einflusses

Im besonderen traf das beim Irak zu, wo zum Teil mit völlig falschen oder übertriebenen Behauptungen amerikanische Regierungsstellen geradezu animiert worden sind, entsprechend gegen Saddam Hussein vorzugehen – mit dem Argument, die amerikanischen Besatzungstruppen seien willkommen und das Unternehmen würde der Himmel auf Erden werden. Nun, die Amerikaner sind gekommen, und sie waren in gewissen Kreisen auch durchaus willkommen, weil viele unter Saddam Hussein – diesem blutigen Diktator – gelitten haben.
Und trotzdem wurde viel an Vertrauen verspielt, weil man auf die schwierige und prekäre Situation, auf die Konflikte innerhalb des Landes einfach zu wenig vorbereitet war. Zudem hat man den Versprechungen und Verlockungen der aus dem Irak Geflohenen zu sehr vertraut und die bestehende Situation und die sich im Falle einer Besatzungsstruktur entwickelnde Situation nicht genügend analysiert.
Aber es bleibt das Faktum bestehen, dass Immigration in die Vereinigten Staaten von Amerika immer wieder als Anhaltspunkt gesehen wird, um den amerikanischen Einfluss in jenen Ländern, aus denen diese Zuwanderer kommen, entsprechend zu stärken.

Quotenbringer Zuwanderung

Bei zwei Fernsehauftritten im so genannten C-Span einem TV-Sender, der sich vor allem mit politischer Berichtserstattung und Direktübertragungen beschäftigt, ist dies deutlich geworden. Einerseits gab es eine Ansprache von der kalifornischen Senatorin Barbara Boxer vor einer jüdischen Vereinigung in Kalifornien. Barbara Boxer erwähnte, dass ihre Eltern und deren Vorfahren aus Österreich stammen und in die Vereinigten Staaten von Amerika eingewandert sind. Sie selbst würde auf Grund ihrer jüdischen Herkunft sehr wohl dafür kämpfen, dass die Interessen Israels entsprechend berücksichtigt werden. Aber Boxer ist keine blinde Anhängerin von Präsident Bush, im Gegenteil: Sie ist eine scharfe Kritikerin des Präsidenten, kommt aus der demokratischen Partei und ist eine mutige und sympathische Senatorin.
Dennoch hat sie unmissverständlich unterstrichen, dass sie bzw. ihre Familie zugewandert sind. Zweifellos ist das aus einer anderen historischen Situation heraus zu sehen als beim jetzigen Gouverneur Schwarzenegger. Und doch zeigt es, wie sehr Zuwanderung hier noch immer eine Rolle spielt.

Imagepflege

Noch deutlicher kam dies bei einer Ehrenveranstaltung zur Unterstützung des Mehrheitsführers im Repräsentantenhaus, dem konservativen Tom Delay, zum Ausdruck. Bevor Tom Delay seine extrem konservative und auf Gott und die Religion aufgebaute Ansprache hielt, trat eine Zeugin für seinen hohen Charakterwert in Erscheinung.
Eine Frau, jüdischer Herkunft, aus der ehemaligen Sowjetunion schilderte, auf welchen Umwegen Tom Delay von ihrem bzw. den Ausreisevisen ihrer Familie erfahren und wie er über viele Jahre hindurch ohne Unterbrechung und Unterlass endlich die Ausreise dieser Familie bewirkt hatte.

Politikelement Migration

Ich will das jetzt weder klein reden noch lächerlich machen, sondern nur nochmals darauf verweisen, dass die Emigration aus Diktaturen und Ländern mit rassistischer und sonstiger Verfolgung einen großen Einfluss auf die Politik in den Vereinigten Staaten von Amerika hat und diese Orientierung in Richtung Freiheit und Freiheitswillen in der Folge eine entscheidende Rolle in der politischen Kultur der USA spielt.
Schon ein Blick in den Stadtplan von Chicago und der Hinweis auf verschiedene ethnische Viertel, ethnische Museen und Einrichtungen zeigt diesen Einfluss. Selbst wenn heute die Migration aus dem früheren Europa bzw. der Sowjetunion von jener aus den lateinamerikanischen südlichen Nachbarn der USA überlagert ist, ist dieses Faktum in den politischen Handlungen, insbesondere in einer Regierung wie jener von Georg Bush, bestimmend. Hinzu kommt die politisch-religiöse Verbindung, nach der alle Handlungen als von Gott geleitet gesehen werden und die Bush sowie seine Männer und Frauen in der Politik anleitet.

Neue Evangelische Kirchen

In besonderem Ausmaß gilt das zweifellos für die neuen Evangelischen Kirchen – evangelisch im Sinne von neuen, sehr freien Interpretationen des Evangeliums. Zum einen spielt dabei die freie Marktwirtschaft eine Rolle. Die Religion gibt ihr den Vorrang und die freie Marktwirtschaft stellt per se einen religiösen Wert dar.
Zum anderen bewegen sich viele dieser Kirchen selbst im Markt. Sie bieten das an, was marktfähig ist und sich gut verkauft. Die religiöse Interpretation bzw. deren Praxis geht vor diesem Hintergrund etwa sehr stark ins Esoterische hinein, bewegt sich jedenfalls weg von den traditionellen Kirchenstrukturen und konzentriert sich dagegen auf einzelne Pastoren oder Prediger.

Enge Kooperation mit Israel

Viele dieser neuen evangelischen Kirchen, der so genannten Kirchen der religiösen Wiedergeburt, sind zudem sehr stark mit Israel verbunden bzw. unterstützen die israelische Regierung und das israelische Handeln gewissermaßen blindlings. Ihr Hauptfeind ist der Islam. Auch hier besteht unverkennbar eine religiöse wie auch politische Motivation. Und im Laufe der letzten Jahre sind sehr intensive Kontakte zwischen extrem rechts gerichteten Kreisen in Israel und den rechtsgerichteten neuevangelischen Kirchen entstanden. Diese Achse verläuft direkt ins Weiße. Das Ergebnis ist eine entsprechende Politik. In machen Fällen wird auch massiver Widerstand geleistet, falls aus rationalen diplomatischen Friedensüberlegungen heraus keine 100 %ige Unterstützung der israelischen Politik vorgenommen wird.
Das zeigt sich vor allem in der Frage der Siedlungsaktivität, bei der die Haltung des Weißen Hauses äußerst ambivalent ist. Man unterstützt den Abzug Israels aus dem Gazastreifen, man kritisiert jegliche Art des bewaffneten Widerstands gegen Israel, und man kritisiert im Prinzip eine allzu extensive Siedlungsentwicklung – aber letztendlich toleriert und akzeptiert man das Letztere. Hier kommt der Einfluss aus der Verbindung der Rechten in Israel und der Rechten in Amerika, eine ideologische, aber natürlich auch religiöse Verbindung, deutlich zum Ausdruck.

Chicago, 14.5.2005