Wird Europa irrelevant?

EuropaCafé00002In einem Interview mit der Zeitung „Der Standard“ meinte unlängst der französische Politologe Dominique Moisi: „Ich fürchte die Irrelevanz Europas“. Er begründete dies damit, dass wir 2050 nur mehr 6% der Weltbevölkerung und nur mehr 30% des Weltsozialprodukts aufweisen werden.

Europa tritt auf der Stelle

Das sind Argumente, die ich auch immer wieder in Referaten und Diskussionen verwende. Dabei geht es mir nicht um eine abstrakte Macht und Geltung, die Europa nicht verlieren sollte. Es geht mir vielmehr um die Bewahrung der Interessen unserer Bevölkerung, um unseren Lebensstandard und um unsere Lebensweise. Die Veränderungen in der Welt, der wirtschaftliche Aufstieg vieler Länder und das zunehmende Selbstbewusstsein vieler Völker und deren politischer Elite machen genau dies zu einer schwierigen Herausforderung.

Natürlich unterliegen auch andere Staaten bzw. Kontinente großen Herausforderungen. Sowohl China als auch Indien werden von ethnischen und/oder religiösen Spaltungstendenzen bedroht. Wir wissen heute nicht, ob diese Länder den Zusammenhalt schaffen. Was wir aber wissen ist, dass Europa es nur sehr schwer gelingt, den Einigungsprozess über das gegenwärtige Niveau hinaus zu treiben. Nun, das, was in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geleistet wurde, ist bereits eine große Leistung, vergleicht man es mit den furchtbaren Ereignissen in der Zeit davor. Und kein anderer Kontinent hat das bisher geschafft. Aber wir dürfen uns angesichts der rasanten Entwicklungen in Asien, Lateinamerika und in Teilen Afrikas nicht mit dem gegenwärtigen Niveau der europäischen Einigung zufrieden geben.

Groteske Szenarien

Der Vertrag von Lissabon hat gute Voraussetzungen geschaffen, Europa eine stärkere Stimme zu geben. Aber wir kommen nur mühsam dazu, eine Gemeinsame Außenpolitik, wie sie der Vertrag vorsieht, zu schaffen. Die für die Beratung außenpolitischer Strategien vorgesehene Sitzung des Europäischen Rates Mitte September war von den Aktionen Frankreichs gegen die Roma und den damit zusammenhängenden Auseinandersetzungen zwischen Sarkozy und Barroso überschattet.

Besonders grotesk und zugleich bezeichnend war aber auch der Vorschlag Berlusconis, dass in Zukunft nur mehr Barroso für die Kommission sprechen sollte. Damit sollten die Kommissare entmündigt werden und Barroso, der ohnehin nur dann, wenn er unbedingt muss, die Regierungen kritisiert, sollte wieder an eine kürzere Leine genommen werden. Für die eigentlichen Themen der Sitzung des Europäischen Rats blieb dann wenig Zeit. So ergingen sich die in der Folge beschlossenen Ansätze zur außenpolitischen Strategie zum Beispiel gegenüber China auch eher in Allgemeinplätzen. Ratspräsident Van Rompuy konnte mich in seiner Antwort auf meine diesbezügliche kritische Frage in der Plenarsitzung des Europäischen Parlaments ebenfalls nicht überzeugen.

Überforderung

Was nun den Diplomatischen Dienst betrifft, so kommt dieser erst mühsam in Gang. Aus dem EU-Parlament kommen vor allem Stimmen, die eine starke Berücksichtigung der einzelnen Länder bei der Besetzung der Botschafterposten wollen, um die Benachteiligung vor allem der neuen Mitgliedsländer bei den bisherigen Nominierungen im Rahmen der Kommission auszugleichen. Und natürlich sollte auch die Benachteiligung der Frauen korrigiert werden. Die Hohe Beauftragte Cathy Ashton bemüht sich um Korrekturen, möchte aber verständlicherweise keine strikte Quotenregelung. Wichtig ist aber auch, dass genügend Leute aus der Kommission kommen, die das Arbeiten für Europa als Gemeinschaft gewöhnt sind und den verschiedenen nationalen Pressionen leichter Widerstand leisten können.

Das Grundproblem ist aber die zeitliche Überforderung, denen die Hohe Beauftragte und Vizepräsidentin der Kommission ausgesetzt ist. Sie sollte gleichzeitig an verschiedenen Orten der Welt sein, Strategien entwerfen, sich mit den Außenministern beraten, ihre Funktion als Vizepräsidentin der Kommission wahrnehmen, dem Parlament berichten und dann noch die Nominierungen der BotschafterInnen nach vorhergehenden Auswahlverfahren vornehmen. Das ist nicht durchführbar. Genau aus diesem Grund haben wir im Parlament vorgeschlagen, politische VertrerInnen zu nominieren, die unter ihrer Aufsicht und gemäß ihren Instruktionen Teilaufgaben übernehmen sollten. Das ist sicherlich nicht leicht zu bewerkstelligen, da angesichts der vielen Ansprechpartner allein die Koordinierung ihrer Stellvertreter hohe Anforderungen stellen würde. Aber ich sehe nicht wie Cathy Ashton sonst ihre Aufgaben effizient erfüllen könnte.

Problemkind Türkei

Schon die Probleme in unserer Nachbarschaft erfordern eine hohe Aufmerksamkeit. Der für Erweiterung und Nachbarschaftspolitik zuständige Kommissar Stefan Füle, ein ausgezeichneter Fachmann, kann Cathy Ashton entlasten, aber nicht ersetzen. Wir müssen uns zum Beispiel überlegen, wie wir mit der Türkei eine Beziehung entwickeln, die standfest genug ist, um auch Krisen in den Erweiterungsverhandlungen zu überdauern. Ich sehe nicht, wie wir bezüglich der Erweiterung der EU mit der Türkei in absehbarer Zeit zu einer Übereinkunft kommen.
Der Widerstand in einigen europäischen Staaten, aber auch in Teilen der Bevölkerung, lässt einen baldigen Beitritt nicht zu. Und ich persönlich befürchte bei einem Beitritt bei den gegenwärtigen nationalistischen Tendenzen in der EU und in der Türkei eine Stärkung der „Regierungszusammenarbeit“, also der intergouvermentalen Methode und nicht der Gemeinschaftsmethode. Das heißt, die gegenwärtige Tendenz, dass die Regierungen alles an sich reißen möchten, was nicht ausdrücklich der Kommission bzw. der Mitbestimmung des Parlaments vorbehalten ist, würde durch einen Beitritt der Türkei mit ihrem gegenwärtigen Nationalismus und Selbstbewusstsein verstärkt werden. Wenn ich so manche von der türkischen Regierung herausgegebene Broschüre zum Beitritt betrachte, so bekomme ich den Eindruck, die EU sollte der Türkei beitreten und nicht umgekehrt.

Vorteile gegenseitig nützen

Überdies sind auch die Reformprozesse in der Türkei noch keineswegs abgeschlossen. Auch das Verhältnis Staat, Gesellschaft und Religion unterliegt noch vielen Diskussionen und Auseinandersetzungen. Aber die Neuorientierung der türkischen Außenpolitik sollte Anlass für die EU sein, mit der Türkei eine Koordinierung der Strategien anzustreben. Gemeinsam können wir viel erreichen.

Die Türkei müsste einsehen, dass sie ohne die soft power der EU und ohne unsere finanziellen Mittel etc. viel weniger erreichen kann als mit unserer Unterstützung. Und wir sollten unsererseits anerkennen, dass die Türkei Europa einiges zu bieten hat, denken wir nur an ihre wichtige Rolle für den Energietransit. Vor allem aber hat die Türkei eine junge, aufstrebende Bevölkerung die für Europa eine neue Dynamik bringen kann. Überdies ist die hoffentlich nachhaltige Etablierung der Demokratie in einem islamischen Land hinsichtlich des Vorbilds für andere vergleichbare Länder von Vorteil für die ganze Region inklusive Europa.

Partnerschaftsstrategien

Ich bleibe bei meiner Meinung, dass eine geänderte Türkei, die sich demokratisch weiterentwickelt und sich an und in einem gemeinsamen Europa engagieren möchte, ein Gewinn für Europa ist. Und zwar im optimalen Fall als Mitglied. Aber weder wir noch die Türkei sind soweit. In der Zwischenzeit allerdings sollten wir versuchen, unsere Außenpolitik vermehrt abzustimmen und die jeweiligen Möglichkeiten ins Spiel zu bringen. So könnten beide, die EU und die Türkei, an Relevanz gewinnen. Und darüber hinaus sollten wir besonders mit einem anderen großen Nachbar, nämlich der Ukraine, eine Partnerschaftsstrategie entwickeln. Das gegenwärtig bessere Verhältnis der Ukraine zu Russland ist dabei einem besseren Verhältnis zur EU nicht abträglich. Im Gegenteil, je weniger wir die Ukraine zwingen, sich zwischen Russland und Europa zu entscheiden, desto offener wird sie sich zur europäischen Kooperation bekennen – im Unterschied zum Nato- Beitritt.

Prüfstein

Bei den Beziehungen zu beiden großen Nachbarn spielt die Energiefrage eine große Rolle. Sowohl die Ukraine als auch die Türkei sind für die Gasversorgungssicherheit in der EU entscheidend. Dabei geht es um russisches Gas, aber auch um die Erschließung neuer Quellen, zum Beispiel in Zentralasien. Wir wollen und müssen stark genug sein, das Gas bei den unmittelbaren Quellen zu beziehen und nicht über den Umweg Russland. Dabei kommt uns natürlich noch ein anderer Marktteilnehmer, und zwar ein Großkonsument, in die Quere: China. Auf der einen Seite haben wir also Russland, das den Verkauf und die Verteilung des gesamten Gases aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion monopolisieren möchte. Auf der anderen Seite steht der immer mehr wachsende Bedarf Chinas, das für seinen wirtschaftlichen Aufschwung ungeheure Energiemengen importieren muss.

Die Energieaußenpolitik ist für mich ein Prüfstein der Gemeinsamen Außenpolitik schlechthin. Da ist die EU gefordert, dringend eine gemeinsame Strategie zu entwickeln und auch gemeinsam aufzutreten. Und zwar sollten nicht nur die Mitgliedsstaaten gemeinsam handeln, sondern auch die Gasunternehmen möglichst gemeinsam verhandeln. Wir brauchen in diesem Sinn eine effiziente Europäische Energiegemeinschaft, die ohne Vertragsänderung die globale Position der EU stärkt und damit die Versorgung mit Energie, vor allem Gas, zu günstigen Preisen sicherstellt.