Wo der Terror zu Hause ist

Für die Menschen im Baskenland, die für Demokratie und Freiheit, Freiheit vor Angst und Furcht, sowie für Toleranz kämpfen, bedeutet Europa sehr viel.  
Ich habe einige sehr interessante und zum Teil sehr emotionsgeladene Veranstaltungen im Baskenland hinter mir. Der Vorstand der sozialdemokratischen Fraktion war eingeladen, an den laufenden Veranstaltungen des Wahlkampfes, sowohl seitens der Sozialdemokraten selbst als auch der überparteilichen, demokratischen und für Frieden und gegen Terrorismus eingestellten Bewegung Basta Ya, teilzunehmen.

Zeugen der Demokratie und Toleranz

Basta Ya hat im vergangenen Jahr vom Europäischen Parlament den Sacharow-Preis erhalten. Diese Bewegung, von Schriftstellern, Künstlern, Verlegern und Wissenschaftlern gegründet, konnte und wollte es nicht mehr akzeptieren, dass es so viele Morde gibt. Morde, die aus Intoleranz und Fanatismus heraus verübt werden – von all jenen, die oft gar nicht an führender Stelle, aber doch als Repräsentanten der sogenannten spanischen Herrschaft im Baskenland gelten.
Die Veranstaltung von Basta Ya am gestrigen Morgen in St. Sebastian, einer traumhaften, direkt am Meer gelegenen Stadt, im neuen Konferenz- und Kulturzentrum von Moneo gebaut, war sicherlich die eindrucksvollste, die wir je erlebt haben. Intellektuelle, die schon in der Franco-Zeit geächtet waren und das Land verlassen mussten, traten als Zeugen der Demokratie und der Toleranz auf. Frauen, die ihre Männer und Brüder verloren haben, kamen, um zur Demokratie aufzurufen und appellierten, jene Parteien zu wählen, die sich, wie vor allem die Sozialdemokraten, gegen den Terrorismus, den Kompromiss mit dem Terror und den Nationalismus ausgesprochen haben.
Das angepeilte Bündnis zwischen der regierenden Partido Popola und den oppositionellen Sozialdemokraten in Spanien ist hier im Baskenland nicht immer sehr positiv aufgenommen worden. Vor allem junge Menschen zeigen sich gegenüber diesem engen Bündnis zwischen Regierung und Opposition skeptisch. Aber wahrscheinlich muss die sozialdemokratische Opposition in diesen sauren Apfel beissen, weil nur so eine Mehrheit gegen die Nationalisten unterschiedlich extremer Orientierung möglich ist.
Dieses Bündnis spricht sich für den Verbleib des Baskenlandes in Spanien, gegen die nationalistische Regierung und vor allem gegen den Terrorismus, dem sehr viele zum Opfer fallen, aus. Es ist wahrscheinlich für uns gar nicht so leicht vorstellbar, dass man in einem westeuropäischen, friedlichen und inzwischen auch durchaus wohlhabenden Land Angst um sein Leben haben muss.

Den Tränen nahe

Ein freiwilliger Mitarbeiter der Sozialdemokraten hat mir auf der Fahrt von Bilbao nach San Sebastian geschildert, wie immer wieder Morde passieren und Drohungen ungestraft ausgesprochen werden können. Wie die Polizei oft wegsieht, weil sie selbst nationalistisch denkt oder zumindest nicht in Gefahr geraten möchte, selbst Opfer zu werden. Oder wie diejenigen Polizisten, die nicht so „feige“ handeln, immer wieder ihre Wohnung und ihre Lebensgewohnheiten ändern müssen, weil sie sonst zu sehr bedroht wären.
Das alles ist für uns schier unvorstellbar. Bei manchen Schilderungen und bei den flehentlichen Bitten der Verwandten der Opfer des Terrors, kamen mir die Tränen. Ich bin einiges vom Balkan gewöhnt, doch dort gibt es immer wieder den Hinweis auf den Entwicklungsstand und den Nachholbedarf an Demokratie und Toleranz. Aber hier, gewissermaßen am westlichen Ende der Europäischen Union, würde man meinen, dass es niemanden gibt, der die Terroristen unterstützt oder zumindest Sympathie für sie hat und immer wieder Rechtfertigungen für ihre Untaten vorbringt.

Märtyrer wider Willen

Noch am Vorabend dieser Begegnung gab es in Ermua eine erste Veranstaltung der Sozialdemokraten. In Ermua ist im Jahre 1988 einem jungen Stadtrat, Miguel Angel Lagos, das Leben genommen worden. Er wurde gefangen genommen und kurz darauf hingerichtet. Der Mord an Miguel Angel Lagos war der Anfang der Widerstandsbewegung gegen den Terror.
Am 13. Februar 1998 ist den Menschen die Geduld gerissen und der Widerstand ins Leben gerufen worden, um durch öffentliche Demonstrationen klar zu stellen, dass sie nicht mehr bereit sind, den Terror zu akzeptieren und aus Angst und Scham zu schweigen. Die Veranstaltung, die hier stattfand, war jenem jungen Stadtrat gewidmet, der das Leben lassen musste und, wie immer wieder betont wurde, einer von vielen Märtyrer und Helden wider Willens war.

Europäische Solidarität

Gestern Abend gab es eine weitere, ebenfalls von den Sozialdemokraten abgehaltene große Veranstaltung in Bilbao. Verschiedene europäische Politiker bekundeten entweder direkt oder durch eine kurze, über Video ausgestrahlte Rede, wie etwa der tschechische Premierminister Zeman oder der frühere belgische Außenminister, die Solidarität der europäischen Sozialdemokratie mit der Sozialdemokratie im Baskenland. Einer der Gäste war Philippe Gonzales, der entsprechend umjubelt war.
Die Stimmung war sehr emotional und zugleich sehr hoffnungsvoll. Auch Europa und das Europäische Parlament wurden immer wieder erwähnt, genau wie bei der Veranstaltung der Sozialdemokraten am Vorabend in Ermua.

Vorbild Europa

Für die Menschen hier, die für Demokratie und Freiheit, Freiheit vor Angst und Furcht, sowie für Toleranz kämpfen, bedeutet Europa sehr viel. Für sie ist Europa jener Ort, wo sich Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft, unterschiedlicher Religion und staatlicher Zugehörigkeit, gegenseitig respektieren, die jeweilige Unterschiedlichkeit anerkennen und versuchen, einen Dialog aufzubauen und Lösungen für Konflikte zu finden.
Auch hinter uns liegen viele Schwierigkeiten, die wir lösen konnten, und es gibt noch sehr viele Hürden, die wir in diesem gemeinsamen Europa überwinden müssen. Aber es ist trotzdem ein großer Erfolg, den wir zu verzeichnen haben. Das wird hier im Baskenland, wo der Sinn und Zweck dieses Europas nicht verstanden wird, allzu deutlich.

Das Meistern von Schicksalsschlägen

Eine spanische Abgeordnete, die uns auf unserer Reise begleitet hat und hier sehr bekannt und geschätzt ist, ist Barbara Dührkop. Dührkop ist deutscher und schwedischer Herkunft, hat einen Spanier aus dem Süden geheiratet und mit ihm gemeinsam im Baskenland gelebt. 1984 ist ihr Mann durch die ETA ermordet worden. Sie selbst stand mit vier kleinen Kindern alleine da. Barbara Dührkop hat es dennoch geschafft, ihre Kinder groß zu ziehen und sie zu politischen bewussten, aber nicht hasserfüllten Menschen zu machen. Und sie leistet hervorragende Arbeit im Budgetausschuss des Europäischen Parlaments.
Kaum jemand im Europäischen Parlament wusste von Dührkops tragischem Schicksal. Einmal gedachten wir wieder einmal, wie bei fast jeder Sitzung im Plenum, der durch den Terror umgekommenen Bürger, und bei dieser Gelegenheit signalisierte der Vertreter der Nationalisten, den es natürlich auch im Europäischen Parlament gibt und der selten spanisch, sondern meist englisch spricht, doch ein gewisses Verständnis bzw. gab der spanischen Regierung und den Spaniern die Schuld an den Toten.

Zivilcourage statt Hass und Revanchismus

Das war zugleich das erste Mal, dass Barbara Dührkop ruhig, aber sehr eindrucksvoll, in kurzen Worten ihre Situation und ihre Geschichte schilderte. Und sie bekam stehenden Applaus dafür. Von allen Fraktionen. Der Vorsitzende der spanischen Sozialisten meinte in seiner Rede hier im Baskenland, es gelte so wie Barbara Dührkop zu handeln. Mit Zivilcourage, aber ohne Hass und Revanchismus.
In der täglichen Arbeit im Parlament, aber natürlich insbesondere bei uns in Österreich, weiß man oft gar nicht, welche Zivilcourage manche Menschen auch heute noch in Europa aufbringen müssen, um Intoleranz, Hass, Nationalismus und Terrorismus zu bekämpfen.

Persönliche Bewusstseinsbildung

Die Vorstandsmitglieder unserer Fraktion sind hierher gekommen, um einen Beitrag zum Wahlauftakt der demokratischen Kräfte im Baskenland zu leisten. Wir alle haben aber gespürt, dass es eigentlich auch ein Beitrag zu unserer eigenen politischen Bewusstseinsbildung und zu unserem Europagefühl gewesen ist.
Es sind wahrscheinlich immer solche Momente und Ereignisse, in denen wir ein bisschen tiefer in die nach wie vor vorhandenen Konflikte und Klüfte in Europa vordringen, die uns bewusst werden lassen, wie wichtig dieses Europa ist und wir ohne dieses Europa nicht oder jedenfalls viel gefährlicher leben würden. 
Bilbao, 28.4.2001