Zielgerade für die Dienstleistungsrichtlinie

Es wurde anerkannt, dass das Arbeits-, Sozial- und Kollektivvertragsrecht durch die Dienstleistungsrichtlinie nicht berührt wird – und das ist schon ein sehr großer Erfolg.
Bei der Diskussion über Europas Wettbewerbsfähigkeit, zu der ich gemeinsam mit dem Renner-Institut in Wien eingeladen hatte, ging es um drei Themen. Das erste widmete sich der Frage, wie man die wirtschaftliche Entwicklung, die Entwicklung eines gesunden Sozialsystems und die Verbesserung der ökologischen Situation auf einen gemeinsamen Nenner bringen kann.

Gleichgewicht zwischen Wirtschaft, Sozialem und Ökologie

Genau diese drei Bereiche zeichnen Europa aus: Es versucht, in mehr oder weniger großem Unterschied zu den anderen Regionen dieser Welt das Gleichgewicht zwischen Wirtschaft, Sozialem und Ökologie zu bewahren und immer wieder zu erneuern.
Grundsätzlich diskutierten wir aber auch im Renner-Institut kontroversiell darüber, ob wir ohnehin auf einem guten Weg sind oder ob Unzufriedenheit vorherrscht, weil wir die Arbeitslosigkeit nicht so erfolgreich bekämpfen können, wie wir es wollen. So meinte mein Kollege aus dem Europäischen Parlament, der ehemalige luxemburgische Wirtschaftsminister Robert Goebbels, dass die Vergleiche mit den USA in vielen Fällen hinken. Wir sollten keinesfalls zu bescheiden sein und könnten auf große Erfolge verweisen.

Arbeitslosigkeit und Wachstumsrückstände

Der Leiter des Wirtschaftsforschungsinstitutes Karl Aiginger hingegen kritisierte, dass Europa in den vergangenen Jahren ins Hintertreffen geraten sei. Besonders deutlich würden dies die hohe Arbeitslosigkeit und die deutlichen Wachstumsrückstände zeigen.
Wobei auch der WIFO-Chef betonte, dass diese Entwicklung nichts mit einer grundsätzlichen Ablehnung bzw. Skepsis gegenüber Europa zu tun habe, da gerade das Bestreben nach einem Gleichgewicht zwischen Wirtschaft, Sozialem und Ökologie Europa auszeichne. Die Unzufriedenheit mit Europa könne aber aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit weiter genährt werden. Die Misserfolge, Wachstum und Beschäftigung anzukurbeln, seien in diesem Sinn nicht nur materieller Natur, sondern auch ein psychologische Problem.

Qualifizierte Zuwanderung

Das zweite Thema, das wir im Renner-Institut diskutierten, spürte der Frage nach, wie offen Europa sein kann. Hier spielt auch die Migration hinein. Der aus Brügge eingeladene Forscher Jakob von Weizsäcker meinte, dass sehr viel dafür spreche, bei qualifizierten Arbeitskräften sehr offen zu sein. Die Zuwanderung von qualifizierten Arbeitsplätzen schaffe zugleich neue Arbeitsplätze für weniger Qualifizierte und führe kaum zu einer Reduzierung der Einkommen der bereits im Land befindlichen qualifizierten ArbeitnehmerInnen.
Weiszäcker zeigte sich daher verwundert, dass Österreich und auch andere Länder gegenüber der qualifizierten Zuwanderung aus unseren Nachbarländern nicht wesentlich offener sind. Der Einwand, dies führe zu einem brain-drain in den Nachbarländern, galt aus seiner Sicht nicht, da in diesen Nachbarländern derzeit ohnehin keine Chancen bestünden, diese Menschen zu integrieren bzw. ihnen einen adäquaten Job zu geben. Mittel- und langfristig könnten die Menschen zudem wieder in ihre eigenen Länder zurückkehren, wenn sich dort entsprechende Chancen ergeben.

Vorsicht bei weniger qualifizierter Zuwanderung

Ich konnte diese These nur mit dem Extrembeispiel Armenien, aus dem ich ja soeben erst zurückgekehrt war, bestätigen. Dort gibt es viel zu viele qualifizierte Menschen, die die in absehbarer Zeit zur Verfügung stehenden Jobs ausüben können.
Für ArbeitnehmerInnen mit einer geringeren Qualifikation ergibt sich hingegen eine konträre Situation. Die Zuwanderung von weniger qualifizierten Arbeitskräften setzt jene Menschen im Land, die ebenfalls weniger qualifiziert sind und geringere Einkommen haben, stärker unter Druck. Hier gilt es vorsichtig mit der Situation umzugehen.

Regelungen

Mein Kollege Robert Goebbels vertrat eine andere Meinung. Aus seiner Sicht gibt es keine Beweise dafür, dass offene Arbeitsmärkte zu einer erhöhten Arbeitslosigkeit oder zu einer Verschlechterung der bestehenden Lage führen. Ich habe mit ihm über diese Frage auch schon oft im Europäischen Parlament diskutiert.
Ich trete zwar für eine stufenweise Integration der Arbeitsmärkte ein. Aber gerade die Zuwanderung von wenig qualifizierten und niedrig bezahlten Arbeitskräften stellt kein zu vernachlässigendes Problem für das Lohn- und Gehaltsniveau der ArbeitnehmerInnen im eigenen Land dar. Ingesamt stimmt es zweifellos, dass nicht die Abschottung eines Landes gegen seine Umgebung bzw. seine Region Sinn macht, sondern vielmehr die Offenheit. Aber es macht auch Sinn, diese Offenheit hinsichtlich der Arbeitsmigration von niedrig qualifizierten ArbeitnehmerInnen entsprechend zu regeln.

Begrenzter Mehrwert

Im dritten Themenkomplex erörterten wir die Frage, was Europa kann. Meine Kollege Robert Goebbels wies mit Recht darauf hin, dass Europa aufgrund der geringen Ressourcen, die ihm zur Verfügung stehen, eigentlich gar nicht viel können kann. Das Budget der Europäischen Union beträgt knapp über einen Prozent des Sozialproduktes.
Aber aus meiner Sicht führen nicht nur diese geringen finanziellen Ressourcen, sondern auch andere Kompetenzbeschränkungen, die Europa auferlegt werden, dazu, dass Europa jeweils nur einen begrenzten Mehrwert schaffen kann. Es kann zwar zusätzliche Kompetenzen, Fähigkeiten und verbindende Elemente in die Wirtschafts- und Sozialentwicklung einbringen. Aber es hat nicht die Kraft – und bekommt sie von den einzelnen Mitgliedsländern auch nicht – um eine eigenständige Wirtschafts- und Sozialpolitik zu betreiben. Die Ökologie bildet vielleicht eine Ausnahme. Hier werden durchaus europaweite Akzente gesetzt, und die Kompetenz ist indirekt sogar stärker als in anderen Bereichen, insbesondere etwa beim Ausbau des Binnenmarktes.

Informeller Wettbewerbsgipfel

Um den Binnenmarkt ging es auch bei der heutigen Diskussion mit den europäischen Wirtschaftsministern, die vor allem auch für die Dienstleistungsrichtlinie der EU zuständig sind. Minister Bartenstein, der Gastgeber des informellen Wettbewerbsgipfels in Graz, hatte es immerhin für richtig gehalten, jene ParlamentarierInnen einzuladen, die im Parlament den Kompromiss zur Dienstleistungsrichtlinie erzielt haben.
Der Begriff Kompromiss stimmt
nicht ganz. Wir haben ein neues, klares, zukunftsorientiertes Dienstleistungsrecht geschaffen, das den gemeinsamen Dienstleistungsmarkt stärkt und zugleich die soziale Komponente berücksichtigt und keine Unterminierung der Konsumenten-, Sozial- und sonstigen Standpunkte zulässt.

Verdientes Lob

Schon am Vorabend hatte ein Empfang mit anschließendem Abendessen auf Einladung des steirischen Landeshauptmannes Franz Voves stattgefunden. Minister Bartenstein hatte meine Kollegin Evelyn Gebhart, die Berichterstatterin zur Dienstleistungsrichtlinie des Europäischen Parlaments, und mich begrüßt und zweimal betont, wie wichtig die parlamentarische Arbeit in diesem Zusammenhang sei.
Es tat gut, dies als Parlamentarier zu hören. Offensichtlich ist Bartenstein daran interessiert, dass der parlamentarische Kompromiss weitgehend akzeptiert wird. Es würde ihm – auch im Inland – wesentlich weniger Probleme schaffen, als wenn es zu größeren Abweichungen kommt. Was immer die Motivation zur Betonung der Bedeutung des Parlaments für die Minister sein mag – der Effekt ist jedenfalls positiv.

Bundeswirtschaftsminister Glos

Beim Abendessen kam ich neben dem deutschen Wirtschaftsminister Michael Glos zu sitzen. Es war für mich interessant, mich mit dem aus der CSU stammenden Politiker zu unterhalten. Wir führten ein angenehmes und offenes Gespräch, das zeigte, dass zwar auch er noch nicht bereit und auch nicht befähigt ist, zum Abschluss zu kommen, aber ebenfalls großes Interesse an der Durchsetzung des Kompromisses hat.
Wir sprachen natürlich auch über die Rolle der CSU und die Koalitionssituation, aber auch über Energiefragen, etwa sein letztes Treffen mit Präsident Putin. Ich wünsche der großen Koalition in Deutschland Erfolg, schon allein deshalb, weil es nach Finnland die nächste EU-Präsidentschaft innehaben wird und für die Entwicklung der Europäischen Union, etwa der Verfassung, eine zentrale Rolle spielen wird.

Positive Stimmung

Heute Vormittag fand schließlich das Treffen mit den Ministern statt. Ursprünglich war vorgesehen, dass wir nur zweieinhalb Stunden an dem Treffen teilnehmen. Aber nicht zuletzt auf Intervention des holländischen Ministers und ehemaligen Parlamentsabgeordneten Lauerns Jan Brinkhorst wurde beschlossen, dass wir an der gesamten Diskussion teilnehmen sollen, um nicht nur unsere eigenen Standpunkte vorzutragen, sondern auch die Argumente der anderen Minister zu hören.
Insgesamt war die Stimmung durchaus positiv. Die Mehrheit der Mitgliedsländer, allerdings vorrangig die alten Mitgliedsländer, haben die vom Parlament vorgeschlagene Lösung unterstrichen – auch wenn sie betonten, dass sie einen eigenen Standpunkt einzubringen haben und nicht lediglich Ja oder Nein sagen wollen. Im Normalfall muss das Parlament gegenüber dem Rat auf Eigenständigkeit und eine eigene Position beharren. Und diesmal war es fast umgekehrt. Auch Kommissar McCreevy hatte sich derart deutlich hinter den Parlamentskompromiss gestellt, dass sich die Minister fast ins Eck gedrängt fühlten. Auch die Regierungschefs haben schließlich die Empfehlung abgegeben, sich am Parlamentsbeschluss zu orientieren.

Zurückhaltung bei den Neuen

Die neuen Mitgliedsländer zeigten sich zurückhaltender. Vor allem Polen meinte, es müsse noch einiges geändert werden, um zu verhindern, dass es zu einem Missbrauch jener Bestimmungen kommt, die besagen, dass die einzelnen Mitgliedsländer im Interesse des Konsumentenschutzes, der Umwelt und des allgemeinen öffentlichen Interesses Regelungen festsetzen können, die von allen gleichermaßen zu respektieren sind.
Ich habe in meiner kurzen Wortmeldung darauf hingewiesen, dass der so genannte Artikel 16 der Dienstleistungsrichtlinie klar festlegt, dass die Regelungen, die von einzelnen Ländern getroffen werden, nicht diskriminatorisch sein dürfen. Darüber hinaus wird auch Proportionalität verlangt. Es muss also sichergestellt werden, dass es nicht zu einem Übermaß an Bedingungen kommt, die Dienstleistungsunternehmungen aus anderen Ländern de facto behindern.

Artikel 16

Der Artikel 16 stellt den Kernpunkt unserer neuen Position dar. Er muss als Einheit gesehen werden, einzelne Punkte können nicht wahllos herausgegriffen werden. Außerdem muss die Kommission nach fünf Jahren einen Bericht darüber erstellen, inwieweit es zum Abbau von diskriminatorischen und nicht proportionalen Behinderungen gekommen ist. Vor diesem Hintergrund muss man keine allzu große Angst haben, dass neue Diskriminierungen entstehen.
Ich verstehe aber auch, dass sich die neuen Mitgliedsländer bis zu einem gewissen Grad diskriminiert fühlen. Sie spüren die Offenheit des Marktzuganges nicht. Angesichts des Lohnniveaus und anderer Faktoren muss man allerdings auch die Angst bei den alten Mitgliedsländern verstehen, dass sie aus den eigenen Märkten verdrängt werden. Und zwar nicht durch einen Qualitätswettbewerb, sondern durch ein Unterbieten in quantitativer oder preislicher Hinsicht. Es wurde jedenfalls anerkannt, dass das Arbeits-, Sozial- und Kollektivvertragsrecht durch die Dienstleistungsrichtlinie nicht berührt wird – und das ist schon ein sehr großer Erfolg.

Erfolg der ParlamentarierInnen

Insgesamt ist festzuhalten, dass die Teilnahme der ParlamentarierInnen an dieser Debatte ein Erfolg war – hinsichtlich der Tatsache, dass wir eingeladen waren, hinsichtlich der breiten Betonung der parlamentarischen Arbeit in diesem Zusammenhang und hinsichtlich unserer Klarstellung, dass es uns nicht um Protektionismus geht, sondern um die Wahrung von Rechten und um die Entwicklung eines modernen Dienstleistungsrechts, das mit dem sozialen Europa übereinstimmen soll.
Minister Brinkhorst hat Recht, wenn er kritisiert, dass das Schlagwort vom sozialen Europa oft missbraucht wird, um protektionistisch zu wirken. Aber eine potentiell protektionistische Wirkung des Schlagwortes Sozialmodell Europa darf nicht bedeuten, dass man das Sozialmodell Europa als solches über Bord wirft. Brinkhorst hat als Liberaler naturgemäß eine andere Vorstellung vom Sozialmodell Europa. Aber nicht nur wir SozialdemokratInnen, sondern auch einige aufrechte und wohlmeinende Konservative mit christlichsozialem Touch wollen das soziale Modell erhalten – wenn auch mit leichten Differenzierungen.

Klare Zustimmung

Ich war sehr davon angetan, dass ein britischer Konservativer, der Mitglied im Verhandlungsteam war, den von uns ausgehandelten Kompromiss verteidigt hat. Das ist ein positives Beispiel der parlamentarischen Arbeit auf europäischer Ebene: Es wird nicht versucht, zu tricksen.
Einzig ein Mitglied der EVP-Delegation, der sich weder in der Delegation noch in der Fraktion durchsetzen konnte und gegen den Kompromiss gestimmt hat, wies auf diese Gegenstimme hin. Trotzdem: Die überwiegende Mehrheit des Europäischen Parlaments hat der vorliegenden Lösung ihre klare Unterstützung gegeben.

Graz, 22.4.2006