Zwei Seiten der Medaille

Zwei widersprüchliche, aber zugleich faszinierende Reden des noch amtierenden Ratspräsidenten und Regierungschef aus Luxemburg, Jean Claude Juncker, sowie von Premierminister Tony Blair, dem Ratspräsidenten für die zweite Hälfte dieses Jahres, haben das Plenum des Europäischen Parlaments begeistert..
In den letzten Tagen wurde in den Medien intensiv über das Europäische Parlament berichtet – in diesem Ausmaß war das bisher noch nie der Fall.
Anlass waren zwei widersprüchliche, aber zugleich faszinierende Reden des noch amtierenden Ratspräsidenten und Regierungschef aus Luxemburg, Jean Claude Juncker, sowie von Premierminister Tony Blair, dem Ratspräsidenten für die zweite Hälfte dieses Jahres.
Die Ausgangssituation war nicht gerade einfach. Nach dem Scheitern der Budgetgespräche des Rates beim Gipfel in Luxemburg war zu den beiden Neins von Holland und Frankreich zur europäischen Verfassung eine weitere Krise in der Europäischen Union hinzugekommen.

Budgetumstellungen

Das Parlament hat sein Budgetkonzept bereits Anfang Juni beschlossen. Es beinhaltete einerseits neue Ansätze zu einer weiteren Reform der Agrarpolitik bzw. Überlegungen, dass die einzelnen Länder bei agrarpolitischen Ausgaben mittragen müssten. Und es gab die Forderung, den Britenrabatt zu reduzieren und mehr Geld in Forschung und Infrastrukturinvestitionen zu investieren.
Zwar stand von vornherein fest, dass die Forderungen des Parlaments nach zusätzlichen Mitteln zur Finanzierung dieser drei Punkte vom Rat nicht akzeptiert werden würde. Dennoch erwarteten wir uns einen Gegenvorschlag, über den das Parlament in der Folge mit dem Rat verhandeln konnte.
Diesen Vorschlag gab es nicht. Er scheiterte am Veto Großbritanniens und einiger anderer Länder. Oder, auf den Punkt gebracht: An der Weigerung Frankreichs, in der Agrarpolitik stärkere Kompromisse einzugehen.

Enttäuschter Juncker

Premierminister Juncker gab seinen Bericht am Mittwoch in der Plenarsitzung des Europäischen Parlaments in Brüssel ab. Er verhehlte seine Enttäuschung nicht. Und er kritisierte – ungewohnt scharf – Premierminister Blair bzw. die britische Regierung, dass sie sich geweigert hat, den von Luxemburg vorgeschlagenen Kompromiss zu akzeptieren.
Juncker ist ein begeisterter Europäer. Er vertritt das Europa der Gründungsjahre, auch wenn er sehr viel jünger ist als jenes Europa, das auf Zusammenarbeit und stufenweise Veränderung aufgebaut ist und wirtschaftliche wie soziale Belange im Gleichgewicht halten möchte. Ein Konsens, der Europa über viele Jahre und Jahrzehnte ausgezeichnet hat.

Standing ovations

Juncker wollte diesen Weg durch den Beschluss über die Verfassung und einen Budgetrahmen für die Jahre 2007 bis 2013 weiterführen. In diesem Sinn wird Luxemburg Anfang Juli auch das Referendum über die Verfassung abhalten, um ein Signal zu diesem Europa der Gemeinsamkeit und der Stärke zu geben.
Die Abgeordneten unterstützten Jean Claude Juncker mit großer Sympathie, und es gab standing ovations vor und nach seiner Rede. Viele unserer Herzen flogen ihm zu, weil wir einen Mann sahen, der um das gemeinsame Europa gerungen hat und dem man die Enttäuschung ansah, dass einige Länder hartnäckig geblieben sind und nicht bereit waren, auf den Konsens einzugehen.

Verführungskünstler Blair

Gespannt warteten wir auf die Reaktion von Tony Blair, der am nächsten Vormittag im Parlament erschien und seine Rede hielt. Blair ist ein Verführungskünstler. Er versteht es, seine ZuhörerInnen zu faszinieren, sie in seine Konzeptionen einzubinden, sie zu überzeugen. Und in der Tat: Seine Rede war ausgezeichnet.
Man kann es als Opportunismus bezeichnen, wenn man heute Juncker großen Applaus schenkt und morgen Tony Blair zujubelt. Aber vielleicht repräsentieren gerade sie die beiden Hälften dieses Europas. Das gemeinsame Europa der Vergangenheit, das man trotz aller Kritik und Zweifel in die Zukunft bringen soll. Und das neue Europa der Zukunft, das sich darauf vorbereitet, in der Globalisierung wettbewerbsfähig zu sein und sich reformieren, anpassen und in der Agrarpolitik nachgeben muss, um stärkere Impulse bei Forschung und Entwicklung setzen zu können. Das Budget ist dabei mehr das Symbol, der Anlassfall. Im eigentlichen Mittelpunkt steht die Frage der Modernisierung Europas, um die derzeit bestehenden Schwächen der hohen Arbeitslosigkeit und der zum Teil mangelnden Wettbewerbsfähigkeit zu überwinden.

Gunst der Stunde

Blair bekannte sich in seiner Rede jedenfalls eindeutig dazu, dass Europa ein politisches Projekt ist. Dass es nicht um eine Freihandelszone, nicht nur um den Markt geht. Und das glaube ich ihm auch. Ich bin oft gefragt worden: „Kann man Tony Blair vertrauen?“ Vielleicht nicht zu 100 %. Er versteht es nicht, alles wirklich im Detail umsetzen. Vielleicht hat er auch manches in seiner Rede stärker pointiert, um uns zu gefallen.
Vom Grundsatz her glaube ich aber, dass Blair die Gunst der Stunde nutzen möchte – und zwar in zweifachem Sinn. Einerseits will er die Schwäche, die die Großen – besonders Deutschland und Frankreich – zeigen, nutzen, um die europäische Führungsrolle für sein Land zu beanspruchen. Und andererseits will er dadurch Großbritannien an die Europäische Union heranführen. Er hat nicht viel zu verlieren, denn er wird nicht mehr kandidieren.

Nägel mit Köpfen

Blair weiß, dass seine Anhänger bzw. Konkurrenten in der eigenen Partei zum Teil skeptischer und zurückhaltender denken. Er persönlich hat sich aber das Ziel gesetzt, Großbritannien und Europa einander anzunähern, und dabei hat er auch viel vorzuweisen. In seinem Land gibt es mehr oder weniger Vollbeschäftigung. Und es wurde eine Reihe von Maßnahmen zur Bekämpfungen der Armut gesetzt und in den vergangenen Jahren das Budget massiv in Richtung öffentlicher Dienstleistungen umgestaltet.
Von linker Seite besteht oft das Vorurteil, Blair sei in manchen Dingen ein Liberaler bzw. Neoliberaler. Auch mir gefällt nicht alles, was er macht. Vielleicht ist er beispielsweise in der Frage der Verbrechensbekämpfung manchmal zu weit gegangen bzw. geht jetzt bei der Einschränkung persönlicher Freiheiten zu weit. Aber man kann Blair nicht vorwerfen, dass er keine Linie hat und in den letzten Jahren keine klare Positionierung Großbritanniens vorgenommen wurde. Sein Land verfügt über eine sehr erfolgreiche Sozialdemokratie. Zugleich spricht es aber nicht nur über ein soziales Europa, sondern setzt auch entsprechende konkrete Maßnahmen.

Zwei Seiten von Europa

Blairs Rede wurde insgesamt unterschiedlich aufgenommen und interpretiert, auch wenn er am Schluss starken Applaus erhielt. Ich persönlich sehe seine Weigerung, einem Kompromiss zuzustimmen, gar nicht so sehr als budgetpolitische Großtat – etwas anderes wird bei einem Kompromiss ohnehin kaum herauskommen können. Vielmehr ist es für mich die Aufforderung an uns alle, über den Sinn und Zweck sowie die Zielrichtung und Modernisierung Europas im Sinne einer neuen, flexiblen Kombination von Wirtschaft und Sozialem nachzudenken und auch in diesem Sinne zu handeln.
Darum war es aus meiner Sicht nicht Opportunismus, und es waren auch nicht allein die Verführungskünste von Blair oder Juncker, die uns dazu gebracht haben, sowohl dem Einen als auch dem Anderen zuzustimmen. Es wurden vielmehr, wie schon erwähnt, zwei Seiten der Medaille, zwei Seiten von Europa geliefert: Die emotional tief verwurzelte Begeisterung für ein gemeinsames Europa zum einen und die eher rationale, kühle Überlegung, was dieses Europa tun muss, um gerade in der Zukunft eine größere Rolle international als gemeinsames Europa spielen zu können.

Komplementarität

Vielleicht hören die dummen Debatten darüber, welches Europa ´das bessere ist, bald auf. Vielleicht erkennen die Menschen, dass von beiden Seiten gute Argumente gebracht werden und dass man jenseits der persönlichen Animositäten und parteipolitischen Auseinandersetzungen dazu übergehen muss, jene Komplementarität zwischen den verschiedenen Ansätzen herzustellen, die Europa Stärke und Kraft geben könnten.

Brüssel, 23.6.2004