Zwischen Euphrat und Tigris

l1000634Zwischen Euphrat und Tigris

Meine diesjährige Osterreise führte mich diesmal ins Zweistromland der Türkei. Die beiden Flüsse Euphrat und Tigris, die knapp vor der Mündung ins Meer im Irak zusammenfließen, waren ständige Begleiter unserer Reise in den Süd-Osten der Türkei. Es ist eine sehr geschichtsträchtige Region, mit einer sehr gemischten Bevölkerung: Türken, Kurden und Araber. Auch mehrere Religionen und deren Kultstätten sind nach wie vor anzutreffen. Von den Zeugen der lange zurückliegenden Geschichte und der Völker, die sie geprägt haben, ganz zu schweigen. Die Türkei – und das zeigt diese Region sehr deutlich – ist nicht so einheitlich, wie man oft annimmt bzw. wie es die Nationalisten unterstellen.

Erzwungenes „Türkentum“

Einer der bekanntesten türkischen Schriftsteller, Orhan Pamuk, lässt eine seiner Romanfiguren, Mahir Altayliden, den türkischen Nationalismus deutlich aussprechen, wenn er zu Muhittin meint: „Das meiste andere dürfen Sie meinetwegen vernachlässigen, aber nicht das eine: dass Sie ein Türke sind. (…) Denken Sie doch mal nach, was das heißt: ein Türke sein! Als Türke für das Ideal aller Türken kämpfen und dabei in der Gemeinschaft aufgehen! Sich zusammen mit den Rassengenossen um das Glück aller willen selbst vergessen.“ Diese Grundeinstellung wird heute noch allen TürkInnen eingeimpft, wenn sie in der Schule den Satz Atatürks „Wie glücklich wer sagen kann, ich bin Türke“ aufsagen müssen.
Der Philologe, Übersetzer und Autor Azra Erhat meinte allerdings, man sollte besser sagen: „Wie glücklich wer sagen kann: Ich stamme aus Anatolien.“ Und auch er beruft sich auf Atatürk, der gemeint hat: „Alle nach Anatolien gekommenen und durch Anatolien gezogenen Kulturen gehören zu uns.“ Und in der Tat, der Hinweis auf die verschiedenen Kulturen, die Anatolien im Laufe der Zeit geprägt haben, kann die Türken verschiedener Herkunft, Religion und Sprache stärker integrieren als das erzwungene Bekenntnis zum „Türkentum“. Schon bei meinem Besuch im ausgezeichneten Museum der anatomischen Kulturen in Ankara fiel mir auf, wie vielfältig der kulturelle Ursprung der heutigen Türkei ist und wie widersinnig die kulturelle Verengung der und durch die Nationalisten.

Durchs wilde Kurdistan

Natürlich gibt es Menschen, die mehr als nur die Anerkennung der kulturellen, sprachlichen und religiösen Vielfalt wollen. So zum Beispiel der junge Mann, der mich auf der Straße in Diyarbakir anredete und sagte: „Willkommen in Kurdistan“. Ob er eine autonome Region in der Türkei will oder einen separaten Staat, weiß ich nicht. Aber jedenfalls gibt es genügend Kräfte, die die politisch denkenden und aktiven Kurden in extreme Positionen drängen. So zum Beispiel die oberste Wahlbehörde, die während unseres Aufenthalts einige prominente KurdInnen von der Kandidatenliste gestrichen hat. Diese waren wegen kurdischen Separatismus bzw. wegen Kontakte zur terroristischen PKK zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Darunter auch Leyla Zana, eine der bekanntesten Politikerinnen der Kurden.
Ich kenne Leyla Zana schon lange. Gemeinsam mit anderen KollegInnen aus dem EU-Parlament habe ich für ihre Freilassung gekämpft. Sie hat auch vor vielen Jahren den Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments bekommen. Ich habe nach ihrer Freilassung versucht sie zu überreden, sich klar von der PKK und ihrem autoritären Führer Öcalan zu distanzieren. Immer wieder habe ich auch anderen kurdischen PolitikerInnen gegenüber argumentiert, dass sie nur bei einer klaren Distanzierung von der PKK in der Türkei etwas erreichen können. Sie sollten nicht nur bei den Wahlen zum türkischen Parlament kandidieren, sondern sich auch zum parlamentarischen Prozess bekennen. Aber selbstverständlich ist es unsinnig und kontraproduktiv, gerade den bekanntesten PolitikerInnen der Kurden die Kandidatur zu untersagen.

Unruhen

Jedenfalls hat dieser Beschluss der obersten Wahlbehörde unmittelbar zu schweren Unruhen mi einigen Toten durch die Polizeimaßnahmen geführt. Als wir Richtung Diyarbakir fuhren, sahen wir auf den Straßen von Bismil noch die Folgen der Demonstrationen. Viele und durchaus große Steine lagen auf der Straße und auch einige Brände wurden gelegt. Aber durch Intervention von Staatspräsident Abdullah Gül wurde der Beschluss rückgängig gemacht und der Friede kehrte wieder ein. Es zeigte sich trotzdem, wie fragil die Lage und wie heikel die Kurdenproblematik noch immer ist. Und das, obwohl die Regierung Erdogan einiges an Verbesserungen unternommen hat, so auch Radio- und Fernsehsendungen in kurdischer Sprache. Das hat nicht zuletzt dazu beigetragen, dass die KurdInnen mehrheitlich die Partei des gegenwärtigen Premierministers Erdogan, also die AKP, gewählt haben. Und nicht nur unser kurdischer Führer in Sanliurfa meinte, das wird so bleiben. Denn auch wenn die unglückliche Entscheidung der obersten Wahlbehörde die kurdische Partei BDP gestärkt hat, nimmt man generell an, dass die AKP auch bei den KurdInnen die Nase vorn haben wird.
Was nun die „sozialdemokratische“ Opposition CHP betrifft, so hat diese diesmal vernünftig und nicht nationalistisch reagiert. Sie, die sich als Erbin und Vollstreckerin des kemalistischen Programmes versteht, hat sich immer zum nationalen Einheitsstaat bekannt und die Regierung beschuldigt, durch ihre „kurdenfreundliche“ Politik den Separatismus zu fördern. Diesmal blieb dies der Vorwurf der extrem nationalistischen MHP an die Regierung. Aber von dieser Partei ist nichts anderes zu erwarten. Auch ist generelle das Programm, das der Vorsitzende der CHP, Kilicdaroglu, vorstellte, wesentlich vernünftiger und reformorientierter als in den vergangenen Jahren unter Deniz Baykal. Ich hoffe, dass die WählerInnen diese Veränderung honorieren.

Im Zweistromland

Wie schon Anfangs erwähnt, ist das von uns besuchte Gebiet durch zwei Flüsse gekennzeichnet, die für die Geschichte und die heutige Entwicklung dieser Region, aber auch für die benachbarten arabischen Länder Syrien und Irak, gleichermaßen prägend waren bzw. sind. Jedenfalls hat die Region zwischen Euphrat und Tigris viele Völker angezogen und sie war immer wieder Schauplatz von kriegerischen Auseinandersetzungen. Sie beherbergte aber auch viele Kultstätten und Ansiedlungen mit wertvollen künstlerischen Ausgestaltungen. Manches davon findet man noch an Ort und Stelle. Anderes konnte vor „Überschwemmungen“ durch Stauseen gerettet und in Museen untergebracht werden. Und manches ist bedroht, so zum Beispiel durch die sehr umstrittene Kraftwerksplanung am Tigris bei Hasankayef. Aber vieles ist durch die Stauseen, zum Beispiel hinter dem gewaltigen Atatürk-Damm, archäologischer Forschung entzogen.
Angesichts der Rückständigkeit der Region und der ungeheuren Armut ist der Bau von Kraftwerken und Staustufen durchaus verständlich. Aber man hätte mit mehr Achtsamkeit und Sensibilität vorgehen können, auch wenn dies zu höheren Stromkosten geführt hätte. Aber vor allem in Zukunft sollte man viel umsichtiger vorgehen. So stellt sich die Frage, ob man nicht durch den Ausbau der Energiegewinnung aus Sonne und Wind die problematische Staustufe am Tigris einsparen könnte und die Kulturlandschaft bei Hasankayef retten könnte.

Neubewertung der armenischen Vergangenheit

Zu dieser gehören neben den Moscheen und Medresen sicher auch die Kirchen und Klöster, die die religiöse Vielfalt der Vergangenheit zum Ausdruck bringen. Manches davon wurde schon renoviert und manches wird gerade hergerichtet. So das aramäische Kloster Mar Gabriel nahe Midyat, das eine aktive erzieherische Rolle spielt und wo wir auch eine Frau aus unserer unmittelbaren Wohngegend in Wien trafen, die dort mit ihren Mann jedes zweite Jahr einige Wochen verbringt, um sich wieder für das aramäische religiöse Leben in Wien zum „rüsten“.
Jetzt bleibt nur mehr die Aufgabe die armenische Vergangenheit einer Neubewertung zu unterziehen. Am Ausgangs- und Endpunkt unserer Reise, in Gaziantep, hatten wir die Gelegenheit, die offizielle türkische Darstellung bildnerisch bzw. bildhauerisch dargestellt zu sehen. In der alten Festung auf einem Hügel am Rande der Stadt wird die Verteidigung der Stadt gegen die französischen und englischen Kolonialmächte eindrucksvoll dargestellt. Dabei wird klargestellt, dass die in der Stadt lebenden Armenier von den Kolonialmächten missbraucht wurden bzw. die Besetzung durch diese ausnützen. In beiden Fällen ging es darum, das osmanische Reich zu zerstückeln bzw. östliche Gebiete Anatoliens von der zukünftigen Türkei zu trennen. Dass bestimmte armenische Gruppen bei diesem Manöver mitgespielt haben, ist historisch erwiesen. Aber das rechtfertigt sicher nicht die Maßnahmen, die gegen die Armenier ergriffen wurden.

Die Farbe Lila

Ich kann mich durchaus der Meinung anschließen, dass die Großmächte ein gerütteltes Maß an Schuld an dieser Entwicklung hatten. Aber auch das ersetzt eine gemeinsame Erarbeitung der geschichtlichen Ereignisse nicht. Extremisten auf beiden Seiten haben daran allerdings kein großes Interesse. Am Tag unserer Rückkehr nach Wien feierten die Armenier den „Tag des Genozids an den Armeniern“. In einer Annonce, gesponsert von Vertretern der Diaspora, wurde auch ein Zitat des türkischen-armenischen Journalisten Hrant Dink gebracht, der 2007 ermordet wurde. Dink hat sich deutlich für einen Neubeginn im Verhältnis zwischen der Türkei und Armenien ausgesprochen. Es ist höchste Zeit dafür. Ich würde mir wünschen, dass sowohl die regierende AKP als auch die oppositionelle CHP den Mut dazu aufbringen.
Unsere Reise nach Ostanatolien, das zum Beispiel der Taxifahrer, der uns vom Flughafen nach Hause gebracht hat, noch nie besucht hat, hat uns mit vielen Menschen in Kontakt gebracht, die eine große Herzlichkeit ausgestrahlt haben. Mangels entsprechender Sprachkenntnisse war die direkte Kommunikation eingeschränkt. Aber wie in vielen anderen Regionen dieser Welt stießen moderne Einflüsse auf alte Traditionen. Das Kopftuch der Frauen ist dabei nur ein solches Symbol, das auch Wandlungen unterworfen ist. Neueste Mode ist das violette Kopftuch, dass von Jung und Alt getragen wird. Aber es gibt auch in dieser Region etliche Frauen, die kein Kopftuch tragen. Allerdings sieht man auch einige wenige, die ganz verschleiert sind. Und das hat mich überrascht. Denn das widerspricht auch der Grundhaltung der islamisch orientierten AKP. Aber da gibt es noch Reste einer alten konservativen Tradition. Insgesamt hoffe ich trotzdem, dass es dieser Region gelingt, gute Traditionen und die nützliche und sensible Moderne miteinander zu verbinden. Und dies sollte auch in die arabische und iranische Nachbarschaft ausstrahlen. So wie die türkischen Soap Operas.